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IM GESPRÄCH

IM GESPRÄCH

Betroffene zu Beteiligten machen

Seit 1. Juni 2020 steht Heidi Hanselmann der Schweizer Paraplegiker-Stiftung als Präsidentin vor. Die ehemalige Regierungsrätin blickt zurück auf ihr erstes Jahr bei der SPS und legt ihre Pläne für die Zukunft dar.

Von Nadja Venetz und Evelyn Schmid

Sie sind nun ein Jahr bei der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Woran erinnern Sie sich besonders?

Beeindruckt und berührt haben mich in diesem Jahr besonders die Begegnungen mit Direktbetroffenen und den Mitarbeitenden aller Gruppengesellschaften. Ich suche diesen Austausch ganz bewusst. All diese Gespräche sind wie Puzzleteile, die zusammengefügt ein Gesamtbild ergeben. Tag für Tag kommen mehr Informationen dazu und helfen mir, die Abläufe und Strukturen zu verstehen, aber auch Knackpunkte zu erkennen. Ich spüre hier in Nottwil viel Leidenschaft und habe grosse Achtung davor, was für Menschen mit einer Querschnittlähmung geleistet wird.

Gab es Anlässe oder Momente, die herausstachen?

Die Eröffnung der ParaWG war sicherlich so ein Highlight. Die Gespräche mit diesen jungen Menschen, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, zu Hause vieles zurücklassen und sich mit Ungewissheiten konfrontiert sehen, haben mich beeindruckt. Ängste und Bedenken hatten dabei genauso Platz wie die Freude auf den neuen Lebensabschnitt. Dass die Verantwortlichen im Alltag immer wieder das richtige Mass an Unterstützung und Förderung der Selbstständigkeit finden, ist sehr bemerkenswert. Und da war natürlich noch «euer» Giro Suisse! Ich war bei der Etappeneinfahrt in Chur vor Ort. Auch hier habe ich die erwähnte Leidenschaft gespürt. Trotz strömendem Regen wurden alle Teilnehmenden mit viel Wärme und Herzlichkeit empfangen. Alle, die an diesem Anlass beteiligt waren, haben nicht einfach nur ihren Job gemacht, sondern viel Herzblut an den Tag gelegt. Sowohl in Chur als auch bei der Zieleinfahrt in Nottwil, der ich ebenfalls beiwohnte, packte ich die Gelegenheit, um mit zahlreichen Teilnehmenden und den Organisierenden zu sprechen und zu erfahren, was sie unterwegs erlebt hatten.

Dieser persönliche Kontakt scheint Ihnen sehr wichtig zu sein?

Wenn Patientinnen und Patienten draussen vor dem SPZ sitzen, geselle ich mich gerne dazu, frage, was ihnen unter den Nägeln brennt, was sie gut finden, was sie mir mitgeben möchten oder worauf wir achten sollen. Ich will nicht vom Elfenbeinturm herab agieren. Das war schon als Politikerin nicht meine Art. Als Logopädin komme ich aus einem therapeutischen Beruf und habe selbst 13 Jahre lang in einem Kantonsspital gearbeitet. In meinem Amt als Vorsteherin des Gesundheitsdepartements von St.Gallen war ich am Tag der Kranken jeweils zu Besuch in den Spitälern. Diese Begegnungen motivierten mich sehr in meinem politischen Schaffen. Ich brauche den direkten Kontakt zu den Betroffenen, aber auch zu den Mitarbeitenden. Das Coronavirus hat verhindert, dass ich an Weihnachten die Betroffenen im SPZ besuchen durfte. Immerhin konnte ich einige von ihnen am Karfreitag auf einen Spaziergang begleiten. Zudem habe ich in diesem ersten Jahr alle Gruppengesellschaften besucht, habe Fragen gestellt und Erwartungen abgeholt. Führung ist für mich keine Einbahnstrasse. Wenn wir eine Strategie umsetzen wollen, müssen alle mitziehen. Klar wäre es manchmal einfacher, selber zu entscheiden, aber je mehr Köpfe mitdenken, umso tragfähiger werden die Lösungen. Es ist schön, zu beobachten, dass sich vermehrt Personen aus strategischen Gremien unter die Leute mischen. Für mich war das seit jeher selbstverständlich.

Was für eine SPS haben Sie bei Ihrem Amtsantritt vorgefunden?

Es gibt eine Aussage eines Betroffenen, die mir immer wieder durch den Kopf geht. Er sagte: «Wissen Sie, Frau Hanselmann, Nottwil ist für mich wie eine Oase. Hier bin ich mit meinen Bedürfnissen im Zentrum und kann sagen, was nicht gut ist und was ich brauche. Darauf wird gehört und danach wird gehandelt. Das betrifft den medizinischen, den therapeutischen Bereich wie auch die Beratung für einen Rollstuhl oder meine beruflichen Möglichkeiten. Ich habe hier wieder eine Perspektive erhalten, obwohl mein Leben auf den Kopf gestellt wurde.» Diese Äusserung verdeutlicht, dass die integrierte Versorgung mit der interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit unsere Stärke ist, die es auszubauen gilt. Der Mensch steht im Fokus. Was vielerorts eine Floskel ist, erlebe ich hier tatsächlich, und ich freue mich, diese Philosophie weiterentwickeln zu dürfen.

Wie soll die Zusammenarbeit zwischen den Gruppengesellschaften und insbesondere zwischen der SPS und der SPV künftig ausschauen?

Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern zuerst einmal zuhören, beobachten und analysieren, wo es knarzt. So lässt sich für mich am besten erkennen, wo Knackpunkte zu orten sind. Ich wünsche mir, dass sich die einzelnen Gruppengesellschaften noch enger abstimmen. Ich habe in vielen Gesprächen erfahren, dass die Bereitschaft dazu vorhanden ist. Man erkennt, dass es noch viele Schnittstellen gibt, die sich besser und enger verweben lassen, damit wir noch mehr voneinander profitieren und Doppelspurigkeiten abbauen können. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass wir unsere Vielfalt, die wir hier in Nottwil haben, als Chance nutzen und nicht zur Abgrenzung. Ich ziehe gerne den

Austausch

Heidi Hanselmann im Gespräch mit einer Teilnehmerin am Giro Suisse

Vergleich zu meiner Leidenschaft, dem Bergsteigen. Wir befinden uns alle in derselben Seilschaft. Manchmal kann sich die einzelne Person freier an diesem Seil bewegen, manchmal ist es straffer gespannt, aber unser Ziel ist das gleiche. Wie wir Synergien weiter ausbauen können, ist daher ein wesentlicher Punkt in der neuen Strategie.

Was sind die nächsten Schritte und Ziele?

Wir haben in der Strategie sieben Kernthemen definiert, die es jetzt umzusetzen gilt. Dabei ist es ganz zentral, dass Betroffene zu Beteiligten werden. Direktbetroffene müssen Teil der Gremien sein, die Entscheide vorbereiten und auch fällen. Themen, die uns sicherlich noch beschäftigen, sind die Digitalisierung sowie die steigende Lebenserwartung. Beide Bereiche prägen unsere Vision, dass Querschnittgelähmte ein möglichst selbstbestimmtes Leben bei bestmöglicher Gesundheit führen können. Digitale Transformationen können wesentlich zu mehr Selbstständigkeit beitragen. Zugleich wird die Bevölkerung immer älter. Das trifft ebenfalls auf Menschen mit einer Rückenmarkverletzung zu. Einerseits ist das sehr erfreulich, wirft andererseits aber neue Fragen auf, etwa was die medizinische Betreuung oder die soziale Absicherung betrifft. Nicht nur im Hinblick darauf streben wir eine bessere ambulante wohnortnahe Versorgung an. Betroffene sollen nicht wegen jeder Kleinigkeit nach Nottwil fahren müssen, sondern eine ambulante Betreuung möglichst in ihrer Region vorfinden.

Im Kanton Waadt entstand mit dem Ambulatorium «Plein Soleil» bereits ein solches Projekt, bei dem die Leistungen der Lebensberatung der SPV integriert wurden. Gibt es weitere Pläne?

Aktuell prüfen wir Möglichkeiten in der Ostschweiz. Dazu sind Gespräche im Gang. Aus dem Spital in Flawil soll ein Gesundheits-Notfallzentrum werden. Da gäbe es die Möglichkeit, eine interprofessionelle ambulante Betreuung und Unterstützung aufzubauen. Das wäre eine Chance, gerade auch die Lebens- und Sozialberatung als eine wichtige Dienstleistung nahe zu den Betroffenen zu bringen. Das Ziel ist, dass wir zumindest in allen Sprachregionen ein ambulantes medizinisches Angebot zur Verfügung stellen könnten.

Sie sprechen von dezentraler Versorgung. Die SPV ist mit ihren 27 Rollstuhlclubs in der ganzen Schweiz präsent. Welches Potenzial sehen Sie darin?

Diese dezentrale Struktur, durch welche die SPV stark in den Regionen verankert ist, hat grosses Potenzial. Dadurch ist die SPV nahe bei den Betroffenen und erfährt schnell und direkt, wo es unter den Nägeln brennt. Durch eine enge Zusammenarbeit und einen guten Austausch zwischen SPV und SPS können wir von diesem Wissen profitieren und dieses in unsere Arbeit einfliessen lassen. Dennoch ist es auch wichtig, diejenigen Querschnittgelähmten zu erreichen, die nicht in einem Club organisiert sind. Die SPS ist für alle da.

Ihr Vorgänger Daniel Joggi war als ehemaliger Präsident der SPV sehr nah bei unseren Rollstuhlclubs und deren Mitgliedern. Suchen Sie diese Nähe ebenfalls?

Ja, diese Nähe möchte ich, wenn sie gewünscht ist, gerne pflegen. Der Giro Suisse hat mir diesbezüglich bereits Türen geöffnet, weil ich mit Mitgliedern in Kontakt kam. Die Präsidentin eines Rollstuhlclubs lud mich beispielsweise zu ihrer Versammlung ein. Leider war es mir aus terminlichen Gründen nicht möglich, teilzunehmen, aber ich habe mich über ihr Interesse sehr gefreut und vielleicht klappt es ja das nächste Mal.

Worin sehen Sie die Rolle der SPV innerhalb der Schweizer ParaplegikerGruppe?

Die SPV ist das Bindeglied zu den Betroffenen und gewährleistet die lebenslange Begleitung. Von euch erhalten wir wertvolle Rückmeldungen über die Bedürfnisse und Anliegen der Querschnittgelähmten in unserem Land. Olga Manfredi und ich haben einen guten Draht zueinander. Wir haben eine ähnliche Art, Problemstellungen anzugehen und sind uns einig in der Vision, die wir verfolgen. Dass es sowohl bei der Stiftung als auch bei der SPV zu einem Wechsel im Präsidium kam, sehen wir beide als Chance, alte Geschichten zu beenden. Wir möchten unsere Energie dafür nutzen, mit Schwung in die Zukunft zu gehen. Natürlich gibt es auch intensive Diskussionen, zum Beispiel wenn es um die Verteilung der finanziellen Mittel geht, aber die braucht es auch. Dadurch können tragfähige Lösungen erarbeitet werden. Ich freue mich, in den kommenden Jahren gemeinsam mit der SPV, den Betroffenen und all den anderen Beteiligten interessante und nachhaltige Projekte anzupacken und umzusetzen.

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