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Das Leben als Einsiedler
Diese Steinfigur des Erzengels Michael fand Bruder Otto beschädigt auf einer Straße liegen.
„Sie ist wie ich“, sagt er lachend. „Auch sie lag am
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Boden und wurde wieder
aufgerichtet“
Der Eremit vom Klausnerhof
Rückzug, Einsamkeit und Stille: Was für viele eine willkommene Auszeit vom Alltag ist, hat Bruder Otto zu seinem Lebensstil gemacht. Er lebt als Eremit in der Klause von Sankt Jakobus in der Nähe von Wolfach im Kinzigtal. Doch das war nicht immer so. Wir haben den Mönch getroffen und erfahren, wie er zu dem Menschen wurde, der er heute ist
Eng schmiegen sich die Jakobuskapelle und der Klausnerhof an den Berghang, umrahmt von einem dichten Wald
An der Eingangstür des Klausnerhofs darf jeder klingeln

Bruder Otto ist alleine. Er sitzt vor seiner Klause, den Kopf weit nach hinten geneigt, als wolle er den Himmel in seine Augen fallen lassen. Der Tag war lang. Stille legt sich über das kleine Bergplateau, untermalt vom Plätschern der Quelle, Rauschen des Waldes und hie und da vom Rascheln der Blätter, die der Wind über den Vorplatz treibt. In Momenten wie diesen fühlt sich Bruder Otto Gott ganz nah.
Der 63-jährige Mönch ist Eremit. Vor drei Jahren hat er sich entschieden, den katholischen Glaubensgemeinschaften den Rücken zu kehren und in die Einsamkeit zu gehen – nur mit dem Notwendigsten, frei von jeglicher Annehmlichkeit und Ablenkung. Es ist die älteste Form geweihten Lebens, der heute rund 90 Gläubige in Deutschland folgen. Vorbild sind die Wüstenväter des dritten Jahrhunderts, die in der Abgeschiedenheit Gottes Nähe suchten. Und auch die ersten Mönche in Europa waren Eremiten. „In der Gemeinschaft der Klöster fühlte ich mich zuletzt oft einsam“, erzählt der Geistliche. „Es zog mich fort. Heute weiß ich, dass es Jesus war, der mich rief.“ Seit er alleine ist, sei das Gefühl der Einsamkeit verschwunden.

Er war ein Kind der schrillen 1970er
Mit der Klause Sankt Jakobus in Wolfach hat der Einsiedler seine Bestimmung gefunden. Herzstück des Ensembles ist die Kapelle Sankt Jakobus, um die sich der 63-Jährige kümmert. „Es ist ein Ort der Kraft“, sagt er und verweist auf die Römer, die hier bereits einen Kultplatz errichtet haben sollen. Fast täglich kommen Menschen, um zu beten oder eine Kerze anzuzünden. Der Kinzigtäler Jakobusweg führt direkt über das kleine Plateau, das sich wie eine Empore an den steilen Hang schmiegt. Wenn der Geistliche in der Kutte der Franziskaner an der Brüstung steht und über das Kinzigtal blickt, dann sprechen Freude und Dankbarkeit aus seinem bärtigen Gesicht. Oft sei er in seinem Leben schon „ganz unten“ gewesen, am Boden zerstört. Besonders als junger Erwachsener, als sein Sinn noch nicht nach Beten, Fasten und Entbehrungen stand.
Bruder Otto, der mit weltlichem Namen Jürgen Otto Stahl heißt, war ein Kind der schrillen 70er-Jahre: ein Rebell, der polarisierte, demonstrierte und auf Konven-

Nicht immer finden die Pilger im Weihwasserbecken das, was sie erwarten. Ein Moospolster hat sich hinein verirrt
FOTOS: Silke Keil

Fast immer brennen in der Wallfahrtskapelle Sankt Jakobus die Kerzen

Auf der Holzbank vor der Klause sitzt Bruder Otto oft viele Stunden und lauscht der Natur. Oft kommen Besucher vorbei und erzählen von ihren Sorgen und Nöten

FOTOS: Silke Keil (4), Wikipedia
Ein Kreuzweg führt über drei Kilometer von Wolfach zur Eremitage
St. Jakobus – der Weg dorthin
Die über Wolfach idyllisch am Berghang gelegene Kapelle Sankt Jakobus wird auf das 11. Jahrhundert datiert. Sie soll auf der alten Römerstraße erbaut worden sein, die von Straßburg nach Rottweil führte. Nicht nur der Ausblick lohnt einen Besuch. Die Kapelle selbst ist mit ihrem barocken Interieur ein kleines Schatzkästchen. Sie ist das ganze Jahr über geöffnet, Patrozinium wird am 25. Juli gefeiert. Die Zufahrt ist über den geteerten St. Jakobsweg möglich, der von der Bergstraße abzweigt. Doch Vorsicht: Das Plateau bietet nur wenig Platz für Pkws. Gerade sonntags kann es eng werden. Reizvoll für alle, die mehr Zeit mitbringen, ist der Aufstieg über den „Kinzigtäler Jakobusweg“ (www.jakobusweg.com). Kontakt: Bruder Otto Stahl, St. Jakobsweg 21, 77709 Wolfach, www.bruder-otto.de tionen pfiff. Als Punk in Freiburg besetzte er Häuser, vermöbelte Nazis und machte die Nächte zum Tag. Auch Drogen und Alkohol zehrten an dem gebürtigen Vöhrenbacher. „Ich sah meine Freunde sterben“, erzählt er über eine Zeit, die genauso faszinierend wie beängstigend war. Sein Geld verdiente der gelernte Buchdrucker, Schriftsetzer und Buchbinder in der alternativen Bundschuh-Druckerei. Daneben wurde der 1,87 Meter große, gut aussehende Mann auch als Modell und Schauspieler gefördert – bis sein Leben eine 180-Grad-Wende nahm.
Ein Zen-Mönch nahm den jungen, vom exzessiven Leben gekennzeichneten Mann unter seine Fittiche und lehrte ihn die Meditation. „Einfach nur dasitzen, das war hart“, erinnert sich der Mönch. Doch es ließ ihn nicht mehr los. In einem Zen-Kloster in Kyoto begann schließlich seine große spirituelle Reise. „Die Stille tut gut“, sagt der Eremit, „nicht zu fragen, wenig zu antworten, einfach nur bei sich zu sein.“ Er stand um drei Uhr auf, meditierte, arbeitete und ging als Bettelmönch durch die Straßen. „Unser Motto war: Jeder Tag ist ein guter Tag.“ Das habe auch dann gegolten, wenn der Tag zum 478. Mal mit fadem Hirseauflauf begann.
Als Jürgen Otto Stahl knapp drei Jahre später nach Freiburg zurückkehrte, war seine Wohnung geräumt.
Hoch über dem Tal der Wolfach ruht die Wallfahrtskapelle Sankt Jakobus. Eine kleine Antoniuskapelle ist ihr vorgelagert. Daneben liegen der Klausnerhof und ein Gästehaus, in dem Pilger übernachten können

„Man hatte mich für tot erklärt“, schmunzelt er. Spontan setzte er sich in den Zug und stieg an der Endstation Nürnberg wieder aus. Dort suchte er sich einen Job und eine Wohnung. Doch nach den tiefen spirituellen Erfahrungen fiel ihm das weltliche Leben schwer. Beruflich und auch privat sei er mehrere Male gescheitert – bis zur Insolvenz. Bei der Seelsorge und Sterbebegleitung im „Kloster auf Zeit“ fühlte er sich hingegen am rechten Ort. Gott und den Menschen nah sein zu können, erfüllte ihn. Der katholische Glaube widersprach dabei keineswegs den Zen-Praktiken, er war vielmehr Ergänzung und Bereicherung. Bei den Franziskanern legte Bruder Otto schließlich das Gelübde ab. Seitdem lebt er nach dem Leitbild des Ordens: „Erst die anderen, dann ich.“

„Erst kommen die anderen, dann ich“
Als Pflegehelfer, Seelsorger und Sterbehelfer gewann er in Wolfach schnell die Herzen der Menschen. Er leitete auch die Gruppe der Anonymen Alkoholiker und sprach als einer von ihnen, als einer, der es geschafft hatte, der Sucht zu entfliehen. Heute trinkt er nur noch das Wasser seiner Quelle, das heilend sein soll. Einkaufen fährt er nur selten. „Im Sommer nehme ich das, was der Wald mir schenkt“, lächelt der heilkundige Mönch. Was von seinem Lohn übrig bleibt, lässt er anderen Einsiedlern zukommen, die wie er in der Eremiten-Vereinigung Frauenbründl organisiert sind. Daneben kommen viele Menschen zur Klause, um mit Bruder Otto über ihre Sorgen und Wünsche zu sprechen. „Mein Herz ist weit offen, für jeden“, so der 63-Jährige. Ob der Ratsuchende Christ ist, spielt für ihn keine Rolle. Denn er spricht keine Bibelworte, sondern sagt geradeheraus, was er als Mensch denkt und empfindet.
Bruder Otto lebte glücklich auf Sankt Jakobus, bis ihn im März 2021 erneut ein Schicksalsschlag traf. Er infizierte sich mit Corona, musste ins Krankenhaus. „Es
Bruder Otto schöpft am Brunnen frisches Quellwasser. Es soll Augenleiden heilen können
brodelt noch in mir drin“, schrieb er wenige Wochen danach auf Facebook. Die Atemnot zwang ihn, kürzerzutreten. Doch dabei blieb es nicht: Am 24. Dezember 2021 eröffneten ihm die Ärzte eine weit schlimmere Diagnose: Lungenkrebs mit Hirn- und Lebermetastasen. Die Krankheit erlaubt es ihm nun nicht mehr, zu arbeiten. Doch an guten Tagen besucht er andere Krebskranke und schenkt ihnen Mut. Und auch die Besuche bei ihm auf dem Berg reißen nicht ab. Oft treffen ihn die Menschen auf der Bank vor seiner Klause an, wo er lauscht und betet. Manchmal sagt er auch nur „Danke“. „,Danke‘ ist ein kurzes, aber kraftvolles Gebet“, bedeutet der Mönch. Es gebe so vieles, für das man dankbar sein könne. Vor dem Tod selbst habe er keine Angst. „Aber ich glaube, dass Gott noch etwas mit mir vorhat.“ Jürgen Otto Stahl hebt seine Brauen, lächelt. Sein Plan: einen alten Traktor flottmachen und damit in ganz Deutschland zu den Menschen fahren. Der Eremit zeigt voller Vorfreude zur Garage: „Der Trecker wartet schon.“ SILKE KEIL