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Erwerbsmigration: Der lange Weg zum Arbeitsplatz

„Wer die Ärmel hochkrempeln will, der ist in Deutschland herzlich willkommen.“ So die optimistische Botschaft von Bundeskanzler Olaf Scholz während des Weltwirtschaftsforums in Davos Anfang dieses Jahres. Mit einem runderneuerten Einwanderungsrecht will die Ampelkoalition Fachkräfte aus Drittstaaten einfacher und schneller ins Land holen.

Waleed Al Sheikh kam im Jahr 2012 als 22-Jähriger aus dem Jemen nach Deutschland, um in Oldenburg sein Studium „Engineering Physics“ aufzunehmen. Als Student bekam der Nicht-EU-Bürger noch relativ problemlos einen Aufenthaltstitel. Das änderte sich jedoch, als er nach Abschluss seines Masterstudiums im Jahr 2020 beim Windkraftanlagenbauer Nordex aus Hamburg eine Arbeitsstelle antreten wollte.

Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis

„Wir hatten ihm bereits ein Arbeitsangebot gemacht und angenommen, dass einer zügigen Einstellung nichts im Wege stehen würde“, erinnert sich Constantin Fricke-Kniesberg aus der Abteilung People & Culture von Nordex. „Vor allem, weil Waleed schon zu der Zeit fließend Deutsch sprach und einen sehr guten Abschluss vorweisen konnte.“ Doch weder das Unternehmen noch der Ingenieur ahnten, welche Komplikationen sich im Umgang mit den Behörden ergeben sollten. „Ich brauchte einen Aufenthaltstitel von der Ausländerbehörde, den ich aber nur dann bekommen konnte, wenn die Bundesagentur für Arbeit meinem Arbeitsvertrag zugestimmt hatte“, berichtet Al Sheikh. Dazu musste zunächst der Hochschulservice der Universität Oldenburg die Unterlagen des frisch gebackenen Ingenieurs an die Ausländerbehörde weiterleiten. „Das war aber nicht so einfach, weil noch zwei Monate nach meinem Abschluss die Note meiner Masterarbeit fehlte“, sagt Al Sheikh.

Musste nach seinem Studienabschluss in „Engineering Physics“ an der Universität für seinen Aufenthaltstitel kämpfen: Waleed Al Sheikh aus dem Jemen an seinem Arbeitsplatz beim Windkraftanlagenbauer Nordex in Hamburg.

Foto: Nordex

Lange keine Auskunft

Als schließlich alle Unterlagen vollständig und zur Ausländerbehörde gesendet waren, passierte zunächst nichts. Mehrere Wochen wurden Unternehmen und Ingenieur im Unklaren gelassen, ob sich Ausländerbehörde oder Bundesagentur für Arbeit überhaupt mit dem Fall beschäftigen. Al Sheikh telefonierte häufig, immer mit wechselnden Gesprächspartnern und erhielt nach mehreren Wochen von der Ausländerbehörde schließlich die Auskunft, dass sein Antrag abgelehnt sei. Warum, könne man nicht sagen. Also nahm der Hochschulabsolvent Kontakt mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf. Am Ende stellte sich heraus, dass ein Dokument, nämlich die Entgelttabelle, fehlte, um den Antrag positiv bescheiden zu können. Die Arbeitsagentur überprüft anhand vergleichbarer Gehälter, dem sogenannten Entgeltatlas, die Höhe des verhandelten Gehalts, um sicherzustellen, dass Lohndumping oder Diskriminierung ausgeschlossen werden können. In Al Sheikhs Fall monierte die BA das im Vertrag angebotene Salär. „Wir konnten dann anhand von Betriebsvereinbarungen und den von Nordex einheitlich festgelegten Eingruppierungen für junge Akademiker nachweisen, dass alle Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Bezahlung vorliegen“, sagt Fricke-Kniesberg. Dieses Ergebnis wurde aber erst auf Nachfrage und durch die Einschaltung von NORDMETALL-Experten möglich. „Einen Tag vor Ablauf der Frist lag uns schließlich der positive Bescheid vor“, sagt Fricke-Kniesberg und fügt an: „Sowohl wir als Unternehmen als auch der Bewerber hingen monatelang in der Luft. Wir waren kurz davor, die Stelle anderweitig auszuschreiben.“

Behördenchaos nicht ungewöhnlich

Dieses Behördenchaos ist für Migrationsexperten nichts Ungewöhnliches. „Die Situation in den Behörden ist zum Teil wenig befriedigend“, sagt Anton Bauch, Syndikusrechtsanwalt bei NORDMETALL und dort für den internationalen Personaleinsatz zuständig. „Da ist von der personellen Ausstattung her sicherlich noch Luft nach oben. Das alleine ist aber nicht das Problem. Es hakt auch an Strukturen und dem digitalisierten Schnittstellenmanagement zwischen den vielen am Verwaltungsprozess beteiligten Behörden“, sagt der Experte. Das stelle manchen Zuwanderungswilligen vor große Probleme. „In der Regel muss die Fachkraft aus einem Drittstaat, die in Deutschland arbeiten möchte, zunächst in der Botschaft vor Ort ein Visum beantragen. Der Antrag wird nach Deutschland gesendet, dort muss die Bundesagentur für Arbeit zustimmen und die Ausländerbehörde ebenfalls prüfen. Zur Berufsanerkennung wird eine weitere Behörde beteiligt“, sagt Bauch. In kurzen, für die ausländische Fachkraft und den künftigen Arbeitgeber zumutbaren Zeiträumen funktioniere so etwas nicht. Das in der letzten Gesetzesnovelle geschaffene Instrument des „beschleunigten Fachkräfteverfahrens“ sei zwar lobenswert, könne aber prozessuale Defizite im Verwaltungmanagement nicht „wegzaubern“, so Bauch.

Bottleneck-Visum

Erschwerend komme hinzu, dass Anträge nicht digital, sondern in Papierform von Amt zu Amt gesendet werden. „In diesen Bereich müsste Deutschland dringend investieren“, fordert Thomas Liebig, Leitender Ökonom in der Abteilung für Internationale Migration der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Er hat den Visum-Bereich im Ursprungsland und die Behördenausstattung in Deutschland als „Bottleneck“ im Migrationsverfahren ausgemacht. Dennoch sei Deutschland für viele Fachkräfte aus dem Ausland sehr attraktiv, so Liebig. Das habe eine Umfrage der OECD unter 30.000 High Potentials im Ausland ergeben. Allerdings nehme der Wettbewerb um diese Fachkräfte zu. „Fachkräftemangel gibt es nicht nur in Deutschland, sondern zunehmend auch in vielen anderen Ländern.“ Deutschland müsse sicherstellen, dass die administrativen Zahnräder wieder ineinandergreifen und Prozesse durch Digitalisierung beschleunigt werden. „Deutschland steht mit anderen Ländern im Wettbewerb um Fachkräfte und kann es sich nicht leisten, durch schlechte administrative Rahmenbedingungen im OECD-Ranking der attraktiven Standorte noch weiter zurückzufallen“, sagt Bauch. Grundsätzlich müsse man Arbeitgebern mehr Verantwortung etwa bei der Einschätzung der Sprachkenntnisse oder der beruflichen Eignung einräumen. Gerade Berufe, die in Deutschland nicht reglementiert sind, bedürften keiner aufwendigen administrativen Berufsanerkennung, so Bauch.

Empfiehlt bessere Ausstattung der Visumsstellen: Thomas Liebig, Leitender Ökonom in der Abteilung für Internationale Migration der OECD.

Foto: Viola Lopes

Veränderungen am System nötig

Veränderungen am System sind dringend nötig, denn Deutschland braucht Zuwanderung. An allen Ecken und Enden mangelt es an Fachkräften. Rund sieben Millionen Arbeitskräfte, so prognostiziert es das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), könnten dem deutschen Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 fehlen. Schon heute ist klar: Allein mit Fachkräften aus dem Inland wird Deutschland den wachsenden Bedarf nicht decken können. Bereits im vergangenen Jahr wurden von den rund 642.000 neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen 437.000 mit Menschen aus dem Ausland besetzt. 129.000 kamen von außerhalb der EU, also aus Drittstaaten. Nach jahrelangen Diskussionen und aufgrund des sich zuspitzenden Fachkräftemangels hat die Politik sich nun auf ein Eckpunktepapier zur Fachkräfteeinwanderung verständigt. Es soll das seit 2020 geltende Fachkräfteeinwanderungsgesetz reformieren und auf eine neue Basis stellen. Zentrale Elemente der Reform sind die „Fachkräftesäule“, die „Erfahrungssäule“ und die „Potenzialsäule“. Fachkräfte sollen weiterhin das Rückgrat der Erwerbsmigration nach Deutschland bilden, Abschlüsse aus dem Ausland leichter anerkannt werden können. Aber auch ohne formale Ausbildungsanerkennung sollen Menschen einwandern können, die mindestens eine zweijährige Berufserfahrung mitbringen und einen Berufs- oder Hochschulabschluss haben, der im Herkunftsland gültig ist. Potenzialsäule meint, dass Menschen beispielsweise mit exzellenten Deutschkenntnissen der Aufenthalt zur Suche eines Arbeitsplatzes ermöglicht werden soll.

Einwanderungsland Deutschland

„Dieser Gesetzentwurf stellt zum ersten Mal einen ganzheitlichen Ansatz dar, der einen Aufbruch in der Erwerbsmigration markiert“, sagt Carl-Julius Cronenberg, Sprecher für Mittelstand und Freihandel der FDP-Bundestagsfraktion. Deutschland, so Cronenberg, sei ein Einwanderungsland und brauche ein modernes Einwanderungsrecht. Das vorliegende Eckpunktepapier, das inzwischen zu einem Gesetzentwurf weiterentwickelt worden ist, könne einen Beitrag dazu leisten. Entscheidende Erfolgsfaktoren aus seiner Sicht seien erleichterter Spracherwerb, zügigere Visumsanträge und Digitalisierung der Abläufe. „Noch dauert es viel zu lang, die Visa zu bearbeiten, deshalb ist die Digitalisierung bei der Beschleunigung der Prozesse wichtig“, sagt der Politiker, der auch eine verbesserte Willkommenskultur in Deutschland anmahnt. Willkommen – das steht beim 2021 in der Hansestadt Hamburg gegründeten Hamburg Welcome Center (HWC) nicht nur im Titel, sondern ist auch programmatisch gemeint. Das HWC fungiert als zentrale Ausländerbehörde des Stadtstaats und ist Anlaufstelle für alle Fachkräfte aus Drittstaaten, die in Hamburg arbeiten wollen. „Es wendet sich sowohl an Unternehmen mit Fachkräftebedarf als auch an potenzielle Fach- und Führungskräfte aus dem Ausland“, sagt Florian Käckenmester. Er ist Referatsleiter im Amt für Migration der Hamburger Innenbehörde und als solcher verantwortlich für das Hamburg Welcome Center. „Wir erteilen Aufenthaltstitel, kümmern uns um Einreiseangelegenheiten, beraten zum Aufenthaltsrecht und wenden das beschleunigte Fachkräfteverfahren an“, zählt er auf. Das kostet 411 Euro, reduziert aber den ansonsten mindestens vier Monate währenden Anerkennungsprozess auf zwei Monate. Das HWC prüft alle aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen, setzt sich mit den Anerkennungsstellen auseinander, holt die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit ein und akzeptiert in der Regel auch englische Unterlagen. Seit seiner Gründung hat das Center mehr als 600 Verfahren auf diese Art und Weise durchgeführt.

Geflüchtete in Arbeit bringen

Ein Eckpunktepapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion weist darauf hin, dass in Deutschland mehr als eine halbe Million anerkannter Flüchtlinge leben, die Sozialleistungen des Staates erhalten. Hier liegen nach Meinung der Politiker erhebliche Möglichkeiten, um die Zahl der Arbeits- und Fachkräfte in Deutschland zu erhöhen. Zu der Gruppe der Flüchtlinge gehört auch Rafat Alani. Der 31-jährige angehende Wirtschaftsingenieur kam im Juli 2015 gemeinsam mit seinem Bruder aus dem Bürgerkriegsland Syrien nach Deutschland. Ursprünglich wollte er nach Norwegen, weil er dort sein Studium zum Erdölingenieur fortsetzen wollte, das er bereits in Damaskus begonnen hatte. Doch er blieb in Deutschland, lebte anfangs in einer Notunterkunft, brachte sich unter widrigen Umständen Deutsch bei und bereitete sich in einem Studienkolleg ein Jahr auf die Uni vor. 2018 erhielt Rafat Alani eines von 18 Stipendien des Studierendenwerks Hamburg. Es unterstützt Menschen, die ihr Studium aus besonderen Lebenslagen heraus erfolgreich absolvieren. Obwohl Alani sehr schnell Deutsch gelernt und sich relativ gut zurechtgefunden hat, sagt er rückblickend, dass die deutsche Bürokratie ihn oft überfordert habe. „Bundesamt für Migration, Ausländerbehörde, Bundesagentur für Arbeit – ich wusste nicht, an wen ich mich richten sollte und wer für mich zuständig ist“, sagt er. Eine Plattform, die sich um die Flüchtlinge kümmert, die ihnen bei den Behördenbesuchen hilft und sie unterstützt – das wäre damals gut für ihn gewesen, meint Rafat Alani heute. Er hat es allein geschafft und engagiert sich heute für andere Flüchtlinge. Als Werkstudent bei Philips Medical Systems ist er Teil des sogenannten Refugee Programms von Philips. Thiemo Illmer aus dem Talents Acquisition Team des Unternehmens erläutert: „Philips möchte mit dem Programm die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Wir bieten Schulungs- und Mentoringprogramme an und sorgen so dafür, dass sich Geflüchtete in unsere Belegschaft integrieren können. Rafat ist seit 2021 dabei und treibt die Initiative aktiv mit voran.“ Der Prozess der Integration sei sowohl für Flüchtlinge als auch für Nicht-EUBürger noch immer sehr kompliziert, meint Alani. „Ich möchte dazu beitragen, dass die Integration besser funktioniert. Deshalb mache ich im Refugee-Programm mit.“ Insgesamt will Philips in den Niederlanden und in Deutschland 100 Flüchtlingen bis zum Jahr 2024 einen Arbeitsplatz bieten. Rafat Alani ist zurzeit als Werkstudent im Unternehmen aktiv und schreibt parallel an seiner Masterarbeit. Er hofft, dass er nach seinem Abschluss als Wirtschaftsingenieur einer dieser Mitarbeiter sein wird.

Thiemo Illmer (l.) vom Talents Acquisition Team von Philips arbeitet seit 2021 mit dem 31-jährigen syrischen Werkstudenten Rafat Alani im Refugee Programm des Konzerns zusammen.

Foto: Philips Medical Systems

Vorbildliche Initiative

Dass Integration und Fachkräftezuzug auch aufgrund privater Initiativen funktionieren kann, zeigt ein außergewöhnliches Beispiel aus Zarrentin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort engagiert sich der Unternehmer Jörg Reimer seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs für Kriegsflüchtlinge. Der Chef des Verpackungsmaschinenbauers Variovac holte in enger Zusammenarbeit mit Zarrentins Bürgermeister und befreundeten Unternehmen der Region innerhalb weniger Monate 100 Personen in die Region. Weil Reimer keine Flüchtlingsheime schaffen, sondern den Menschen ein neues Zuhause bieten wollte, wurden kurzerhand 25 Wohnungen angemietet und zum Teil renoviert. Auch bei Registrierung, Schulanmeldung, Jobsuche und Freizeitgestaltung half er und animierte so auch andere Unternehmen zu eigenen Hilfeleistungen. Inzwischen hat das Unternehmen eine eigene Stiftung gegründet, die die Hilfe nachhaltig fortführen soll. Das außerordentliche Engagement blieb nicht ohne Folgen: Die Gemeinde Zarrentin hat Jörg Reimer zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.

Lothar Steckel

Erwerbsmigration – Verbandsposition

Im März 2023 hat sich das Bundeskabinett mit Entwürfen für ein Gesetz und eine Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung (FEG) befasst. Die vorgelegten Entwürfe verbessern den bestehenden Rechtsrahmen, gehen aus Sicht von NORDMETALL an vielen Stellen jedoch nicht weit genug. So werden die beteiligten Behörden nicht umhinkommen, die Verwaltungsverfahren zügig zu digitalisieren und zu zentralisieren . Ein einfaches, planbares Vorgehen, das vom Zuwanderer her gedacht und auch in englischer Sprache möglich ist, kann dazu beitragen, Verfahren wirkungsvoll zu beschleunigen. Dazu gehört auch, die Verfahren zu Asyl und Erwerbsmigration künftig zu trennen . Aus Sicht der Arbeitgeberverbände könnten vor allem kleine und mittelständische Betriebe bei der Suche nach geeigneten Fachkräften aus Drittstaaten entlastet werden, indem Fachkräfteeinwanderung auch in Zeitarbeit ermöglicht wird. Das sieht der Kabinettsentwurf nicht vor. Zeitarbeitsunternehmen verfügen jedoch über langjährige Erfahrung bei der Auswahl, Betreuung und Weiterbildung von Menschen aus dem Ausland. Zudem wirkt NORDMETALL darauf hin, dass die Mitteilungspflicht für den Arbeitgeber nach § 4a Aufenthaltsgesetz im Zuge der Novelle des FEG gestrichen oder zumindest praxistauglich umgestaltet wird. Eine Mitteilung über das vorzeitige Ende einer Beschäftigung, aufgrund derer ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, muss innerhalb von vier Wochen ab Kenntnis der Beendigung die zuständige Ausländerbehörde erreichen. Geschieht dies nicht, können Unternehmen mit Bußgeldern von bis zu 30.000 Euro belangt werden. BiB

Grafik: NORDMETALL (Shutterstock/Infographics project)

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