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Innovative Tarifpolitik ansteuern
Eine hohe Tarifbindung ist ein hehres politisches Ziel. Doch wer es erreichen will, muss einen anderen Kurs einschlagen. Schon gar nicht darf er sich von interessengesteuertem Alarmismus treiben lassen.
An einer hohen Tarifbindung wird die moderne Arbeitswelt genesen – so lautet eines der noch einzulösenden politischen Heilsversprechen: In Brüssel haben sich Parlament und Rat deshalb auf eine Richtlinie geeinigt, nach der jeder Mitgliedstaat dafür Sorge tragen soll, eine tarifvertragliche Abdeckung von mindestens 80 Prozent sicherzustellen. Auch in Berlin hat sich die Ampelkoalition dem Ziel verschrieben, die Tarifbindung zu stärken – unter anderem, indem sie öffentliche Aufträge des Bundes nur an tarifgebundene Firmen vergeben und die Zuwanderung aus Drittstaaten an die Einhaltung von Tarifverträgen binden will. Begründung: Man müsse dafür sorgen, dass der Rückgang der Tarifbindung gestoppt, überall fair entlohnt und ein Unterbietungswettbewerb durch billige ausländische Arbeitskräfte verhindert werde. Schon dieses Mandat, das die Politik unzulässigerweise an sich reißt, fußt auf falschen Annahmen: Erstens droht in Zeiten von Fachkräftemangel und hoher Inflation beim Lohn kein Unterbietungs-, sondern ein Überbietungswettbewerb. Zweitens ist, zumindest in der Metall- und Elektroindustrie, kein besorgniserregender Rückgang der Tarifbindung zu beobachten. Vielmehr ist dort die Zahl der Beschäftigten, die vom Flächentarif erfasst werden, seit Jahren nahezu stabil (siehe Grafik S. 14). Drittens sind 80 oder 100 Prozent Tarifbindung keine geeignete Zielgröße und wurden auch in der M+E-Industrie seit mehr als 100 Jahren noch nie erreicht. Eine so hohe Abdeckung wäre nur bei einer Pflichtmitgliedschaft möglich (und besteht derzeit nur in der Zeitarbeit, die aber paradoxerweise von den Gewerkschaften besonders verunglimpft wird). In freiwillig verfassten Organisationen – ob Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften – ist dagegen Mitgliederschwund als Korrekturmechanismus unerlässlich, also kein Systemfehler, sondern geradezu systemimmanent.

Dr. Nico Fickinger, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands NORDMETALL
Foto: Christian Augustin
Doch der Politik fehlt nicht nur das Mandat, in die Tarifautonomie einzugreifen, ihr fehlt auch die richtige Lösung. Was sie vorschlägt, ist schädlich, willkürlich und kontraproduktiv: Schädlich, weil eine hundertprozentige Tarifbindung in der stark exportorientierten M+E-Industrie wegen des daraus folgenden Kostenschubs zu einem Wegfall von 350.000 Arbeitsplätzen und zur Aufgabe von jedem fünften mittelständischen Betrieb führen würde. Das haben die Kölner Wissenschaftler von IW Consult schon für das Basisszenario errechnet. Willkürlich, weil „gute Arbeit“ je nach Branche anders definiert wird. So schreibt der Flächentarif der chemischen Industrie, der allgemein als vorbildlich eingestuft wird, eine tarifliche Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden fest. Bei Beamten, auch nicht gerade als ausgebeutete Spezies verschrien, sind sogar 40 und mehr Wochenstunden zumutbare Pflicht. Die IG Metall dagegen, nur weil sie einmal die 35-Stunden-Woche erkämpft hat, würde schon 36 Stunden als skandalös geißeln. Kontraproduktiv, weil der Anreiz, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren, schwindet, je stärker die Arbeitsbeziehungen und Vergütungsbedingungen vom Staat geregelt werden. Mit ihren Eingriffen in die Tarifautonomie verschärft die Politik also das Trittbrettfahrertum, das sie eigentlich bekämpfen will, und schwächt jene Sozialpartner, die sie lieber stärken sollte.
Beschäftigtenentwicklung in den Tarifträgerverbänden der Metall- und Elektroindustrie; Anzahl der Beschäftigten in Mitgliedsfirmen. Quelle: Gesamtmetall, Zahlen 2020.
Dabei läge die Lösung so nahe:
1. Der Flächentarif muss attraktiver werden. Firmen, die den Flächentarif anwenden, müssen daraus weiteren Nutzen ziehen können, jenseits der bekannten, aber oft nicht als solche erkannten Vorteile. Schon die bestehenden Erleichterungen aber können – im Fall tariflicher Öffnungsklauseln – oft nur mühsam erschlossen werden oder kehren sich mitunter sogar ins Gegenteil um: Wer den Flächentarif anwendet, hat weniger Möglichkeiten als vorher. Und zum Dank werden die Unternehmen, die bereits tarifgebunden sind, in den regelmäßigen Entgelttarifrunden auch noch besonders intensiv bestreikt. Es geht also um ein Umdenken – auf beiden Seiten: Die Arbeitgeber müssen (schmerzhaft) erkennen, dass als Alternative zur Tarifbindung nicht die Tariffreiheit lockt, sondern die politische Regulierung der Arbeitswelt droht. Die Gewerkschaften wiederum müssen Tarifbindung neu definieren und eine größere Vielfalt an Lösungen akzeptieren.
2. Die IG Metall sollte daher den Begriff der Tarifbindung breiter interpretieren. In der Praxis gesteht sie bisher nur Haustarifen – die bestenfalls die Flächenregelungen anerkennen – eine gewisse Existenzberechtigung zu. Ergänzungstarife dagegen werden bloß als befristet zu ertragende Abweichungen vom eigentlichen Ziel des Flächentarifs hingenommen. Doch die Arbeitswelt wird weder am Wesen des Flächentarifs genesen noch an Mindestlöhnen und Vergabegesetzen, sondern allein an zeitgemäßen, innovativen Regelungen der Sozialpartner. Warum also nicht für einzelne Branchen abgespeckte Vertragswerke oder für kritische Themen unterschiedliche Module anbieten? Müssen im Büro, in der Werkshalle, im Vertrieb und auf Montage überall die gleichen Arbeits- und Ruhezeitregeln gelten?
3. Am Ende überschattet die Debatte um die Tarifbindung das eigentliche Problem: die Frage nämlich, wie sich Großorganisationen neu erfinden können, um in radikalen gesellschaftlichen und technologischen Umbruchzeiten ihre Bindekraft gegenüber Mitgliedern aus den bald dominierenden Generationen Y und Z neu zu begründen.
Dr. Nico Fickinger