Seltene Erkrankungen

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SELTENE ERKRANKUNGEN

Fokus: Lysosomale Speichererkrankungen

Leben mit Morbus Gaucher, Morbus Fabry und Morbus Hunter – drei emotionale Geschichten.

NICHT VERPASSEN AADC-Mangel

Die sehr seltene Erkrankung erkennen Seite 8

Nicht-dystrophe Myotonien

Wenn das Leben auf Pause drückt Seite 16

EINE UNABHÄNGIGE KAMPAGNE VON MEDIAPLANET

VERANTWORTLICH FÜR DEN

INHALT IN DIESER AUSGABE: MIRIAM HÄHNEL

Menschen mit seltenen Erkrankungen brauchen eine angemessene Versorgung und unsere Solidarität – jetzt mehr denn je!

IN DIESER AUSGABE

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Medizinische Detektivarbeit

Die schwierige Diagnose von seltenen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

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Cushing-Syndrom

Wenn zu viel Cortisol im Körper krank macht.

Industry Manager Health: Miriam Hähnel Geschäftsführung: Richard Båge (CEO), Philipp Colaço (Managing Director), Franziska Manske (Head of Editorial & Production), Henriette Schröder (Sales Director) Designer: Elias Karberg Mediaplanet-Kontakt: redaktion.de@ mediaplanet.com Coverbild: Privat

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Please recycle

Die Pandemie hat uns alle tief getroffen

Nach der ersten Schockstarre wurden Rettungsschirme gespannt und Schutzmaßnahmen ergriffen. Kontaktsperre, Maskenpflicht und gegenseitige Rücksichtnahme waren selbstverständlich. Die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten in Deutschland sanken. Die Sommermonate brachten Entlastung und für viele Menschen so etwas wie „Normalität“ in den Alltag zurück.

MEva Luise

Köhler

Schirmherrin

ACHSE e. V.

it großer Sorge blicke ich jedoch noch immer auf die vielen Kinder und Erwachsenen, die mit chronischen seltenen Erkrankungen leben. In Deutschland sind es etwa vier Millionen. Sie trifft die Corona-Pandemie besonders hart: Viele sind gesundheitlich nun zusätzlich gefährdet. Existenzielle Ängste bestimmen ihren Alltag mehr denn je. Hinzu kommen die Belastungen der vielen pflegenden Angehörigen, die beruflich tätig sind. Förder- oder Tagespflegeeinrichtungen sind seit Monaten geschlossen. Erkrankte oder Kinder aus besonders gefährdeten Familien durften und dürfen nicht in die Schule. Notwendige Strukturen, um Beruf, Alltag und Betreuung unter einen Hut zu bringen, fehlen. Entlastung und Unterstützung sind unerreichbar. Es sind dramatische Nachrichten, die die ACHSE in den vergangenen Wochen erreicht haben. Physische und soziale Distanzierung haben bedrückende Auswirkungen auf Betroffene, die seit Monaten zu Hause bleiben und in die Isolation gedrängt sind. Sie werden unsichtbar. Das macht sie mehr denn je zu den Waisen der Medizin –nicht nur in unserem Gesundheitssystem, sondern auch innerhalb

Menschen mit seltenen Erkrankungen werden in der Pandemie unsichtbar. Das macht sie mehr denn je zu den Waisen der Medizin – nicht nur in unserem Gesundheitssystem, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaft.

unserer Gesellschaft. Das dürfen wir nicht zulassen. Unterstützen Sie Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen und deren Angehörige. Seien Sie solidarisch mit denen, die Hilfe brauchen.

Wenn Sie, Angehörige oder Bekannte mit chronischen seltenen Erkrankungen konkreten krankheitsübergreifenden Rat suchen, können Sie sich an die ACHSE wenden.

Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die kommenden Wochen.

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Wir sind auf dem richtigen Weg!

Arzneimittel für seltene Erkrankungen

Arzneimittel, die speziell für den Einsatz bei seltenen Erkrankungen entwickelt wurden, heißen Orphan Drugs. Wird ein solches Medikament zugelassen, erhält es in der EU für die Dauer von zehn Jahren Marktexklusivität. Seit 2000 gibt es eine gemeinsame EU-Verordnung, die die Zulassung solcher Orphan Drugs regelt .

Die Organisation Eurordis schätzt, dass 6–7 % der europäischen Bevölkerung an einer seltenen Erkrankung leiden.

Jedes Jahr wird mittlerweile eine zweistellige Zahl von Orphan Drugs zugelassen.

2019 mussten Krankenkassen 4 % ihrer Arzneimittelausgaben für Orphan Drugs aufwenden. Kommerziell sind sie also Nischenpräparate.

Seit dem Jahr 2000 entwickeln forschende Pharmaunternehmen verstärkt Medikamente gegen seltene Erkrankungen. Die folgende Grafik zeigt einen erfreulichen Trend, 2018 war sogar ein Rekordjahr bezüglich der Neueinführungen von solchen Orphan Drugs:

Anteil der Orphan Drugs an den Neueinführungen von Medikamenten mit neuem Wirksto in Deutschland:

Aktuell (Stand: August 2020) werden 108 zugelassene Medikamente mit aktivem Orphan-Drug-Status gezählt; dazu kommen noch 62 Medikamente, die den Status früher einmal hatten (fast alle davon sind noch auf dem Markt).

Die Entwicklung weiterer Orphan Drugs: Wir sind auf dem richtigen Weg!

Derzeit (Stand: August 2020) haben weitere rund 2.100 Medikamente, die sich in der Entwicklung befinden, den Orphan-Drug-Status der EU erhalten.

Die Erfindung geeigneter Medikamente gelingt nur da, wo genug über die Krankheitsvorgänge auf molekularer Ebene bekannt ist . Bei den meisten seltenen Krankheiten ist die Wissenschaft davon aber weit entfernt . Deshalb ist auch der Ausbau der Grundlagenforschung zu seltenen Krankheiten so wesentlich.

QUELLE: VERBAND DER FORSCHENDEN PHARMA-UNTERNEHMEN (WWW.VFA.DE/ORPHANDRUGS)

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2019 20 % 2015 2016 2017 2018 33 % 33 % 29 % 44 %

Schluckbeschwerden als ständiger Begleiter – die eosinophile Ösophagitis kann die Ursache sein

Die eosinophile Ösophagitis (kurz EoE) bezeichnet eine seltene immunvermittelte Erkrankung, bei der die Speiseröhre (Ösophagus) chronisch entzündet ist. Die Anzahl Betroffener, vor allem in Industrieländern, nimmt nachweislich stetig zu. Aufgrund der unspezifischen Symptome kommt es aber nach wie vor häufig zu Fehldiagnosen.

Ursachen und Symptome erkennen

Die genaue Ursache der EoE ist noch nicht bekannt, es werden allerdings Nahrungsmittelallergene als Auslöser vermutet. Der Großteil der meist männlichen Patienten – oft zwischen 30 und 50 Jahren – weist außerdem andere allergische Erkrankungen, wie Asthma,

Heuschnupfen oder allergische Ekzeme auf.

Zu den Hauptsymptomen der EoE gehören Schluckbeschwerden beim Verzehr fester Speisen, besonders bei trockenen oder faserigen Produkten wie Fleisch, Brot oder Rohkost, und Schmerzen im Brustkorb. Betroffene haben dadurch oft das Gefühl, ihnen würde ein Bissen im Hals stecken bleiben, und vermeiden solche Nahrungsmittel, um die Beschwerden zu vermeiden. Tatsächlich kann bei Betroffenen im schlimmsten Fall aber auch ein Nahrungsbolus im Hals stecken bleiben (Bolusimpaktion) und dadurch einen medizinischen Notfall hervorrufen. Auch Sodbrennen kann zu den Symptomen gehören, weshalb die EoE von einer Refluxkrankheit unterschieden werden sollte.

Nicht diagnostiziert oder falsch behandelt schreitet die Erkrankung immer weiter fort. Die Patienten sind einem hohen Leidensdruck ausgesetzt und kämpfen mit dauerhaften Einschränkungen im Alltag. Betroffene und behandelnde Ärzte sollten unbedingt hellhörig werden, wenn die oben genannte Kombination von Beschwerden auftritt. Das gilt ganz besonders, wenn ein Reflux diagnostiziert und behandelt wird, aber keine Besserung der Symptome einsetzt.

Diagnose und Therapie

Die Diagnose sollte in jedem Fall durch einen Gastroenterologen erfolgen, der nach einer ausführlichen Anamnese eine endoskopische Untersuchung durchführt, bei der Gewebeproben aus der Speiseröhre entnommen und analysiert werden. Die Diagnose kann

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dann durch den Nachweis eosinophiler Granulozyten zweifelsfrei gestellt und eine Therapie eingeleitet werden.

Ziel einer Therapie ist, die Erkrankung im Verlauf zu stoppen. Dies kann durch mehrere Möglichkeiten erreicht werden, die unter den „3 D“ zusammengefasst werden: Diet – Drugs –Dilatation. Zum einen hat sich eine Anpassung der Ernährung (Diet) als hilfreich erwiesen. Ziel solcher Diäten ist es, potenzielle Allergieauslöser zu meiden. Dabei werden zunächst möglichst viele der Allergene vom Speiseplan gestrichen, die zu einer der 6 folgenden Nahrungsmittelgruppen gehören: tierische Milch und Milchprodukte, Weizen/Gluten, Eier, Nüsse, Soja/Hülsenfrüchte und Fisch/Meeresfrüchte. Nach Abklingen der Symptome werden dann einzelne Lebensmittel schrittweise wieder eingeführt, um die verantwortlichen Allergene zu identifizieren und auch EoE-Patienten eine möglichst vielfältige Auswahl an Speisen zu ermöglichen. Jedoch kann nur ein geringer Teil der Betroffenen eine solche Diät langfristig durchhalten.

Zu den medikamentösen Therapieoptionen gehören Protonenpumpenhemmer (PPI), die bei einem kleinen Teil der EoE-Patienten wirken, sowie Kortikosteroidpräparate. Dabei unterscheidet man zwischen systemisch und lokal wirksamen Präparaten, wobei systemisch wirksame Kortikosteroide starke Nebenwirkungen haben können. Beim Einsatz lokal wirksamer Präparate treten deutlich weniger Nebenwirkungen auf, sie wirken der Entzündung direkt in der Speiseröhre

entgegen und zeigen sehr gute Therapieerfolge. Daher sind lokal anwendbare Medikamente die erste Wahl einer medikamentösen Therapie.

Bei Patienten, bei denen eine medikamentöse Therapie nicht möglich oder ungenügend wirksam ist, kann eine mechanische Aufweitung der Speiseröhre, die sogenannte Dilatation, durchgeführt werden. Da dieser Eingriff aber nicht die eigentliche Entzündung bekämpft, wird die Dilatation grundsätzlich mit entzündungshemmenden Medikamenten kombiniert, um die Beschwerden dauerhaft zu lindern.

Die Beschwerdefreiheit der betroffenen Patienten ist das Ziel einer Therapie. Denn nur dann ist ein geregelter Alltag ohne Einschränkungen wieder möglich.

Hauptsymptome der EoE Schluckbeschwerden, vor allem beim Verzehr fester Speisen und faseriger/trockener Nahrungsmittel Unangenehmes oder schmerzhaftes Gefühl, dass ein Bissen im Hals stecken bleibt

Sodbrennen

Schmerzen im Brustraum Bolusimpaktion: Nahrungsbissen bleiben im Hals stecken

ACHTUNG!

Dies kann einen medizinischen Notfall hervorrufen!

Frank*, EoE-Patient, erzählt seine Geschichte

Frank ist im Außendienst tätig und viel im Auto unterwegs, sein Mittagessen verzehrt er daher oft „on the road“. Als er mal wieder ein Sandwich im Auto isst, verkrampft sich plötzlich seine Speiseröhre, er kann den Bissen einfach nicht herunterschlucken. Nach langen fünf Minuten löst sich der Krampf. Frank denkt, er habe einfach zu schnell gegessen oder nicht ordentlich gekaut. Aber die Krämpfe kommen wieder und passieren häufiger. Er geht zum Arzt, aber wird beschwichtigt: auch der Mediziner ist der Meinung, dass er sich einfach mehr Zeit beim Essen lassen solle.

Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass hinter den Krämpfen etwas anderes stecken muss. Vielleicht eine Reflux-Erkrankung wie bei seinem Vater? 2015 besucht er daher den Arzt seines Vaters, aber die Diagnose ist eine ganz andere: Frank leidet an einer eosinophilen Ösophagitis (meist abgekürzt als EoE), einer seltenen entzündlichen Erkrankung der Speiseröhre. Sofort wird er medikamentös eingestellt, die verschriebenen Protonenpumpenhemmer, die für die EoE nicht zugelassen und für die Dauertherapie nicht getestet sind, nutzt er nach Bedarf. Solange er die Medikamente einnimmt, ist er beschwerdefrei. Setzt er sie ab, kommen die Beschwerden schon nach wenigen Tagen zurück und beeinträchtigen seinen Alltag enorm. Einmal kommt es so

weit, dass er beim Abendessen mit Freunden ein Stück Fleisch nicht schlucken kann. "Es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Messer in die Brust gestoßen", sagt er. Die Schmerzen halten zwei Stunden lang an und sind so stark, dass er sich übergeben muss.

Solche oder ähnliche Geschichten haben viele Betroffene erlebt, die an einer eosinophilen Ösophagitis leiden. Seit 2018 gibt es nun das erste, eigens für EoE-Patienten entwickelte und offiziell zugelassene Medikament, das die Beschwerden dauerhaft im Zaum hält. Es ist als Schmelztablette mit Brauseeigenschaften einfach einzunehmen und lokal in der Speiseröhre wirksam, dadurch ist es gut verträglich und nebenwirkungsarm. Als Frank von der Zulassung dieser Therapie hört, hat er Tränen in den Augen gehabt, sagt er. Ein deutliches Zeichen, wie groß der Leidensdruck ist, unter dem Betroffene stehen und wie groß die Hoffnung, durch diese neue Behandlungsoption ein großes Stück Lebensqualität zurückzugewinnen.

Wenn Sie mehr zu dieser Erkrankung wissen möchten, finden Sie auf www.schluckbeschwerden.de umfangreiche Informationen zur EoE. Für Ärzte und medizinisches Fachpersonal gibt es zudem ein gesondertes Informationsportal für Fachkreise.

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ANZEIGE *Name von der Redaktion geändert
Seltene Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – eine ständige Herausforderung für Kinder- und Jugendärzte

In der Bundesrepublik leben nach aktuellen Schätzungen rund drei Millionen Kinder, die an einer seltenen oder sehr seltenen Krankheit leiden. Das stellt besonders Kinder- und Jugendärzte vor große Herausforderungen bezüglich der Diagnosefindung. Das Neugeborenenscreening ist ohne Zweifel ein wichtiges Instrument, um bereits in den ersten Lebenstagen eventuell vorliegende seltene Erkrankungen aufzudecken.

Allerdings sind mit diesem Screening noch lange nicht alle seltenen vererbbaren Erkrankungen abgedeckt. Wenn nun ein kleiner Patient unspezifische Symptome zeigt und alle bisherigen Vermutungen ergebnislos bleiben, ist diagnostischer Spürsinn gefragt. Was können also Kinder- und Jugendärzte konkret dazu beitragen, dass seltene Erkrankungen schneller diagnostiziert und die betroffenen Kinder, sofern verfügbar, einer Therapie zugeführt werden können?

Eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Eltern und Kinderund Jugendarzt ist eine wichtige Basis: Es gilt, die Sorgen und Beobachtungen der Eltern ernst zu nehmen. Treten Beschwerden immer wieder auf? Manifestieren sie sich in Kombination mit ungewöhnlichen

Charakteristika, die nicht zur bisherigen Diagnose passen wollen? Gab es in der Familie des betroffenen Kindes bereits ähnliche Fälle? Das ist klassische Mustererkennung, die auch bei Kinder- und Jugend- sowie Allgemeinärzten immer wieder geschult werden kann und muss, um rätselhafte Fälle lösen zu können. Dazu gehört auch, dass man nie das Interesse an schwierigen Fällen verliert und die Chance erkennt, für den kleinen Patienten und dessen Familie große Veränderungen zu bewirken. Denn in vielen Fällen ist die richtige Diagnose lebensentscheidend.

Wenn dann tatsächlich der Verdacht auf eine seltene Erkrankung im Raum steht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Kinder- und Jugendarzt hat die Möglichkeit, selbst weitere Untersuchungen vorzunehmen, oder er überweist den Patienten an einen Fachkollegen oder, noch besser, an ein Zentrum für seltene Erkrankungen, wo dann die weitere Differenzialdiagnostik erfolgen kann. Nicht jeder Fall, der „von der Norm abweicht“, wird letztendlich auch Klärung finden können.

Die Kinder- und Jugendärzte spielen im Diagnosedschungel aber eine bedeutende Rolle, denn sie sind es, die den entscheidenden Stein ins Rollen bringen können. Und das ist der

wichtigste Schritt, damit Kinder mit seltenen Erkrankungen schneller diagnostiziert und entsprechend versorgt werden können.

Ganz wichtig für die Eltern betroffener Kinder ist es, bei Auffälligkeiten und Beschwerden des Kindes gerade jetzt keine Scheu vor dem Arztbesuch zu haben: Kinder- und Jugendärzte und Spezialisten im Bereich seltener Erkrankungen sind weiterhin für ihre Patienten da, auch in Pandemie-Zeiten.

Dr. Thomas Fischbach Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte BVKJ e. V.

Das gilt besonders, wenn bereits eine Diagnose gestellt werden konnte und das betroffene Kind therapiert werden kann. Wenn seitens der Eltern Unsicherheiten bestehen, ob das Kind durch eine eventuell chronische seltene Erkrankung zur Risikogruppe gehört, ist ihr behandelnder Arzt Ansprechpartner Nummer eins, mit dem sie Ängste und Sorgen offen besprechen können. Auf keinen Fall sollten eigenmächtig Medikamente abgesetzt werden, da das ein großes Risiko für das Wohlergehen der jungen Patienten darstellt.

Zudem sollte gerade jetzt vor dem nahenden Herbst noch einmal der Impfstatus überprüft werden, damit besonders chronisch erkrankte Kinder keinen zusätzlichen Gefährdungen durch beispielsweise Grippeviren ausgesetzt werden, die das Immunsystem unnötig schwächen.

Für den Besuch beim Kinder- und Jugendarzt hat der BVKJ (www.bvkj.de) Empfehlungen erlassen, um Eltern und ihre Kinder zu schützen. Der Besuch sollte nach telefonischer Terminvereinbarung und nur in Begleitung eines Elternteils erfolgen. Das Abstands- und Hygienegebot und die Niesetikette sollten in jedem Fall eingehalten werden, Eltern mögen bitte einen Mund- Nasen-Schutz tragen.

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FOTO:SHUTTERSTOCK

CTX schon im Kindesalter erkennen!

Dr. med. Simone Stolz, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum Cottbus gGmbH, spricht im Interview über die cerebrotendinöse Xanthomatose, kurz CTX: eine schwerwiegende Erkrankung, die sich meist schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Text Benjamin Pank

Wie lange dauert es durchschnittlich bis zur Diagnose?

Untersuchungen haben ergeben, dass die Latenz zwischen Erstsymptom und Diagnosesicherung bei durchschnittlich 20 Jahren liegt.

Können Sie uns an einem konkreten Fall erklären, was die Schwierigkeit bei der Diagnose ist?

Bei einem unserer CTX-Patienten, der jetzt bereits zwölf Jahre alt ist, bestanden seit dem achten Lebensmonat schwere Durchfälle. Die Eltern haben mir berichtet, wie schlimm das alles war. Es sind Dutzende Untersuchungen erfolgt, doch die Durchfälle blieben. Im Alter von fünf Jahren kam bei dem Patienten eine Linsentrübung (Katarakt) hinzu, was die Ärzte auch nicht auf die richtige Spur

führte. Dann kam die Familie zu uns und im Alter von neun Jahren konnten wir die Diagnose stellen.

Wie wird die Diagnose gestellt?

Zeigt ein Kind typische Symptome, sollte jeder Arzt hellhörig werden und an einen bestimmten Laborwert denken: Cholestanol im Blut. Je früher eine Diagnose gestellt werden kann, desto positiver ist der Therapieverlauf im späteren Leben.

Bitte gehen Sie genauer darauf ein. Therapieeffekte können anhand von Familienuntersuchungen herausgefunden werden. CTX ist ja eine Erbkrankheit. Gehen wir mal von unserem 12-jährigen Jungen aus. Würde er ein Geschwisterkind bekommen, könnte man bereits im Säuglingsalter die Diagnose stellen.

Hier gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen, die belegen, dass sehr frühe medikamentöse Therapiemaßnahmen Symptome wie Katarakt, Durchfälle, Entwicklungsverzögerungen verhindern können.

Bringt eine Therapie im Erwachsenenalter nichts mehr?

Eine Symptomverbesserung erreicht man, egal in welchem Alter die Diagnose erfolgt. Doch erfolgt die Diagnose sehr früh, kann ein normales Leben gewährleistet werden, was bei einer späten Diagnose in dem Umfang nicht mehr möglich ist. Aus diesem Grund bin ich auch ein großer Verfechter davon, dass man CTX ins Neugeborenenscreening mit aufnimmt.

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Die Symptome der cerebrotendinösen Xanthomatose (CTX)

INFORMATION

Die CTX zeigt sich durch sehr unspezifische Symptome.

Typische Symptome: chronischer Durchfall, grauer Star; zudem können Schwierigkeiten in der Schule aufgrund verminderter Intelligenz oder Aufmerksamkeitstörungen auftreten.

ACHTUNG!

Oftmals wird eine CTX zunächst mit einer multiplen Sklerose oder einer peripheren Neuropathie verwechselt. Wenn die Therapie keine Wirkung zeigt und zusätzlich weitere der hier aufgeführten Symptome auftreten, sollten unbedingt ein Bluttest und eine genetische Untersuchung stattfinden. So kann die Mutation des krankheitsauslösenden Gens nachgewiesen und die Diagnose gestellt werden.

Allgemeine Symptome

Im Säuglingsund Kindesalter:

• Verlängerte Neugeborenengelbsucht

• Chronischer Durchfall

• Gallensteine

• Beidseitiger grauer Star

• Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung

• Entwicklungsverzögerung

• Epilepsie

Im Erwachsenenalter:

• Frühzeitige Arterienverkalkung

• Xanthome (geschwulstartige Verdickungen im Bereich der Hände, Ellenbogen, Achillessehnen, Knie oder des Halses)

• Osteoporose

• Kardiovaskuläre Probleme

• Neurologische und psychiatrische Auffälligkeiten

• Bewegungsstörungen

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Weitere Informationen unter elaev.de/cerebrotendonoese-xanthomatose und auf www.se-atlas.de (Suchbegriff "Xanthomatose, zerebrotendinöse") INFOGRAPHIC LEADIANT GMBH

Schlaffe Muskeln und verzögerte Entwicklung:

Dahinter könnte die sehr seltene Erkrankung

AADC-Mangel stecken!

Als Summer 2016 auf die Welt kommt, ist alles perfekt. Sie ist das größte Glück ihrer Eltern, ihr Sonnenschein. Doch bereits wenige Monate später machen sich ihre Eltern Sorgen, da sich Summer langsam, zu langsam zu entwickeln scheint. Aber die Kinderärzte geben Entwarnung: Alles sei in Ordnung, jedes Kind habe eben sein eigenes Tempo. Auch nachdem Summer nach extremen Schreiepisoden mehrfach ins Krankenhaus muss, weil sie keine Luft mehr bekommt, werden die Eltern beschwichtigt. So was käme öfter vor, als man denke, kein Grund zur Sorge.

Doch im Laufe der Zeit beginnen sich die Auffälligkeiten zu häufen: Summer ist sehr dünn, ihre Muskeln sind schlaff, ihre Zunge ist dick und erschwert ihr das Atmen, ständig hat sie eine verstopfte Nase. Sie schwitzt stärker als andere Kinder, irgendwann beginnt sie, die Augen unwillkürlich nach oben zu verdrehen. Nun sind auch die Ärzte beunruhigt. Eine Klinikodyssee durch die Bundesrepublik beginnt, da kein Arzt feststellen kann, was Summer fehlt. Unzählige Untersuchungen folgen, eine Qual für Summer und ihre Eltern. Summers Mutter

erinnert sich an diese schwere Zeit der Ungewissheit: „Solange wir keine Diagnose hatten, stand immer der Vorwurf im Raum, ob man zu wenig getan hat.“ Ein Gefühl, das viele Eltern kennen, die ein Kind mit einer seltenen Erkrankung haben.

Als Summer anderthalb Jahre alt ist, hat endlich ein Arzt einen konkreten Verdacht und untersucht nach einem MRT Summers Hirnwasser. Daraufhin wird sie in die Uniklinik Heidelberg überwiesen, wo dann endlich die Diagnose gestellt wird: Summer hat einen Aromatischen L-Aminosäure-Decarboxylase-Mangel, kurz AADC-Mangel, eine extrem seltene Stoffwechselerkrankung, die bisher nicht heilbar ist.

Ursachen und Symptome

Bei AADC-Mangel handelt es sich um eine sehr seltene genetische Erkrankung, die sich auf das Gehirn auswirkt und die Kommunikation der Nervenzellen beeinträchtigt. Eine Mutation eines Gens führt dazu, dass wichtige Signale im Nervensystem nicht mehr transportiert werden, weil der Körper die entscheidenden Botenstoffe nicht oder nur in zu geringen Mengen produziert. Zu den häufigsten Symptomen zählen eine geringe Muskelspannung bzw. eine geringe Muskelstärke, Bewegungsstörungen,

insbesondere unwillkürliche Augenbewegungen, sowie Entwicklungsverzögerungen (z. B. keine altersentsprechende Kopfkontrolle, kein Krabbeln, Sitzen oder Stehen ohne Hilfe, kein Brabbeln oder Sprechen). Weitere häufige Symptome, die bei den betroffenen Kindern auffallen könnten, sind übermäßiges Schwitzen, vermehrter Speichelfluss, hängende Augenlider und eine verstopfte oder laufende Nase. Diese Symptome können einzeln auftreten und müssen nicht alle zusammen vorliegen.

Diagnostik: Detektivarbeit für Mediziner

Summer zeigte eine Vielzahl dieser Symptome. Aber sie ist einer von bisher nur etwa 125 beschriebenen Patientenfällen weltweit, die Erkrankung ist daher weitestgehend unbekannt, auch unter Medizinern. Zudem ähneln die Symptome des AADC-Mangels denen häufiger auftretender Erkrankungen wie Epilepsie oder Cerebralparese, das Beschwerdebild kann also auf die falsche Spur führen. Das führt dazu, dass die Diagnose oft sehr spät erfolgt. Im Durchschnitt sind betroffene Kinder bei der Diagnose dreieinhalb Jahre alt, obwohl erste Symptome bereits im dritten Lebensmonat auftreten können. Eine möglichst frühe Diagnose ist

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aber entscheidend, um die Behandlung und Versorgung der kleinen Patienten zu verbessern und betroffene Eltern auffangen zu können. Summers Mutter erzählt: „Die Diagnose trifft betroffene Familien tief. Einerseits ist man erleichtert, endlich zu wissen, was ist, nicht mehr im Ungewissen zu sein. Andererseits war es hart, über das Krankheitsbild aufgeklärt zu werden und zu hören, was die Krankheit mit sich bringt. Aber die Diagnose kann insofern Erleichterung schaffen, als nun konkrete Schritte für die Therapie geplant werden können.“

Behandlungsmöglichkeiten und Austausch

Denn auch wenn die Erkrankung bisher nicht heilbar ist, kann nach der Diagnose ein Therapieplan entwickelt werden, der dabei helfen kann, die Symptome der kleinen Patienten zu lindern. Dazu zählen Physio-, Ergo- und Sprachtherapien sowie individuell an den Patienten angepasste medikamentöse Optionen. Je früher also die Diagnose gestellt wird, umso schneller kann den betroffenen Kindern geholfen werden. Zudem gibt die Diagnose den betroffenen Familien die Möglichkeit, emotional aufgefangen zu werden. Summers Mutter erzählt uns: „Am wichtigsten erscheint uns der Aspekt, dass sich die Eltern und ihr erkranktes Kind nicht mehr alleine fühlen müssen. Es gibt Familien, die auch mit dieser Krankheit leben. Nur sie verstehen wirklich, wie man sich fühlt. Man ist nicht mehr so machtlos und kann etwas tun.“

Ein offener Umgang mit der Erkrankung

Deshalb nimmt Summers Mutter auch kein Blatt vor den Mund und spricht ganz offen über die Erkrankung ihrer Tochter. Sie sagt: „Ich möchte anderen Eltern mit Kindern, die auch mit AADC-Mangel leben, Mut machen und zurufen: Ihr seid nicht allein!“ Zudem hat Summers Mutter die Erfahrung gemacht, dass ein transparenter Umgang einer möglichen Stigmatisierung der betroffenen Kinder in ihrem Lebensumfeld entgegenwirken kann: „Ein offener Umgang mit der Krankheit hilft auch dem Umfeld, seine Hemmschwelle zu überwinden und offen Fragen zu stellen. Ein gut informiertes Umfeld ist die Basis, um das Kind im Alltag gut zu unterstützen.“

Ein offenes Ohr beim Kinderarzt

Und nicht zuletzt sind es dieser offene Umgang und die damit verbundene Aufklärung, die auch Ärzten, speziell Pädiatern, die Erkrankung auf den Schirm bringen können. Denn die behandelnden Kinderärzte sind meist die erste Anlaufstelle betroffener Eltern, die sich um ihr Kind sorgen. Summers Mutter wurde erst ernst genommen, als die Beschwerden sich häuften, daher sagt sie: „Ich möchte, dass Ärzte an die Krankheit denken, dass sie die Bedenken der Eltern nicht als Kleinigkeit abtun und dass sie weiterforschen, bis die Diagnose bestätigt ist.“ Dazu gehört auch, Kinder mit unspezifischen Beschwerden an spezialisierte Kollegen zu überweisen, wenn keine konkrete Diagnose gestellt werden kann. Damit die wenigen seltenen Fälle entdeckt und den kleinen Patienten und ihren Familien geholfen werden kann, so gut es bisher geht.

„Mein Baby hat so schlaffe Muskeln und verdreht ganz oft die Augen! Was ist da bloß los?“

Den sehr seltenen aromatischen L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC)-Mangel erkennen.

Wenn Babys schlaffe Muskeln haben, die Augen unwillkürlich verdrehen und in der Entwicklung hinter Gleichaltrigen zurückbleiben, kann das viele Ursachen haben. In sehr seltenen Fällen steckt die schwere Erbkrankheit AADC-Mangel dahinter. Eltern kennen ihre Kinder am besten, sollten bei Auffälligkeiten auf ihr Bauchgefühl vertrauen und ihren Kinderarzt offen darauf ansprechen. Achten Sie auf die Symptome Ihres Kindes und informieren Sie sich über die Krankheit – damit die Diagnose früh erfolgen kann, denn nur dann kann Ihrem Kind schnell geholfen werden!

Wenn Ihnen folgende Symptome bei Ihrem Kind auffallen, sprechen Sie mit Ihrem Arzt:

Andauernd verstopfte Nase

Entwicklungsverzögerungen Übermäßiges Schwitzen ANZEIGE

AADC-Mangel – kurz für Aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase-Mangel – ist eine sehr seltene Erbkrankheit, die sich auf das Gehirn auswirkt und die „Datenübertragung“ zwischen den Nervenzellen stört. Oft führt AADC-Mangel schon beim Baby zu schlaffen Muskeln, Bewegungsstörungen und zur Verzögerung in der Entwicklung.

Auch viele andere Symptome sind möglich, wie zum Beispiel übermäßiges Schwitzen oder eine andauernd verstopfte Nase.

Daher sollten unbedingt auch Kinderärzte an diese seltene Erkrankung denken, wenn ein kleiner Patient die genannten Symptome zeigt. Denn auch, wenn ein AADC-Mangel in den allermeisten Fällen ausgeschlossen werden kann, haben sie in den wenigen Fällen, in denen ein AADC-Mangel vorliegt, maßgeblich dazu beigetragen, die Erkrankung frühzeitig(er) zu erkennen.

Unter www.aadc-mangel.de finden sowohl Eltern als auch Ärzte umfassende Informationen zu den Symptomen und der Diagnose dieser seltenen Erbkrankheit. Für medizinisches Fachpersonal steht ein gesonderter Ärztebereich zur Verfügung.

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Bewegungsstörungen oder Verdrehen der Augen

SELTENE ERKRANKUNGEN BRAUCHEN EINE BÜHNE

Virtuelle Lesung zum International Gaucher Day mit Schauspieler Marten Krebs

Weltweit wird am 1. Oktober auf die Anliegen von Menschen mit der seltenen Erkrankung Morbus Gaucher aufmerksam gemacht.

An diesem Tag wird die Gaucher Gesellschaft Deutschland e.V. zusammen mit ihrem Botschafter Marten Krebs eine Veranstaltung unter dem Titel „Selten kranke Geschichten“ veranstalten. In diesem Jahr wird das Event virtuell stattfinden, jeder kann also ganz bequem von der eigenen Couch aus teilnehmen! Es erwarten Sie Interviews, spannende Hintergrundinformationen sowie eine unterhaltsame Lesung, inszeniert von Marten Krebs.

Unter www.lebenmit-gaucher.de/ gaucherday2020.de können Sie kostenlos an der Veranstaltung teilnehmen, die um 19:00 Uhr startet.

Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Gaucher Gesellschaft unter: www.ggd-ev.de

Morbus Gaucher

Morbus Gaucher gehört zu den lysosomalen Speichererkrankungen und ist äußerst selten. Bleibt die Erkrankung unbehandelt, führt sie langfristig zu schweren Organschäden bis hin zum Tod. Ein Gespräch mit Pascal Niemeyer über Sorgen und Herausforderungen, aber auch große Hoffnungen bezüglich der Versorgung von Gaucher-Patienten.

Am 1. Oktober ist internationaler GaucherTag. Welche Themen sind Ihnen in diesem Jahr besonders wichtig und wie werden Sie mit der GGD diesen Tag in diesem Jahr begehen?

Wie jedes Jahr wollen wir diesen Tag nutzen, um in der Öffentlichkeit auf diese besonders seltene Erkrankung aufmerksam zu machen. Trotz der Vielzahl der Symptome werden die Indizien für die Gaucher-Erkrankung – meist aus Unwissenheit – durch die Ärzte übersehen.

In der Folge leben Gaucher-Patienten in der Regel viele, viele Jahre mit der Erkrankung, rennen von Facharzt zu Facharzt und wissen gar nicht, woran sie leiden, während die verschiedenen Symptome immer schlimmer werden.

Indem wir auf die Erkrankung und deren Symptome aufmerksam machen, erhoffen wir uns, dass viele Menschen, die unbekannt mit der Erkrankung leben, diagnostiziert werden und mit einer der verschiedenen zur Verfügung stehenden Therapien behandelt werden können. Für viele ist das der Beginn eines zweiten, besseren Lebens.

In diesem Jahr werden wir wieder mit unserem Botschafter, dem Schauspieler, Sänger und Entertainer Marten Krebs, eine Lesung mit dem Titel „Selten kranke Geschichten“ organisieren.

Wo sehen Sie die größten Errungenschaften, aber auch Herausforderungen, wenn es um die Wahrnehmung und Versorgung von Gaucher-Patienten geht?

Die größte Errungenschaft, aus Sicht der Patienten, ist zweifelsohne die Entwicklung von verschiedenen Therapien, die zwar die Krankheit als solche nicht heilen können, aber die Symptome und ihr Fortschreiten maßgeblich verringern können. In Sachen Di-

Pascal Niemeyer Vorsitzender der Deutschen Gaucher Gesellschaft e.V.

agnostik hat sich in den letzten zehn Jahren auch unglaublich viel getan, sodass Patienten – so der Arzt denn an Morbus Gaucher denkt –schnell und unkompliziert diagnostiziert werden können.

Bei der medizinischen Versorgung von Gaucher-Patienten in Deutschland muss ich leider feststellen, dass immer mehr Spezialzentren aus Kostengründen die Leistungen für Patienten, die an einer seltenen Erkrankung leiden, einstellen müssen. Es liegt auf der Hand, dass chronisch erkrankte Patienten eine deutlich intensivere und spezialisiertere medizinische Versorgung benötigen als der Normalbürger. Diese Tatsache scheint in unserer Gesundheitspolitik leider immer noch nicht angekommen zu sein. In der Konsequenz arbeiten Kliniken oftmals defizitär und sehen sich früher oder später gezwungen, die Türen für die an einer seltenen Erkrankung leidenden Patienten zu schließen, während die Gesundheitspolitik geniert zur Seite schaut und weiterhin versucht, grundsätzliche Probleme unseres Systems zu ignorieren.

Was wünschen Sie sich an Veränderungen und Verbesserungen für Gaucher-Patienten in Deutschland und international? Mein Wunsch ist, dass seltene Erkrankungen wie Morbus Gaucher mehr Aufmerksamkeit bekommen – sowohl von der Öffentlichkeit als auch der Politik – und dass die Forschung gefördert und eine angemessene medizinische Versorgung gewährleistet wird. Natürlich hoffen wir alle, dass es in nicht allzu ferner Zukunft auch eine wirkliche Heilung für Gaucher-Patienten in Form einer Gentherapie geben wird. Gerade weil sich in diesem Bereich in den letzten Jahren so viel getan hat, stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht … Wir müssen halt nur Geduld haben!

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„Das Leben ist schön!“

Katrin ist 28 Jahre alt und liebt das Leben. Wie ihr das trotz einer unheilbaren Erkrankung gelingt, erzählt sie im Interview.

Ein Leben mit Morbus Gaucher, das klingt sehr beängstigend. Wie sieht es bei Ihnen in der Realität aus?

Nach der Diagnose vor acht Jahren habe ich mich sehr intensiv mit der Erkrankung auseinandergesetzt, um zu verstehen, was mir genau fehlt, und auch um das unbeschwerte Leben, das ich bis dato geführt habe, beibehalten zu können. Mein behandelnder Arzt stand immer an meiner Seite, hat alles sehr gut erklärt und mir genau erläutert, wie die Therapie ablaufen würde. Dadurch hatte ich nie mit Unsicherheiten zu kämpfen. Ich empfinde es so, dass mich Morbus Gaucher in meinem Alltag kaum einschränkt. Ich gehe sehr offen damit um und denke immer positiv. Auch die Infusion, die ich alle zwei Wochen bekommen muss, und die regelmäßigen Check-ups lassen sich bisher immer gut in meinen Alltag integrieren. Sie gehören jetzt einfach zu meinem Leben dazu.

Müssen Sie seit der Diagnose auf etwas in Ihrem Leben verzichten?

Ich habe das Glück, dass ich das Medikament von Anfang an vertragen habe. Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist und es vielen anderen Betroffenen nicht so gut geht. Doch es gibt zum Glück ja auch ein alternatives Medikament oder die Möglichkeit der Einnahme von

Tabletten. Also nein, ich lebe mein Leben wie vor der Diagnose.

Was sind Ihre persönlichen Stützpfeiler im Alltag mit Morbus Gaucher?

Neben den Menschen, mit denen ich täglich verbunden bin, gehört noch eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen zu meinen Stützpfeilern im Alltag. Das sind die Nurses, die mir die Infusionen verabreichen. Es gibt mehrere Krankenschwestern und einen Krankenpfleger, die abwechselnd zu mir kommen. Je nachdem, ob ich gerade in meiner Heimat, der Pfalz, oder in Frankfurt, wo ich wohne, oder auf Reisen bin. Denn die Therapie konnte ich schon mehrmals in Thailand, Neuseeland, Australien und während meines Auslandssemesters in Sevilla bekommen. Das konnte alles von meiner Home-Care-Organisation realisiert werden. Zudem geben sie mir das Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Sie haben immer ein offenes Ohr und sind für mich da. Auch mein Arzt ist ein Stützpfeiler für mich. Er ist ein Spezialist für Morbus Gaucher. Für all diese Menschen an meiner Seite bin ich unglaublich dankbar.

Was würden Sie anderen Betroffenen raten, um zu einem positiven Umgang mit der Erkrankung zu finden?

Ich hoffe, dass Morbus Gaucher bekannter wird und Betroffene eine Diagnose bekommen können. Denn das ist wirklich das, was meine „Geschichte“ zu einer so glücklichen macht: dass ich bis zur Diagnose noch keine allzu großen Probleme hatte und meine Hausärztin keine Mühen scheute, meinen schlechten Leberwerten und Symptomen wie Nasenbluten und Bauchkrämpfen einen „Namen“ zu geben. Das ist das, was ich mir auch für andere Menschen mit Beschwerden wünsche. Dass man sich kümmert und nicht als Hypochonder oder Ähnliches abgestempelt wird.

Ich profitiere von meiner positiven Grundeinstellung. Ich lasse mir meine Lebensfreude nicht nehmen. Bisher habe ich Morbus Gaucher gut im Griff. Natürlich weiß ich auch, dass dies nicht bei allen Betroffenen so ist. Ich finde es wichtig, offen mit der Krankheit umzugehen und zu erkennen, dass Gesundheit nicht selbstverständlich ist. Es kann auch ein neuer Anfang sein – innehalten und die Prioritäten überdenken. Natürlich ist das alles ein langer Prozess und es ist auch okay, wenn man in einer unheilbaren Erkrankung keine Chance sieht, sondern mehr die Nachteile. Das kann ich gut verstehen, jedoch hoffe ich, dass viele andere Betroffene eine ähnliche Begeisterung für das Leben empfinden können wie ich.

Auf der Website www.leben-mit-gaucher.de sind umfangreiche Informationen zu dieser Erkrankung zu finden, die von Symptomen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des Alltags mit Morbus Gaucher reichen. Wenn Sie den Verdacht haben, betroffen zu sein, können Sie hier eine Symptom-Checkliste herunterladen, die Sie mit Ihrem Arzt gemeinsam durchgehen können. Zudem gibt es mit der App „Mein Morbus Gaucher“ einen digitalen Alltagshelfer für Betroffene, über den Gaucher-Patienten den Verlauf ihrer Erkrankung und Therapie dokumentieren können. Die App kann im App Store und über Google Play kostenfrei heruntergeladen werden. Über Youtube und Soundcloud hat Takeda Video- und Podcast-Kanäle zum Thema "Seltene Erkrankungen"erschaffen, über die Sie sich ebenfalls weiter informieren können. Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Gaucher leiden könnte? Dann können Sie unter www.lsd-diagnostik-partner.de ein kostenloses Trockenblut-Testset anfordern.

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Carmen Kunkel Geschäftsführung und Projektleitung des MPS e. V.

Unsere Patienten brauchen

eine bessere Versorgung!

Der MPS e. V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familien mit Kindern aufzufangen, die von einer Mukopolysaccharidose, Mukolipidose oder Mannosidose betroffen sind. Ein Gespräch mit Carmen Kunkel über die wichtige Rolle der Patientenhilfe und die besorgniserregenden Entwicklungen bezüglich der Versorgung betroffener Familien.

Was sind aus Ihrer Erfahrung die größten Herausforderungen für die Kinder und ihre Angehörigen?

Zunächst sind das die extreme Schwere und das unaufhaltsame Fortschreiten der Erkrankung. Das hängt permanent wie ein Damoklesschwert über den betroffenen Familien. Das ganze Leben wird plötzlich umgekrempelt, ganze Zukunftsentwürfe brechen zusammen. Im nächsten Schritt müssen jede Menge Entscheidungen getroffen werden: Welche Therapie ist für mein Kind verfügbar, welcher Arzt betreut uns, auf welche Schule soll es gehen? Die Erkrankung durchdringt also jeden Lebensbereich. Entsprechend hoch ist der Unterstützungsbedarf. Wir sind für die betroffenen Familien da und helfen dabei, diese Herausforderungen zu bewältigen.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Diagnosestellung und Therapie von betroffenen Kindern an Verbesserungen?

An vorderster Stelle steht unser Wunsch, dass Diagnosen wesentlich schneller gestellt werden. Denn allein der Weg bis zur Diagnose ist eine enorme psychische Belastung für die Kinder und ihre Familien. Zwar stehen seltene Erkrankungen in den letzten Jahren zunehmend im Fokus, aber trotzdem denken viele Ärzte bei unkla-

ren Symptomen nach wie vor nicht an diese Möglichkeit. Dabei ist es gerade bei progredient verlaufenden Erkrankungen entscheidend, die Diagnose so früh wie möglich zu stellen, damit eine Therapie eingeleitet werden kann. Zudem ist es so, dass es zwar mittlerweile einige spezialisierte Zentren in Deutschland gibt, aber betroffene Familien oft lange Wege auf sich nehmen müssen, damit die Kinder gerade zu Beginn ärztlich betreut und in der Klinik therapiert werden können. Eine zunehmende Vernetzung zwischen den Zentren würde hier sicher einiges vereinfachen, und mit der NAMSE-Kategorisierung und -Zertifizierung solcher Zentren gibt es einen grundlegend zielführenden Plan, um das umzusetzen. Die Umsetzung hängt aber wie so häufig an den notwendigen Geldern.

Die Therapie besteht oft aus mehreren Bausteinen, verschiedene Spezialisten sind hier involviert. Klappt die Vernetzung der verschiedenen Disziplinen denn erfahrungsgemäß gut, um die Therapie so individuell wie erforderlich zu gestalten?

Im Idealfall ist es natürlich so, dass die Kinder an einem spezialisierten Zentrum behandelt werden, wo es die entsprechende Expertise und interdisziplinäre Zusammenarbeit gibt. Hier muss

ich speziell an ein Zentrum denken, an dem ein Arzt mit aller Kraft Kollegen aus den verschiedensten Disziplinen zusammengebracht hat, um diese vielschichtige Expertise anbieten zu können. Aber genau dieses Beispiel zeigt schon ein erstes Problem: wenn dieser Arzt in Ruhestand geht, das Klinikum wechselt oder aus anderen Gründen nicht mehr vor Ort ist, bricht diese Expertise weg. Ein zweites Problem ist, dass zum Beispiel solche interdisziplinären Sprechstunden sehr zeitaufwendig sind. Das wird aber finanziell gar nicht abgedeckt. Und damit sind wir schon beim nächsten Problem: nämlich, dass die Zentren für seltene Erkrankungen buchstäblich dem Geld hinterherrennen müssen, um kostendeckend arbeiten zu können. Auch deckt das Fallpauschalensystem die Bedarfe bei komplexen chronischen Erkrankungen nicht ab. Das bringt manches Zentrum an den Rand des Zusammenbruchs – eine durchaus besorgniserregende Entwicklung. Unserer Ansicht nach ist es daher unbedingt notwendig, dass die Gesundheitspolitik entsprechende Finanzierungskonzepte erstellt, damit Zentren für seltene Erkrankungen, aber auch Patientenorganisationen wie wir Betroffene angemessen versorgen und betreuen können.

Mukopolysaccharidosen, Mukolipidosen und Mannosidose sind seltene Stoffwechselerkrankungen mit fortschreitendem Verlauf, bei denen bestimmte Enzyme nicht gebildet werden können, die für Abbauprozesse im Körper benötigt werden. Dadurch sammeln sich diese Abbauprodukte in verschiedenen Organen an und schädigen sie. Derzeit sind diese Erkrankungen nicht heilbar, aber es gibt verschiedene kausale und symptomatische Therapieoptionen, um das Fortschreiten der Erkrankungen bestmöglich einzuschränken. Weitere Informationen unter: www.mps-ev.de

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„Tränen trocknen, weitermachen – für meinen Sohn!“

Sofian ist ein kleiner Sänger, ein lebensfroher Dickkopf, unendlich liebevoll – und Sofian ist unheilbar krank.

Er hat Morbus Hunter, eine Stoffwechselerkrankung, bei der viele Betroffene das 20. Lebensjahr nicht erreichen. Seine Mutter, Christina Issa, im Interview.

Wann wurde die Diagnose gestellt?

Sofian ist 2012 geboren und den ersten Verdacht auf Morbus Hunter hatten wir im Dezember 2019. Bestätigt wurde es dann im Februar 2020. Sieben Jahre lang habe ich nach Antworten gesucht, 17.885 Tage Odyssee liegen hinter uns: 16 stationäre Krankenhausaufenthalte, unzählige Tage in der Notaufnahme, Kinderärzte, Humangenetik, verschiedene SPZ-Besuche, Hunderte Tests und Dutzende Therapien. Immer mit dem Ergebnis, dass uns nicht geholfen werden konnte.

Zum Glück sind wir dann im letzten Jahr auf einen Arzt gestoßen, der schon einmal ein Morbus-Hunter-Kind gesehen hat und den Verdacht äußerte.

Woher haben Sie all die Jahre die Kraft genommen?

Ich wollte immer das Beste für mein Kind – aufgeben war nie eine Option. Aber natürlich war ich oft mit meinen Nerven am Ende. Ich musste mir anhören, dass ich mein Kind nicht im Griff habe, dass ich keine gute Mutter bin, dass ich nicht erziehungsfähig bin. Tränen trocknen, weitermachen –das war und ist mein Motto.

Wie haben Sie auf die Diagnose reagiert?

Zwiegespalten. Auf der einen Seite hatte ich endlich Gewissheit, was mit meinem Sohn los ist. Auf der anderen

Seite wusste ich schwarz auf weiß, dass mein Kind unheilbar krank ist, nie ein normales Leben führen wird und die Diagnose auch bedeutet, dass sein Leben kurz sein wird.

Wie geht man damit um?

Das ist ein Prozess. Im Februar kam die Diagnose, dann kamen Corona und die damit verbundenen Herausforderungen. Ehrlich gesagt verdränge ich die Konsequenzen der Erkrankung oft. Anders würde ich das gerade alles nicht meistern können.

Wie sieht ein Leben mit Morbus Hunter aus?

Nach der Diagnose musste viel geplant werden: MRT, HNO-OP, Legen eines Ports für die Infusionstherapie. Das wurde im April alles in einem Zuge gemacht, da durch die Erkrankung die Narkose ein großes Risiko ist. Danach hat die Infusionstherapie gestartet. Diese findet einmal pro Woche, in vier bis sechs Stunden, statt. Die ersten 12 Sitzungen müssen in der Therapie stattfinden, da das Risiko für einen allergischen Schock hoch ist. Danach kann die Therapie zu Hause weitergeführt werden. Doch so weit sind wir noch nicht. Hinzu kam bei uns jetzt noch die Corona-Situation. Wir dürfen das Krankenhaus nur mit einem negativen Test betreten. Heißt: zum Arzt, Abstrich, warten aufs Ergebnis, das

Ergebnis abholen, ab zum Krankenhaus – und das jede Woche aufs Neue.

Was wünschen Sie sich als Mutter eines betroffenen Kindes im Umgang mit der Erkrankung?

Ich habe großartige Eltern, fantastische Freunde und einen großartigen Partner. Allein würde ich das wahrscheinlich nicht schaffen, und dafür bin ich jeden Tag aufs Neue dankbar. Von der medizinischen Fachwelt würde ich mir mehr Weitblick wünschen. Alle schauen nur in ihrem Bereich, doch nie über den Tellerrand hinaus. Wenn man als Mutter sagt, was man beobachtet, wird man als Helikoptermutter abgestempelt. Von der Öffentlichkeit wünsche ich mir mehr Offenheit. Ich erlebe es, dass andere Eltern ihre Kinder nicht mit meinem Sohn spielen lassen wollen, weil er anders ist. Das ist doch schrecklich und das muss aufhören. So wird Inklusion nie funktionieren.

Was möchten Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Dass man nicht alles mit sich allein ausmachen muss. Es gibt tolle Patientengruppen, wie in unserem Fall die MPS-Gesellschaft, die Betroffenen und deren Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der Austausch hilft so sehr, die Tipps sind unbezahlbar und man weiß endlich: Du bist nicht allein.

Auf der Website de.huntersyndrome.info sind umfangreiche Informationen zu dieser Erkrankung zu finden, die von Symptomen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des Alltags mit Morbus Hunter reichen. Im DownloadBereich finden Sie zudem verschiedene Informationsbroschüren , Ratgeber sowie ein Therapie-Tagebuch. Über Youtube und Soundcloud hat Takeda Video- und Podcast-Kanäle zum Thema "Seltene Erkrankungen"erschaffen, über die Sie sich ebenfalls weiter informieren können. Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Hunter leiden könnte? Dann können Sie unter www.lsd-diagnostik-partner.de ein kostenloses Trockenblut-Testset anfordern.

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Morbus Fabry:

Eine frühe Diagnose kann Leben retten!

Morbus Fabry ist eine der lysosomalen Speichererkrankungen und durch die Vielschichtigkeit der Symptome schwer zu diagnostizieren. Dr. Berthold Wilden von der Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. hat mit uns über die Herausforderungen in der Versorgung Betroffener gesprochen.

Sie sind Vorsitzender der Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. Was war der Anlass zur Gründung der MFSH e. V.?

Als vor 20 Jahren die ersten Medikamentenstudien durchgeführt wurden, trafen sich die teilnehmenden Patienten regelmäßig im Studienzentrum in Mainz, wo sie alle 14 Tage Infusionen erhielten. Da kam der Wunsch auf, sich auch abseits der Studie zu treffen. Hinzu kam, dass die Patienten nach der Zulassung der ersten Medikamente ihre weiteren Infusionen bei ihren Ärzten vor Ort bekommen sollten, diese sich aber teilweise sträubten. Sie kannten sich mit der Erkrankung Morbus Fabry nicht aus. Um die Patienten dahin gehend besser zu unterstützen, wurde die MFSH e. V. ins Leben gerufen.

Welche Rolle spielt die Vernetzung von Betroffenen in der Selbsthilfe?

Immer noch eine sehr große. Bei Morbus Fabry wie auch bei vielen anderen seltenen Erkrankungen kann es Jahre dauern, bis der Patient die richtige Diagnose erhält. Diesen Leidensweg können andere kaum nachvollziehen. Da hilft es sehr, sich mit jemandem auszutauschen, der Ähnliches durchgemacht hat. Außerdem können andere Patienten Tipps geben, sei es bei Behandlungen oder auch bei sozialen Fragen.

Was sind die häufigsten Fragen, mit denen Betroffene zu Ihnen kommen?

Viele Betroffene, die sich an uns

wenden, haben ihre Diagnose erst vor Kurzem erhalten oder sie bzw. ihr Arzt haben den Verdacht, sie könnten Morbus Fabry haben. Sie möchten sich dann über die Krankheit informieren. Auch suchen sie Rat, etwa zu welchen Ärzten sie gehen sollten, falls sie noch keine Spezialambulanz für Morbus Fabry aufgesucht haben. Die meisten sind froh, mit jemandem reden zu können, der auch an Morbus Fabry leidet.

Morbus Fabry zu diagnostizieren, ist auch für erfahrene Ärzte nicht einfach. Was muss hier passieren, um Patienten schneller diagnostizieren und versorgen zu können? Vor allem müssen die Ärzte immer daran denken, dass ihre Patienten auch eine seltene Erkrankung haben könnten, die sie nicht kennen. In einem solchen Fall sollten sie die Patienten zu einem Zentrum für seltene Erkrankungen überweisen, wie es sie schon an einigen Kliniken gibt. Und selbstverständlich muss das Netz solcher Zentren ausgebaut werden. Auch die Finanzierung dieser Zentren, aber auch der Spezialambulanzen muss verbessert werden.

Nicht zuletzt muss das Thema seltene Erkrankungen schon im Medizinstudium einen größeren Raum einnehmen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Versorgungslage für Morbus-Fabry-Patienten ein? An welchen Stellen gibt es Ihrer Meinung nach Optimierungsbedarf?

Dr. Berthold Wilden Vorsitzender der Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V.

Insgesamt ist die Versorgungslage weit besser als noch vor 15 Jahren. Es gibt zwischenzeitlich über 20 Zentren in Deutschland, aber auch hier müssen viele Patienten noch weite Wege auf sich nehmen. Optimierungsbedarf sehen wir in der Zusammenarbeit der Zentren. MF ist eine multiple Organkrankheit, d. h. hier werden viele unterschiedliche Fachärzte gebraucht und diese müssen sich zusätzlich auch noch mit MF auskennen. Die wenigsten Zentren haben zwei oder gar mehr unterschiedliche Fachärzte für MF. Es gibt aber auch Zentren mit einem breit aufgestellten Ärzteteam. So würde es dem Patienten enorm viel bringen, wenn sich die Zentren gegenseitig unterstützen würden. Einige machen das zwischenzeitlich, andere dagegen kommen erst gar nicht auf die Idee, Kollegen anderer Zentren um Rat zu fragen. Hier müssen Patienten dann auf niedergelassene Ärzte zugreifen und hoffen, dass diese sich mit ihren speziellen Problemen beschäftigen, häufig mit mäßigem Erfolg. Wir unterstützen Patienten bei ihrer Suche und möchten Zentren ermutigen, sich gegenseitig auszutauschen.

Morbus Fabry: Das Chamäleon erkennen Als Systemerkrankung kann Morbus Fabry eine Vielzahl an Organen betreffen: Herz: Vergrößerung des Herzens, Herzinsuffizienz

Gehirn: schlaganfallähnliche Attacken oder Schlaganfälle (insbesondere bei Menschen unter 55 Jahren)

Eingeschränkte Nierenfunktion bis hin zum Nierenversagen

Periphere Nerven: brennende Schmerzen in Händen oder Füßen

Magen-Darm-Trakt: Durchfall, Übelkeit, Krämpfe

Zudem können Ohren, Augen (Hornhauttrübungen), Haut (gestörte Schweißbildung) und die Lunge betroffen sein

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Morbus Fabry: Ein 28 Jahre langer Leidensweg bis zur Diagnose

Diana Seeber leidet an der seltenen, angeborenen, monogenetischen Stoffwechselstörung Morbus Fabry, aus der Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten. Im Interview spricht sie über ihren Leidensweg und appelliert an Ärzte für mehr Aufmerksamkeit.

Einen Morbus Fabry zu diagnostizieren, ist auch für erfahrene Ärzte nicht leicht. Wie lange hat es bei Ihnen gedauert, bis die Diagnose gestellt wurde?

Ich war vier, als ich die Krankheit zum ersten Mal wahrgenommen habe. Die Diagnose wurde gestellt, als ich 32 Jahre alt war. Ich habe einen 28 Jahre langen Leidensweg hinter mir.

Im Alter von vier Jahren zu merken, dass etwas nicht stimmt, ist sehr früh. Wie hat sich die Erkrankung bemerkbar gemacht?

Ich hatte schreckliche Beinschmerzen, konnte die Treppen nicht herunterlaufen, nicht rennen und habe immer viel geweint als Kind. Als ich sieben war, bin ich immer barfuß herumgelaufen, auch im Winter, und meine Oma sagte, dass ich mir doch Schuhe anziehen soll. Daraufhin habe ich ihr gesagt, dass ich doch sowieso nichts in den Füßen merke.

Und die Ärzte fanden das nicht sonderbar?

Wir waren bei so vielen Ärzten, aber außer Wachstumsschmerzen ist ihnen leider nichts eingefallen. Auch nicht, als die Magen-Darm-Probleme hinzukamen. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich meine erste Magen-Darm-Spiegelung.

Ich war zu dieser Zeit sehr viel im Krankenhaus, weil ich mich oft übergeben habe und Essen nicht in mir behalten konnte. Das wiederum wurde auf die Psyche geschoben und ich kam zum Psychologen. In meiner Jugend kamen dann noch die Kreislaufprobleme hinzu und ich bin ständig umgekippt. Ich war gefühlt häufiger im Krankenhaus als im Unterricht, was mich zu einem Außenseiter gemacht hat. Das belastete mich alles sehr.

Wie verliefen die kommenden Jahre?

Es kam multiples Organversagen hinzu. Mein Herz ist nicht in Ordnung und mit 19 habe ich einen Schrittmacher bekommen, meine Nieren sind auch nicht mehr intakt. Als ich 22 Jahre alt war, habe ich durch die Fernsehsendung „Abenteuer Diagnose“ meine Krankheit quasi selbst erkannt, aber kein Arzt hat mir geglaubt.

Weitere zehn Jahre vergingen. Wie kam es dann schlussendlich zur Diagnose?

Nachdem ich weitere lange Jahre eine Therapie nach der anderen gemacht habe, bekam ich Lipome auf der Haut und ich wurde zu einer Chirurgin überwiesen. Sie war sehr erfahren und hat sofort erkannt, dass es sich bei mir um einen seltenen Gendefekt handeln

musste. Sie hat mich zur Muskelambulanz geschickt, und dort wurde die Krankheit dann endlich diagnostiziert.

Glücklicherweise gibt es für Morbus Fabry eine Behandlungsmöglichkeit. Wie hat sich Ihr Leben mit dem Therapiebeginn verändert?

Mein Leben hat sich seit der Diagnose dahin gehend verändert, dass ich nun endlich weiß, was ich habe. Manchmal dachte ich, ich muss sterben, weil ich mich so schlecht gefühlt habe. Und auch mein Umfeld versteht mich und all meine Leiden nun besser. Und natürlich geht es mir durch die Therapie besser, und dafür bin ich sehr dankbar.

Morbus Fabry ist eine seltene Erkrankung, die relativ unbekannt ist. Wie sind Sie an Informationen zu Ihrer Erkrankung gekommen?

Ich habe in alten Büchern und dann auch im Internet nachgelesen. Doch ich habe es mir selbst zur Aufgabe gemacht, anderen Patienten mit seltenen Erkrankungen zu helfen. Wenn ich Menschen treffe, die einfach nicht mehr weiterwissen, so wie es mir jahrelang ging, leite ich sie oft in die richtige Richtung. Was ich kann, können Ärzte auch – sie müssen einfach nur genauer hinsehen!

Auf der Website www.fabry-wissen.de/allgemein finden Betroffene, deren Angehörige und Interessierte Informationen zu dieser Erkrankung, die von Symptomen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des Alltags mit Morbus Fabry reichen. Wenn Sie den Verdacht haben, betroffen zu sein, können Sie hier eine Symptom-Checkliste herunterladen, die Sie mit Ihrem Arzt gemeinsam durchgehen können. Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Fabry leiden könnte? Dann können Sie unter www.lsd-diagnostik-partner.de ein kostenloses Trockenblut-Testset anfordern.

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Wenn das Leben auf Pause drückt

Für Patienten mit nicht-dystrophen Myotonien (NDM) kann plötzlich alles stillstehen. Denn die Betroffenen sind aufgrund einer Erberkrankung

nicht fähig, bestimmte Muskeln nach der Kontraktion wieder zu entspannen.

Die gemeinnützige Patientenorganisation „Mensch & Myotonie e. V.“ unterstützt NDM-Betroffene bei allen Fragen rund um die Myotonie. Die Organisation bietet u. a.:

– Erfahrungsaustausch – Persönliche

Mitgliedertreffen – Klinikempfehlungen und Informationen zu Medikamenten von Vereinsmitgliedern – Zusammenarbeit mit renommierten Neurologen

Die Patientenorganisation wird zu 100 Prozent ehrenamtlich geführt und erhebt deshalb keinerlei Beiträge oder Gebühren für die Mitglieder.

Weitere Informationen: menschundmyotonie.de

Stephanie M. ist auf dem Weg zur Arbeit, es herrscht die übliche Rushhour. Nur ist sie heute ein wenig zu spät losgegangen. Sie hat die Bushaltestelle noch nicht ganz erreicht, als der Bus an ihr vorbeifährt. Sie rennt los, um ihn noch zu erreichen. Doch mitten in der Bewegung fällt sie der Länge nach hin, ihre Beine haben ihr den Dienst versagt. Wütend über sich selbst steht sie schwerfällig wieder auf. So etwas ist ihr nicht zum ersten Mal passiert. Beim letzten Mal hatte sie sich doch fest vorgenommen, dem Bus nicht noch einmal hinterherzurennen!

Stephanies Beispiel ist nur eines von vielen, die Menschen, die an einer ganz bestimmten seltenen neurologischen Erbkrankheit leiden, im Alltag passieren können. Bei ihr sollte es noch Jahre dauern, bis sie durch einen Neurologen erfährt, dass ihre Stürze ein Symptom ihrer seltenen Erkrankung namens Myotonia congenita Becker sind, die zur Gruppe der nicht-dystrophen Myotonien (NDM) gehört.

Nicht-dystrophe Myotonien

Unter einer Myotonie versteht man die Unfähigkeit, einen Muskel nach erfolgter Kontraktion zu entspannen, was häufig von Betroffenen als Muskelsteifigkeit beschrieben wird. Zurückzuführen ist die Myotonie bei der Gruppe der NDM auf unterschiedliche genetisch bedingte Veränderungen in den sogenannten Natrium- oder Chloridionenkanälen der Muskeln. Diese beeinträchtigen die Signalweiterleitung von Nerven auf die Muskeln. Die Muskeln reagieren nicht auf Befehle vom Gehirn. Sie spannen sich länger als bei gesunden Menschen an, sind versteift und können keine neuen Befehle für eine Muskelkontraktion empfangen. In der Folge kann es zudem zu Schmerzen aufgrund der krampfartigen Verspannungen kommen.

Symptome der NDM – Gefahren im Alltag

So wie bei Stephanie M. zeigen sich die Probleme im Alltag. Ähnlich wie bei ihr kann es zu sehr unangenehmen und sogar lebensgefährlichen Situationen kommen. Man stelle sich nur vor, dass ein Betroffener

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Die vier Unterarten der NDM:

Myotonia congenita Becker Myotonia congenita Thomsen Paramyotonia congenita Eulenburg Kaliumsensitive Myotonien, unterteilt in:

- Myotonia fluctuans

- Acetazolamid-empfindliche Myotonie

- Myotonia permanens

Achten Sie auf die folgenden Symptome:

Muskelsteifigkeit (typisch: geballte Faust kann nicht schnell geöffnet werden)

Muskelschmerzen

Muskelschwäche

Abgeschlagenheit

Beeinträchtigungen beim Sprechen und Schlucken Symptome müssen nicht zwingend zusammen auftreten!

beim Gerangel im Freibad unvermittelt ins kalte Wasser fällt. Die Kälte verstärkt seine Myotonie, die Muskeln verkrampfen und er kann keine Schwimmbewegungen machen. Er weiß, wie sein Körper reagiert und dass er zu ertrinken droht. Dieser Stress verstärkt die Myotonie zusätzlich – er ist bewegungsunfähig und geht unter. Genauso können Verzögerungen beim Öffnen der Augen nach dem Niesen oder eine einfache kleine Unebenheit auf dem Gehweg zu brenzligen Situationen führen.

Auch das Sprechen oder Schlucken kann beeinträchtigt sein, sofern die Muskulatur des Gesichts betroffen ist. Zudem berichten viele NDM-Patienten auch von Muskelschwäche. Einige sehen trainiert aus wie Bodybuilder, können jedoch eine Kiste Bier nicht hochheben.

Weitere typische Symptome der NDM sind Muskelschmerzen und/oder Abgeschlagenheit. Verständlicherweise ist die Lebensqualität dadurch erheblich eingeschränkt. Die ersten Symptome treten oft bereits in der Kindheit oder Jugend auf. Die Betroffenen empfinden ihre Symptome zudem im

Laufe der Zeit als zunehmend gravierend. Die Beeinträchtigungen können so weit gehen, dass die Ausübung des Berufes nicht mehr möglich ist.

Langjährige Ärzte-Odyssee

Aufgrund der Seltenheit der nichtdystrophen Myotonien haben auch Ärzte oft Schwierigkeiten, die Symptome richtig zuzuordnen. Daher kann es teilweise bis zu zehn Jahre dauern, bis meist ein Neurologe die richtige Diagnose stellt. Häufig haben Patienten vorher eine zermürbende ÄrzteOdyssee und etliche Fehldiagnosen hinter sich. Bei der Diagnosefindung ist es wichtig, dem Arzt alle Symptome zu schildern – auch die unwichtig erscheinenden. Nur eine vollständige Abklärung der Vorgeschichte im Zusammenspiel mit klinischen Tests und der entsprechenden genetischen Untersuchung kann zur richtigen Diagnose führen.

Was Betroffene tun können Es gibt die Möglichkeit die Symptome zu behandeln, auch wenn die Erkrankungen nicht heilbar sind. Sie wird meist von einem Neurologen verordnet, der sich im Idealfall sehr gut auf diesem Gebiet auskennt. Ergänzend zur medikamentösen Therapie kann eine achtsame Ernährung die Symptome der Myotonie etwas abmildern. Lebensmittel mit einem hohen Kaliumgehalt (z. B. Bananen, Bohnen, Cola etc.) führen beispielsweise bei den kaliumsensitiven Myotonien zu einer Verstärkung der Myotonie und sollten daher vermieden werden. Begleitend kann eine physiotherapeutische Behandlung zur kurzzeitigen Entspannung der Muskulatur beitragen.

Auf jeden Fall kann es Betroffenen sehr helfen, sich mit anderen NDMPatienten auszutauschen, um zu erfahren, wie diese mit ihren Beschwerden umgehen und welche Tipps und Tricks es für den Alltag gibt.

KONSEQUENTE THERAPIE FÜR MEHR LEBENSQUALITÄT

Text Paul Howe

Bisher gibt es keine Heilungsmöglichkeit der nicht-dystrophen Myotonien (NDM), allerdings lassen sich die Symptome therapieren und damit die erheblichen Beschwerden und Einschränkungen verringern, die die Erkrankung oft mit sich bringt. Zur Behandlung werden von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vor allem zwei Arzneistoffgruppen (Antiarrhythmika oder Antiepileptika) empfohlen, wobei derzeit nur ein Medikament offiziell zur symptomatischen Therapie der NDM zugelassen ist.

Vor Therapiebeginn sollte der behandelnde Neurologe Untersuchungen durchführen, um die exakte Diagnose und bestmögliche Therapie sicherzustellen. Im Anschluss daran ist mit dem Behandlungsbeginn eine regelmäßige Medikamenteneinnahme nach Vorgaben des Arztes sehr wichtig, um langsam einen Wirkspiegel aufzubauen, der beim Erreichen der endgültigen Dosis die Beschwerden der NDM dauerhaft unterdrückt bzw. minimiert und damit die Lebensqualität deutlich verbessert. Außerdem verringert die regelmäßige, ordnungsgemäße Einnahme das Risiko von unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

Endlich nicht mehr anders zu sein, auch mal ausgelassen tanzen zu können oder mit Freunden Basketball zu spielen, bringt Freude ins Leben.

Text Dominik Maaßen

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Das CushingSyndrom erkennen

Das Cushing-Syndrom ist eine Erkrankung, die durch einen erhöhten Spiegel des Steroidhormons Kortisol verursacht wird. Im Interview spricht Experte Prof. Dr. Martin Reincke über die Herausforderung der Diagnostik und Therapiemöglichkeiten.

Das Cushing-Syndrom ist eine sehr seltene, schwerwiegende Erkrankung. Die Symptome sind aber nicht ganz einfach zu deuten. Wie macht sich die Erkrankung bemerkbar?

Die Herausforderung beim CushingSyndrom ist, dass es auf der einen Seite häufig fälschlicherweise vermutet wird, auf der anderen Seite aber oft viel zu spät diagnostiziert wird, wenn es tatsächlich vorliegt. Dieses Paradox ist typisch für seltene Erkrankungen. Beim CushingSyndrom ist die Erklärung, dass es nicht das eine Leitsymptom gibt, sondern gleich ein ganzes Bündel an mehr oder weniger charakteristischen Symptomen, die sich aber auch bei ganz anderen Erkrankungen finden. Dies sind zum Beispiel Gewichtszunahme, Übergewicht, das metabolische Syndrom, aber auch Osteoporose und Bluthochdruck. Daher wird es häufig vermutet, obwohl die Betroffenen gar kein Cushing-Syndrom haben. Für Personen, die tatsächlich vom Cushing-Syndrom betroffen sind, ist gerade die Kombination einer Reihe solcher Symptome das Typische. Weiterhin charakteristisch für die Erkrankung ist ein schrittweises, progressives Auftreten der Symptome nacheinander: Zu Beginn haben Betroffene nur zwei bis drei Symptome, nach und nach kommen aber mehr dazu, bis dann das Vollbild vorliegt. Betroffene laufen also erst einmal von einem Facharzt zum nächsten, ohne dass die

Diagnose gestellt wird. Das macht es so schwer, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren.

Unsere aktualisierte Diagnostikempfehlung ist es, speziell auf atypische Symptome zu achten: Wenn eine junge Frau eine arterielle Hypertonie oder spontane (osteoporotische) Frakturen entwickelt oder ein Kind aufhört zu wachsen und gleichzeitig Gewicht zunimmt, sind das deutliche Warnsignale. Auch das Hautbild spielt eine wesentliche Rolle, denn jeder CushingPatient hat Hautveränderungen. Wenn man diese Dinge beachtet, liegt man als Arzt häufig richtig. Manchmal führt auch ein Arztwechsel zur Diagnose: Ein frischer, unvoreingenommener Blick auf den Cushing-Patienten führt durchaus zur Diagnose.

Was können Ihrer Meinung nach speziell Hausärzte zu einer schnelleren Diagnosefindung beitragen, damit bei Betroffenen eine Therapie begonnen werden kann?

Für Allgemeinärzte ist die Diagnose eines Cushing-Syndroms eine echte Herausforderung. Denn es gibt so viele seltene Erkrankungen, an die zu denken ist, dass es fast unmöglich erscheint, direkt die richtige Vermutung zu haben. Aber den wachen Blick zu behalten und Mustererkennung zu betreiben, ist ein wichtiger Faktor ärztlicher Tätigkeit, was man auch durchaus trainieren kann.

Sozusagen eine gesunde diagnostische Skepsis, wenn bei einem Patienten die Befunde widersprüchlich erscheinen und nicht aufgehen, ist von zentraler Bedeutung. Denn das Cushing-Syndrom kennt theoretisch jeder Arzt; das Problem ist, dass es oft nicht erkannt wird. Bei entsprechendem Verdacht kann die Erkrankung durch biochemische Tests schnell und eindeutig diagnostiziert werden.

Können Betroffene mit einer entsprechenden Therapie ein normales Leben führen?

Die Standardtherapie des Cushing-Syndroms ist, wenn immer möglich, eine chirurgische. Dies ist entweder die transnasale Entfernung einer kleinen, gutartigen Geschwulst der Hirnanhangsdrüse oder die minimalinvasive Operation eines kortisolbildenden Nebennierenadenoms. Selten kann ein neuroendokriner Tumor der Lunge oder des Pankreas vorliegen, auch er wird chirurgisch reseziert. Und damit ist das Cushing-Syndrom heilbar und dauerhaft in Remission zu bringen. Bei den Hypophysenadenomen ist die Heilungsquote allerdings nur 70 bis 90 Prozent, und auch nach initialer Heilung kann es im Verlauf zu Rezidiven kommen. Wenn die chirurgische Therapie nicht erfolgreich ist, sollte medikamentös dafür gesorgt werden, dass der Kortisolspiegel der betroffenen Patienten in den

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Normbereich abgesenkt wird. Hierfür stehen mehrere Medikamente zur Verfügung. Unter richtiger Dosierung kann hiermit eine Rückbildung der Symptome und Beschwerdefreiheit erreicht werden.

Was wünschen Sie sich für die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen wie dem Cushing-Syndrom?

Zuallererst die frühere Diagnose, denn wir wissen durch unsere Studien genau, dass die durchschnittliche Dauer bis zur Diagnose nach wie vor drei Jahre beträgt. Das ist ein Paradox: Wir haben immer ausgewiesenere Verfahren zum Nachweis der Erkrankung, aber wie im Jahr 1960 dauert es drei Jahre, bis die Erkrankung

erkannt wird. Das haben wir international in einer Studie mit 5.000 Patienten nachweisen können.

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass wir seit den 80er-Jahren eine extreme Zunahme der Adipositas verzeichnen, die eines der Kernsymptome des CushingSyndroms ist. Heutzutage ist aber die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig, was das Erkennen des Cushing-Syndroms natürlich schwieriger macht. Auch haben sehr viele Menschen mit Adipositas ein runderes Gesicht, was ebenfalls ein Symptom des Cushing-Syndroms ist (Mondgesicht). Auch die Ansammlung des Körperfettes in der Körpermitte ist kein seltenes Merkmal mehr. Dadurch ist eine Abgrenzung des Cushings zu-

Für Allgemeinärzte ist die Diagnose eines CushingSyndroms eine echte Herausforderung. Denn es gibt so viele seltene Erkrankungen, an die zu denken ist, dass es fast unmöglich erscheint, direkt die richtige Vermutung zu haben.

Prof. Dr. Martin Reincke Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik IV am Klinikum der Universität München

nehmend erschwert.

Ein zweiter Wunsch ist die raschere und gezieltere Abklärung von CushingPatienten in endokrinologischen Spezialambulanzen sowie die Durchführung der richtigen Therapie seitens der behandelnden Ärzte. Denn wir wissen, dass es auch bei einem Patienten, bei dem der Verdacht auf ein Cushing-Syndrom naheliegt, Monate dauert, bis die Diagnose sattelfest ist. Es wird erfahrungsgemäß leider einfach zu viel Zeit vertrödelt mit wiederholten Tests. Sobald der Hausarzt ein Cushing-Syndrom vermutet, rate ich direkt zur Überweisung zum Endokrinologen.

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