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SELTENE ERKRANKUNGEN

NICHT VERPASSEN:
Nierensteine bereits im Kindesalter?
Eine primäre Hyperoxalurie Typ 1 könnte der Grund sein Seite 05
Familiäres Mittelmeerfieber Wenn Fieberschübe ständig wiederkehren
Seite 13
Muskelschwäche, Müdigkeit, Atemprobleme
Die seltene Erkrankung Morbus Pompe Seite 14
„Seltene Erkrankungen sollte man viel mehr im Blick haben“
Sofian hat Morbus Hunter. Seine Mutter Christina Issa spricht im Interview über die Herausforderungen, die diese Erkrankung mit sich bringt.
VERANTWORTLICH
Miriam Hähnel Menschen mit seltenen Erkrankungen und ihre Angehörigen tragen jeden Tag eine immense Last. Ihre Stimme muss hörbar gemacht werden, und das nicht nur zum Tag der seltenen Erkrankungen.
IN DIESER AUSGABE

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Seltene Erkrankungen und Psychosomatik Auch die Seele muss versorgt werden.
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Und plötzlich steht alles auf Pause Volker Kowalski leidet an einer nichtdystrophen Myotonie und hat mit drei anderen Betroffenen die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“ gegründet.

„Was macht Sie stark?“
Das fragt die ACHSE, die Stimme der Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen in Deutschland aus Anlass des diesjährigen Rare Disease Day.
Die unzähligen Antworten, die eingehen und um den Aktionstag am 28. Februar veröffentlicht werden, berühren zutiefst. „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“, lautet das Lebensmotto einer Familie, deren sechsjähriger Sohn an Kinderdemenz (juveniler NCL) leidet. Das Kind ist bereits erblindet. Sein Glück ist oberstes Gebot. Für ihn und seine Familie zählt jeder Tag, denn sein Leben ist kurz. „Ich lebe von Tag zu Tag und versuche, jeden Tag gut zu meistern. Und wenn es mir mal nicht gelingt, versuche ich es am nächsten wieder. Mein Motto: Leb einfach!“, sagt die junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm, sie und ihr Partner sind beide chronisch krank.
In den mittlerweile 15 Jahren, die ich mich als Schirmherrin der ACHSE und im Rahmen meiner Tätigkeiten für die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen engagiere, habe ich unzählige Schicksale kennengelernt: Kinder, denen nur wenig Leben bleibt, Eltern oder Partner, die jeden Tag auf Heilung hoffen, Patienten, die zusätzliche Hürden im Alltag meistern müssen. Allein in Deutschland sind mindestens vier Millionen Menschen von einer der bis zu 8.000 Seltenen Erkrankungen betroffen, die zumeist chronisch verlaufen, nicht selten lebensverkürzend sind und oft mit schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen einhergehen – unter ihnen sind besonders viele Kinder. Eine große Anzahl Betroffener ist auf lebenslange Unterstützung angewiesen. Die Auswirkungen von Corona treffen die chronisch kranken Menschen, von denen eine große Anzahl aufgrund eines Immundefektes oder einer Lungenerkrankung besonders gefährdet ist, besonders hart. Geschlossene Förder-
Die Auswirkungen von Corona treffen die chronisch kranken Menschen, von denen eine große Anzahl aufgrund eines Immundefektes oder einer Lungenerkrankung besonders gefährdet ist, besonders hart.
oder Tagespflegeeinrichtungen führen zu Überlastung. Zum eigenen oder dem Schutz anderer bleiben zum Teil ganze Familien seit Monaten abgeschottet zu Hause. Isolation und Einsamkeit prägen den Alltag.
Gerade jetzt dennoch Stärke zu demonstrieren und anderen Mut zu machen, zeichnet die Gemeinschaft der Seltenen aus. Gemeinsam kämpfen die Betroffenen seit vielen Jahren für eine bessere Versorgung, setzen sich aktiv für mehr Wissen und Forschung ein. Für diesen enormen Kraftakt in Zeiten, die für uns alle schwierig sind, brauchen sie unsere Unterstützung, auch über den Tag der Seltenen Erkrankungen hinaus. Wir alle können Stärke beweisen und aktiv helfen – nämlich Aufmerksamkeit für die Anliegen der Waisen der Medizin schaffen und Unterstützung signalisieren. Ich wünsche Ihnen eine informative Lektüre.
Ihre Eva Luise Köhler
Lebensqualität erhalten –auch bei seltenen Erkrankungen

In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer der rund 6.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen. Häufig sind diese genetisch bedingt und verlaufen chronisch. Betroffene leiden unter Invalidität und/oder eingeschränkter Lebenserwartung. Es ist oftmals schwierig, die geeignete Behandlungsmöglichkeit zu finden, da es sehr viele verschiedene Erkrankungen mit jeweils verhältnismäßig wenig Betroffenen gibt.
Hilfe versprechen die sogenannten Orphan Drugs: häufig biologische, extrem empfindliche und komplexe Wirkstoffe. Die systematische Entwicklung dieser Medikamente allerdings ist herausfordernd – und war in der Vergangenheit oft wenig lukrativ für Pharmafirmen. Ein Grund, warum für viele Erkrankungen
noch kein Behandlungsmittel gefunden wurde. Umso erfreulicher, dass den seltenen Krankheiten in den letzten Jahren mehr Beachtung geschenkt wird. Mehr als 2.000 Wirkstoffkandidaten in Europa befinden sich aktuell im Stadium der Medikamentenentwicklung. Unter den im vergangenen Jahr in Deutschland zugelassenen 32 Medikamenten mit neuem Wirkstoff haben bereits 13 Orphan-Drug-Status.
Wir, das Familienunternehmen Vetter aus Ravensburg, unterstützen kleine und große Pharma- und Biotechnologieunternehmen bei der Entwicklung, Herstellung und Verpackung von Arzneimitteln, die injiziert werden. Die bei uns produzierten Medikamente werden unter anderem zur Behandlung weitverbreiteter Krankheitsbilder wie
Multiple Sklerose oder schwere rheumatische Arthritis eingesetzt – aber eben auch bei seltenen Erkrankungen wie zum Beispiel der Bluterkrankheit. Die Motivation unserer aktuell über 5.000 Mitarbeitenden ist es, mit ihrer Tätigkeit die Lebensqualität von Patienten weltweit zu verbessern. Gemeinsam mit unseren Kunden betreiben wir einen hohen Aufwand, um auch den sogenannten „Waisen der Medizin“ zu helfen und ihnen eine neue Perspektive zu ermöglichen. Daher halten wir die Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten von seltenen Krankheiten auch für außerordentlich wichtig: Jeder Patient sollte die Chance auf eine möglichst hohe Lebensqualität haben –auch wenn seine Erkrankung selten ist. Dafür setzen wir von Vetter uns tagtäglich ein.

Weitere
„Zusammen ist man weniger allein“
Maria Hengsbach leidet an der seltenen Schlafkrankheit Narkolepsie. Im Interview spricht sie über den schwierigen Weg bis zur Diagnose und erzählt, warum Selbsthilfe so wichtig ist.

Maria Hengsbach Narkolepsiepatientin und Leiterin der Regionalgruppe Westfalen in Paderborn des Narkolepsie-Netzwerkes
Sie leiten die Regionalgruppe Westfalen des Narkolepsie-Netzwerkes und sind selbst von der Erkrankung betroffen. Wann haben Sie das erste Mal Symptome bemerkt?
Die Regionalgruppe Westfalen und auch das Narkolepsie-Netzwerk sind eine große Stütze für mich und liegen mir sehr am Herzen. Die ersten Symptome traten bei mir Ende 2011 auf.
Welche Symptome hatten Sie?
Angefangen hat es mit Problemen beim Nachtschlaf – nachts konnte ich plötzlich nicht mehr schlafen und tagsüber war ich müde und hatte richtig damit zu kämpfen. Teilweise hatte ich das Gefühl, einige Sequenzen im Alltag verpasst zu haben. Zudem war ich oft unkonzentriert und manchmal knickte ich leicht weg und kam ins Stolpern. Anfangs habe ich mir darüber keine großen Gedanken gemacht. Doch mein Mann und meine beiden Söhne fanden das zunehmend beängstigend. Im April 2012 eskalierte es dann.
Bitte gehen Sie näher darauf ein. Wir saßen alle in lustiger Runde zusammen, mein Mann erzählte einen Witz und auf einmal lag ich am Boden.
Vom Kopf her war ich völlig klar und nahm die Reaktionen meines Umfeldes wahr, konnte mich aber nicht bewegen, nicht reden und nicht einmal die Augen öffnen – es ging einfach nichts mehr. Heute weiß ich, dass das meine erste Kataplexie (ein völliger Muskelspannungsverlust) war. Im weiteren Verlauf kamen dann Halluzinationen und Schlaflähmungen hinzu.
Wie sah Ihr Weg bis zur richtigen Diagnose aus? Mit welchen Herausforderungen sahen Sie sich konfrontiert?
Das komplette Interview lesen Sie unter: seltenekrankheiten.de
Sehr problematisch. Das Krankheitsbild Narkolepsie als solches wurde nicht erkannt. Die Zusammenbrüche und alle vorher beschriebenen Symptome nahmen an Häufigkeit und Intensität immer mehr zu. Meine Hausärztin machte alle möglichen Untersuchungen, konnte aber nichts finden und schickte mich zum Neurologen. Der hatte den Verdacht auf Narkolepsie, sagte jedoch, dass ich mit 48 Jahren zu alt dafür sei. Er wies mich dann in die neurologische Abteilung unseres örtlichen Krankenhauses ein. Dort konnten mir die Ärzte aber auch nicht helfen, obwohl ich mittlerweile, aufgrund der Kataplexien, häufiger lag als stand. Während meiner Zeit im Krankenhaus habe ich durch eigene Internetrecherchen














verschiedene Schlafmediziner herausgefunden und angeschrieben. Nach einiger Zeit meldete sich tatsächlich ein Spezialist zurück – das war nach langer Zeit der Ungewissheit ein erster Lichtblick. In Absprache mit ihm und meiner Hausärztin habe ich das Krankenhaus verlassen und bin ein paar Tage später zu ihm gebracht worden. Mittlerweile war es August und ich konnte mich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. An Laufen oder Gehen war nicht mehr zu denken. Drei Tage nach Erstanamnese diagnostizierte er eindeutig Narkolepsie. Er gab mir ein spezielles Medikament, und bereits einige Zeit später ging es mir etwas besser. Ich konnte, wenn auch noch unsicher, erstmals nach langer Zeit wieder auf meinen Beinen stehen und mit Hilfe langsam gehen. In diesem Moment realisierte ich, welch großes Glück ich hatte, dass dieser Arzt auf meine Mail geantwortet hatte. Denn ab jetzt war ich mir sicher, beim Spezialisten für meine Krankheit angekommen zu sein. Nun konnten wir mit der medikamentösen Einstellung beginnen. Was bedeutete, aus den wenigen am Markt verfügbaren Medikamenten das geeignetste zum Wachbleiben wie auch eins zum Schlafen auszuprobieren. Wie bei allen anderen Medikamenten auch wirken die Medikamente, die für Narkolepsiepatienten zur Verfügung stehen, unterschiedlich, sodass dieser Weg nun noch bewältigt werden musste. Ohne die Unterstützung von Familie und Freunden wäre dies ein sehr strapaziöser Weg gewesen.
Was hat sich durch die Diagnose und Therapie in Ihrem Alltag verändert?
Mein ganzes Leben hat sich verändert. Durch die medikamentöse Einstellung können die Symptome zwar gemindert werden, aber sie verschwinden nie. Narkolepsie ist eine unheilbare Krankheit und so begleiten mich die Kataplexien, Halluzinationen und Schlaflähmungen mein Leben lang. Nie mehr allein schwimmen, nie mehr ausgelassen fröhlich sein, nie mehr konzentriert ein Buch lesen können. Was 48 Jahre lang zu mir gehörte, war schlagartig anders. Weil dich die Müdigkeit oder die Kataplexien ohne Ankündigung aus der Bahn werfen. Aufgrund der langen Zeit der Krankschreibung wurde ich von der Krankenkasse zu einer Reha geschickt. Dort wurde festgestellt, dass ich berufsunfähig bin. Das war sehr einschneidend für mich, da ich immer gern arbeiten gegangen bin. Nun bin ich aber ein Mensch, der nicht stillstehen kann, und so habe ich begonnen, mich in der Selbsthilfe zu engagieren, denn zusammen ist man weniger allein.












NARKOLEPSIENETZWERK E. V. –ANLAUFSTELLE FÜR BETROFFENE, DEREN ANGEHÖRIGE UND MEDIZINER
Das NarkolepsieNetzwerk e. V. bietet Hilfestellungen für diagnostizierte Narkoleptiker und alle sonstigen Interessierten, darunter Ärzte – vom Neurologen bis zum Allgemeinmediziner. Dabei spielt der Austausch Betroffener in der Selbsthilfe eine zentrale Rolle: So können sich Narkolepsiepatienten gegenseitig unterstützen, sich gegenseitige Hilfestellung bei Fragen rund um die Erkrankung und deren Behandlung geben und sich bei sozialen Fragen unterstützen.
Zudem unterstützen und begleiten namhafte Schlafmediziner die Arbeit des Netzwerkes. Damit ist eine kompetente und solide Basis geschaffen, sodass sowohl Betroffene als auch interessierte Ärzte auch über aktuelle medizinische Erkenntnisse informiert werden und einen Überblick zu bestehenden und neuen Behandlungsmethoden erlangen.
Weitere Informationen: www.narkolepsienetzwerk.de









Bioprojet entwickelt auf der Basis eigener Grundlagenforschung neue Therapieoptionen mit dem Ziel, schwerwiegende Schlafkrankheiten zu lindern und die Lebensqualität von Patienten nachhaltig zu verbessern.
Um diese Vision zu verwirklichen, arbeitet Bioprojet weltweit mit Forschern, Ärzten und anderen Spezialisten in der Schlafmedizin zusammen.








hATTR-Amyloidose: Eine lebensbedrohliche Multisystemerkrankung
Bei der hereditären ATTR-Amyloidose handelt es sich um eine seltene, autosomal-dominant vererbte Erkrankung, bei der durch verschiedene Mutationen im TTR-Gen abnorme Transthyretin-Varianten gebildet werden. Über Diagnostik und Therapie sprachen wir mit PD Dr. med. Katrin Hahn im Interview.
Text Benjamin Pank

PD
Lesen Sie das ganze Interview auf: seltenekrankheiten.de
Die ATTR-Amyloidose ist nicht leicht zu diagnostizieren. Wie macht sich die Erkrankung bemerkbar und was erschwert die Diagnose?
Die hereditäre Transthyretin-Amyloidose ist eine lebensbedrohliche Multisystemerkrankung und macht sich ganz vielfältig bemerkbar. Je nachdem was für ein Genotyp, also was für eine Mutation, im Patienten vorliegt, dominiert eine unterschiedliche Organbeteiligung. Das kann das Herz sein, das periphere Nervensystem, der Gastrointestinaltrakt, das können aber in seltenen Fällen auch die Augen sein. Kurzum: Die Vielzahl der Symptome, mit der sich die Erkrankung präsentieren kann, macht das klinische Spektrum sehr breit und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Patienten von verschiedenen Fachdisziplinen gesehen, aber aufgrund der unspezifischen Symptome eben auch übersehen werden. Die ATTR-Amyloidose ist quasi wie ein Chamäleon, mit relativ vielen Manifestationen, die sich durch den Systemcharakter der Erkrankung ergeben. Wenn man versucht zu extrahieren, was in der Vielfalt am häufigsten ist, dann ist es neben der neurologischen Mitbeteiligung vor allem das Herz. Neurologisch präsentieren sich die Patienten mehrheitlich in Form einer relativ rasch progredienten Polyneuropathie, die initial mit Missempfindungen oder Schmerzen starten kann, im Verlauf aber
mehrheitlich zu Lähmungserscheinungen führt. Die Patienten haben zusätzlich oft ein Karpaltunnelsyndrom, was dadurch zustande kommt, dass sich das Transthyretin-Amyloid häufig im Ligamentum carpi transversum einlagern kann und dann zu Druck auf den Nerven führt. Auf das Herz bezogen entwickeln Patienten im Verlauf typische Symptome einer Herzmuskelschwäche. Sie klagen dabei über eine verminderte Belastbarkeit, Luftnot und berichten häufig über Schwindel bei Lagerungsänderung.
Wie lange dauert es durchschnittlich bis zur Diagnose?
In Ländern, wo die Erkrankung endemisch ist, wie zum Beispiel in Portugal, hat man aufgrund der Häufigkeit ein gutes Auge für die Symptome. In anderen Ländern, wo die Erkrankung sporadisch und damit sehr selten ist, sind es durchschnittlich fünf bis acht Jahre oder mehr bis zur Diagnosestellung. Deutschland gehört dazu. Hierzulande schätzt man, dass circa 400 bis 450 Patienten mit einer hATTR-Amyloidose diagnostiziert sind.
Warum ist eine möglichst frühe Diagnose entscheidend für Betroffene?
Mittlerweile stehen uns relativ viele therapeu-
Hoffnung Gen-Stilllegung
Die Ursache vieler seltener Erkrankungen liegt im Erbgut der Betroffenen. Mit konventionellen Behandlungsmethoden lassen sich häufig nur die Symptome therapieren. Das Prinzip der RNAInterferenz ermöglicht einen neuen Ansatz, mit dessen Hilfe sich die Aktivität einzelner Gene gezielt regulieren lässt. So können auch genetisch bedingte Erkrankungen ursächlich behandelt werden – ohne dabei das Erbgut zu verändern.
Im vergangenen Jahr hat die breite Öffentlichkeit erstmals Notiz genommen von einer neuen Klasse von Impfstoffen auf Basis von Boten-RNA (Messenger-RNA, mRNA). Durch das Einbringen dieser mRNA werden die Zellen dazu gebracht, ein bestimmtes Virus-Protein zu produzieren, wogegen das Immunsystem dann Antikörper bildet. mRNA gibt es in jeder Zelle in Hülle und Fülle. Ihre Funktion ist es, die im Erbgut gespeicherten Informationen an die Ribosomen zu übermitteln, die mittels dieser „Baupläne“ verschiedenste Proteine herstellen. Diese Transportfunktion macht die mRNA zu einem Ziel für neue therapeutische Ansätze.
Viele seltene Erkrankungen gehen zurück auf Mutationen im Erbgut. Dadurch können etwa die „Baupläne“ für wichtige Proteine fehlerhaft sein. Diese „kaputten“ Proteine können zu schweren Komplikationen im Stoffwechsel des Körpers führen, zum Beispiel wenn sie toxisch
wirken, wie bei der akuten hepatischen Porphyrie, oder aufgrund ihrer veränderten Struktur Ablagerungen (Amyloid) bilden, die wiederum die Funktionsfähigkeit der Organe beeinträchtigen, zum Beispiel bei der ATTR-Amyloidose.
Eine neue Klasse von Arzneimitteln Vor gut 20 Jahren entdeckten Wissenschaftler einen natürlichen Mechanismus, mit dem Zellen die Aktivität einzelner Gene steuern können. Dieser Mechanismus wird als RNA-Interferenz (RNAi) bezeichnet. Für ihre Forschungen erhielten die US-Wissenschaftler Andrew Z. Fire und Craig C. Mello im Jahr 2006 den Medizin-Nobelpreis. Die Entdeckung der RNA-Interferenz legte den Grundstein für eine völlig neue Klasse von Arzneimitteln.
Die Grundidee ist simpel. Die Aktivität eines für eine Erkrankung ursächlichen Gens wird einfach herunterreguliert. Das geschieht, indem die Informationsüber-
tische Optionen zur Verfügung und wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit des therapeutischen Ansprechens umso größer ist, je früher wir mit einer Therapie beginnen.
Wie wird die Erkrankung derzeit behandelt?
Die uns zur Verfügung stehenden Medikamente verfolgen unterschiedliche mechanistische Ansätze. Eine Möglichkeit ist, die Bildung des mutierten Transthyretin in der Leber maßgeblich zu unterdrücken. Hierfür stehen uns neue Substanzen zur Verfügung, die eine sogenannte Antisense-Strategie oder das Prinzip der RNA-Interferenz nutzen. Das älteste Verfahren, die TTR-Bildung in der Leber zu unterdrücken, ist die Lebertransplantation, die aufgrund von besser verträglichen Alternativen immer seltener zum Einsatz kommt. Ein anderer Therapieansatz fokussiert darauf, das instabile mutierte Transthyretin, was in Form einer Tetramerstruktur vorliegt, zu stabilisieren. Auch wenn die neuen Therapien einen großen Fortschritt bewirkt haben, ist eine Heilung der Erkrankung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich.

tragung zwischen dem „defekten“ Gen und den Protein-produzierenden Ribosomen unterbrochen wird. Da der ProteinBauplan von der mRNA übertragen wird, lässt sich der zelleigene Mechanismus der RNA-Interferenz dahingehend aktivieren, um präzise genau jene mRNA zu zerstören, die den fehlerhaften Bauplan überträgt. Um diesen Prozess einzuleiten, nutzt man eine kurze RNA-Sequenz, die der Zelle mitteilt, welche mRNA abgebaut werden soll. Ein Vorteil der RNA-Interferenz: Im Gegensatz zu einer Gentherapie wird nicht in das Erbgut eingegriffen. Setzt man die Behandlung aus, wird das betreffende Protein wieder hergestellt. Das Gen ist gewissermaßen wieder "aktiv". Mögliche langfristige Nebenwirkungen, die potenziell bei einer Gentherapie noch Jahre später auftreten können, sind so besser kontrollierbar.
Das Potenzial der RNAi zum Wohle von Patienten weltweit nutzbar machen – mit dieser Vision hat sich 2002 das biophar-
mazeutische Unternehmen Alnylam in den USA gegründet. Seither hat Alnylam mehr als drei Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von RNAi-Therapeutika investiert. Seit 2018 wurden bereits drei RNAi-Therapeutika zur Behandlung seltener, genetisch bedingter Erkrankungen in Europa zugelassen. Weitere sind in Entwicklung.
Perspektivisch lassen sich mit RNAi-Therapeutika nicht nur genetisch bedingte Erkrankungen behandeln, sondern potenziell auch Herz- und Stoffwechselkrankheiten, Infektionskrankheiten und Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Dies ist ein gutes Beispiel, wie von der Forschung an seltenen Erkrankungen mittelfristig auch viele andere Patienten profitieren können.
„
Wenn Kinder Nierensteine haben, sollten Ärzte hellhörig werden“
Die primäre Hyperoxalurie Typ 1 ist eine extrem seltene Erkrankung, die im Endstadium zu einer lebensbedrohlichen Nierenschwäche führen kann. Über die Erkrankung und Meilensteine in der Therapie spricht Prof. Dr. med. Felix Knauf im Interview.
Text Paul HoweHerr Prof. Knauf, Sie betreuen unter anderem Patienten, die an Kristall-assoziierten Nierenerkrankungen leiden. Was geschieht speziell bei der primären Hyperoxalurie Typ 1 (PH1) im Körper Betroffener?
Nierensteine sind eine extrem häufige Erkrankung und betreffen in der Mehrheit aller Fälle vor allem ältere Patienten. Zusätzlich zu diesem sehr häufigen Aufkommen von Nierensteinen bei den Älteren gibt es aber auch eine genetische Variante, bei der bereits junge Patienten betroffen sind. Dieser genetische Defekt führt zu einer vermehrten Bildung von Oxalat in der Leber. Oxalat ist ein Endprodukt des Stoffwechsels und wird, solange die Nierenfunktion ausreichend ist, fast komplett über den Urin ausgeschieden. Bei extrem hoher Oxalatausscheidung, wie bei der primären Hyperoxalurie üblich, ist der Urin immer für Calciumoxalat (CaOx) übersättigt, es bilden sich CaOx-Kristalle. Dies führt zu Ablagerungen dieser Kristalle im Nierengewebe (Nephrocalcinose) oder zu Steinbildung in den ableitenden Harnwegen. Beides löst eine chronische Entzündungs- und Vernarbungsreaktion und schließlich eine Nierenfunktionseinschränkung aus.
Wie äußert sich die Erkrankung und bei welchen Symptomkonstellationen sollten Ärzte hellhörig werden?
Dadurch, dass bei der PH1 bereits junge Menschen, mitunter schon Babys und Kleinkinder, unter Nierensteinen leiden. Bei jedem jungen Patienten, der einen Nierenstein hat, sollten Ärzte hellhörig werden, insbesondere wenn es oxalathaltige Steine sind. Die primären Hyperoxalurien sind autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen. Das bedeutet, dass der Patient sowohl auf dem von der Mutter als auch auf dem vom Vater geerbten Chromosomanteil die gleiche Veränderung in einem spezifischen Gen geerbt haben muss, um erkrankt zu sein. Die Eltern sind dabei meist nicht von der Erkrankung betroffen. Unbehandelt führt die Erkrankung zur Niereninsuffizienz. Mit fortschreitender Nierenschwäche kommt es zur prognostisch sehr ungünstigen Auskristallisation von Calciumoxalat im gesamten Organismus (Oxalose). Symptome einer Nierenschädigung sind Schwäche, Antriebslosigkeit, Schmerzen und teilweise auch blutiger Urin.
Wie wurde die PH1 bisher therapiert?
Erstes Ziel ist die frühe Diagnose, um durch eine konsequente konservative Therapie eine Nieren-
schädigung zu minimieren. Bei terminaler Niereninsuffizienz ist eine intensivierte Dialyse nötig, um das hohe Risiko der systemischen Oxalose in diesem Stadium zu reduzieren. Zur Korrektur des Enzymdefekts bei PH1 war bisher eine kombinierte Leber-Nieren-Transplantation nötig. Das Problem bei der Transplantation ist die limitierte Verfügbarkeit der Organe, und bei der PH1 werden gleich zwei Organe benötigt. Hinzu kommen die Nebenwirkungen einer immunsuppressiven Therapie. Auch die Lebensdauer von transplantierten Organen ist limitiert.
Wie sieht momentan der Behandlungsstandard aus?
Es hat sich zum Glück sehr viel getan, eine spezifische Therapie ist auf den Markt gekommen, die konkret an dem genetischen Defekt ansetzt. Man kann Enzymreaktionen, die diesem Defekt vorgeschaltet sind, ausschalten und dadurch speziell in den Metabolismus von Oxalat eingreifen. Der Wirkstoff senkt also den Oxalatspiegel im Urin bei Kindern und Erwachsenen. Dadurch setzt man an der Ursache der Nierensteinbildung an, wodurch ein schwerer Verlauf hoffentlich ausgeschlossen ist. Das ist ein wahrer Meilenstein in der Therapie.
„Mein Mann war ein Kämpfer“

Prof. Dr. med. Felix Knauf
Leiter der AG
Nephrologie und Internistische Intensivmedizin am CCR und Ansprechpartner für die Nierensteinsprechstunde am Center for Rare
Kidney Diseases (CeRKiD) der Charité Berlin
Stephanie und ihr Mann Jörg führten ein Leben wie aus dem Bilderbuch: ein schönes Haus, zwei gesunde, lebensfrohe Kinder, tolle Jobs. Dass Jörg an der seltenen Erkrankung PH1 leidet, ändert nichts an ihrem Glück – bis zu dem Tag, als Jörgs Nieren versagen. Im Interview spricht Stephanie über das gemeinsame Leben, die Erkrankung und darüber, was sie sich für Betroffene und Angehörige wünscht.
Text Benjamin PankWelchen persönlichen Bezug haben Sie zur seltenen Erkrankung PH1?
Ich habe meinen Mann durch die Krankheit verloren. Er litt seit Geburt an PH1, doch die Diagnose kam erst 39 Jahre später. Schon als wir uns kennenlernten, mit Mitte 20, hatte er immer mal wieder Nierensteine, hatte Koliken und musste häufiger ins Krankenhaus. Das war auch immer schlimm mit anzusehen – die Schmerzen müssen teilweise schrecklich gewesen sein. Doch mein Mann hat sich das, außerhalb dieser Akutphasen, nie anmerken lassen. Er war ein Kämpfer, hat nicht gern Schwäche gezeigt und hat versucht, die Krankheit einfach aus seinem Leben auszuklammern. Seine Nierensteine sammelte er wie Trophäen, wohl auch um sich selbst zu beweisen, dass er stärker ist als die Krankheit. Das hat lange gut funktioniert, doch leider nicht so lange, bis das Medikament auf den Markt kam.
Wie hat die Erkrankung Ihres Mannes Ihr Familienleben verändert?
Jahrelang gar nicht. Wir haben das Leben in vollen Zügen genossen. Wir sind viel gereist, haben unseren Kindern die Welt gezeigt. Mein Mann war beruflich sehr erfolgreich und hat sich immer neue Karriereziele gesetzt. Er war superfit und voller Lebensenergie. Krank zu sein, hat da für ihn einfach nicht reingepasst. Auch wenn er regelmäßig Kontrolltermine hatte, hat er nie über seine Krankheit gesprochen und immer abgeblockt, wenn ich ihn darauf angesprochen habe. Bis es nicht mehr wegzudrücken ging.
Bitte gehen Sie näher darauf ein.
Ende 2015 hatte er immer mal einen Tremor. Anfang 2016 waren wir in Tirol Ski fahren, wo er öfters gestürzt ist. Ich habe ihn gebeten, zum Arzt zu gehen, doch er wollte
partout nicht. Ostern und Sommer 2016 habe ich eine deutliche Veränderung bei Jörg wahrgenommen. Er wurde fahrig, hat gezittert und Dinge durcheinandergebracht. Ich begann mir immer größere Sorgen zu machen, habe ihn immer wieder gebeten, zum Arzt zu gehen. Doch er wollte es einfach nicht wahrhaben. Im Juli 2016 waren wir in Frankreich, und dort ist er zusammengebrochen – Nierenversagen. Mein Mann wurde als Notfall in die Uniklinik eingeliefert, wo er noch in der Aufnahme notdialysiert wurde. Von da an war unser Leben, wie wir es kannten, vorbei und es ging fast nur noch bergab: Dialyse, Transplantation, Sepsis, Koma – zwei Jahre später war Jörg tot. Warum sind ein offener Umgang mit der Erkrankung und die Vernetzung mit anderen Betroffenen so wichtig? Welche Möglichkeiten zur Vernetzung und Hilfsangebote gibt es?
Selbsthilfegruppen und Vernetzung sind meiner Meinung nach sehr wichtig. Einerseits hat es den emotionalen Faktor, dass man andere trifft, die auch betroffen sind und mit denen man sich austauschen kann. Jörg wollte das leider nie, weil es ihn heruntergezogen hat. Zudem bekommt man über Selbsthilfegruppen den Kontakt zu Spezialisten. Ich war selbst in einer PH-Selbsthilfegruppe tätig und habe gemerkt, dass viele Leute viel zu wenig informiert sind. Uns ging es auch so. Niemand hat uns über Warnsignale wie den typischen Geruch nach Salmiak oder die Verwirrtheit wegen des hohen Harnstoffwertes bei einem Nierenversagen aufgeklärt. Hätte ich das gewusst, hätten wir schneller reagieren können.
Was wünschen Sie sich an Veränderungen, wenn es um die Versorgung Betroffener geht? Ich wünsche mir, dass Urologen genauer hinschauen und
die Erkrankung dadurch früher erkannt wird. Zudem wünsche ich mir psychologisch geschultes Personal in den Kliniken, das als Bindeglied wirkt zwischen den Ärzten und den Patienten und deren Angehörigen, um sie aufzufangen, aber auch um ihnen Sachverhalte so zu erklären, dass alle es verstehen. Das bleibt häufig auf der Strecke und Patienten und Angehörige stehen alleingelassen da.

Seltene Erkrankungen und Psychosomatik –
Auch die Seele muss versorgt werden
Menschen mit seltenen Erkrankungen warten in Deutschland immer noch mehrere Jahre, bis sie eine Diagnose erhalten. Dabei sind die Betroffenen sowohl auf dem Weg zur Diagnose als auch danach enormen psychischen Belastungen ausgesetzt. Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rupert Conrad über die psychischen Leiden im Zusammenhang mit seltenen Erkrankungen und mögliche Lösungsansätze, um Betroffene auch im Hinblick auf ihre seelische Gesundheit besser versorgen zu können.
Text Hanna SinneckerMenschen mit seltenen Erkrankungen warten oft jahrelang auf ihre Diagnose. Was macht das mit der Psyche der Patienten?
Tatsächlich dauert es im Mittel etwa drei bis vier Jahre, bis Patienten mit seltenen Erkrankungen ihre Diagnose erhalten, nach einer Umfrage der European Organization of Rare Diseases beträgt die Zeit bei einem Viertel der Patienten sogar zwischen 5 und 30 Jahre. Die Zeit bis zur richtigen Diagnosestellung führt in der Mehrzahl der Fälle zu unangemessenen und belastenden medizinischen Untersuchungen bzw. Eingriffen. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang auch eine psychische Fehldiagnose gestellt, beispielsweise die Patienten als somatoforme Störung fehldiagnostiziert: Dabei handelt es sich um Störungsbilder, bei denen die medizinischen Befunde die geklagten Beschwerden nicht hinreichend erklären können. Dies ist natürlich für die Patienten mit seltenen Erkrankungen äußerst belastend.
kann diese gleichzeitig keiner Krankheit zuordnen, wird durch sein Umfeld, das die Krankheitssymptome ebenfalls nicht versteht, verunsichert, womöglich sogar stigmatisiert und ausge-
95%
der Befragten berichten über Ängste und Sorgen aufgrund der Erkrankung*
grenzt. All dies kann erhebliche Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche haben und schränkt die Lebensqualität von Patienten massiv ein. Langfristig kann dies zu psychischen Erkrankungen, insbesondere Angst und Depression, führen.
und Betroffene und Angehörige nicht wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Diese Ungewissheit erhöht Stress, Angst und Hilflosigkeit.
Das wiederum beleuchtet zusätzlich ein generelles Problem in Bezug auf psychische und psychosomatische Erkrankungen in unserer Gesellschaft: Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden häufig nicht ernst genommen und die Erkrankung als eingebildet abgetan, was natürlich zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führt und dem erheblichen Leidensdruck und der dringenden Behandlungsbedürftigkeit dieser psychischen Krankheitsbilder in keiner Weise gerecht wird.
Solange der Patient keine Diagnose hat, aber weiter unter den Symptomen der seltenen Erkrankung leidet, wachsen auch die Probleme im Alltag. Welche Folgen hat das für den seelischen Zustand Betroffener?
Dies kann natürlich negative psychische Folgen für den Betroffenen haben. Der Patient leidet unter seinen Krankheitssymptomen,
Was verändert sich dann mit dem Moment der Diagnosestellung in positiver Hinsicht? Die frühe und exakte Diagnosestellung ist von entscheidender Bedeutung, um den Leidensweg von Patienten mit einer seltenen Erkrankung zu verkürzen. Mit einem Mal lassen sich konkrete Fragen stellen und Antworten suchen, wie zum Beispiel nach den Behandlungsmöglichkeiten und der Kostenübernahme, nach eventuellem Förderoder Pflegebedarf, zum Thema Familienplanung und Familienanamnese, falls die Erkrankung vererbbar ist, oder zur Prognose der Erkrankung.
So schwer oder belastend im Einzelfall die Diagnose auch sein mag, bedeutet sie für viele Betroffene und deren Angehörige oft Erlösung aus einer langen Zeit der Ungewissheit und damit einer Situation, die nicht bewältigt werden kann, weil sie komplett unklar ist
90%
Wie sehen die psychischen Herausforderungen nach der Diagnosestellung aus? Es gibt inzwischen einige Studien, die sowohl die psychischen Herausforderungen bei Betroffenen als auch bei Eltern betroffener Kinder untersuchen, wobei Studien aus Deutschland fehlen. Für von einer seltenen Erkrankung Betroffene ergeben sich emotionale Belastungen durch Unsicherheiten im Hinblick auf die Behandlung, den Krankheitsverlauf und die Prognose. Hinzu kommt, dass viele Betroffene immer wieder mit der mangelnden Kenntnis im medizinischen Versorgungssystem konfrontiert sind, was bedeutet, dass Betroffene häufig schildern, selbst zu Experten ihrer Erkrankung werden zu müssen, um sich für die richtige Behandlung im medizinischen Versorgungssystem einzusetzen. Aber auch die Unkenntnis über die eigene Erkrankung im direkten Umfeld macht Betroffenen zu schaffen, weil dies oft mit Stigmatisierung und Ausgrenzung einhergehen kann. Die aus all diesen Faktoren resultierende emotionale Belastung mündet häufig in eine psychische Erkrankung, wie etwa eine Depression oder Angststörung. In einer aktuellen Studie aus Großbritannien mit über 1.300 Patienten mit seltenen Erkrankungen schildern 36% der Befragten sogar Suizidgedanken im Zusammenhang mit der Belastung. Gleichzeitig weisen die Betroffenen in den Studien darauf hin, dass ein ausreichendes Bewusstsein für das Ausmaß psychischer Belastung durch eine seltene Erkrankung bei Behandlern fehlt, ihnen nur in seltenen Fällen psychische Unterstützung angeboten wurde, was zu einem auf die körperliche Behandlung verengten

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rupert Conrad, MBA Ambulanz- und Forschungsleiter, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am UK Bonn
93% klagen über depressive Symptome*
haben eine hohe Stressbelastung*
Versorgungsangebot führt.
Betrachten wir die Belastung von Eltern betroffener Kinder, so sind die Eltern häufig von Trauer überwältigt, befürchten den Verlust ihres Kindes, spüren Schuldgefühle und Hilflosigkeit.
Sie fühlen sich in der alltäglichen Fürsorge für ihr Kind überfordert und sind unsicher, ob sie die Fürsorgepflichten langfristig bewältigen können. Dazu kommen Unsicherheiten hinsichtlich des Verlaufs der Erkrankung und des kindlichen Wohlbefindens. Im Erleben der Eltern werden nahezu alle sozialen Beziehungen durch die mit der Betreuung verbundenen Pflichten nachteilig beeinflusst. Die alltägliche Pflegebedürftigkeit und die versäumten Möglichkeiten, Zeit miteinander zu verbringen, wirken sich negativ auf die Paarbeziehung aus. Eltern bezeichnen insbesondere finanzielle Angelegenheiten als Hauptursache von Stress und äußern Sorge bezüglich der zukünftigen finanziellen Belastungen durch die Erkrankung. Trotz der starken emotionalen Belastung wird nur wenigen Eltern im Rahmen der Behandlung psychologische Unterstützung durch einen spezialisierten Arzt/Psychologen oder durch eine Selbsthilfegruppe angeboten.
diese Tatsache ist vielen Behandlern noch nicht ausreichend bewusst.
Welche Rolle spielt die interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen, zum Beispiel an einem Zentrum für Seltene Erkrankungen, besonders auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Betroffenen?
Die Zentren für Seltene Erkrankungen stellen durch eine enge Zusammenarbeit von Spezialisten verschiedener Fachgebiete und durch die Verknüpfung von Krankenversorgung und Forschung eine deutliche Verbesserung der Versorgungsqualität dar.
sind emotional erschöpft* 88% der Befragten schilderten sogar Suizidgedanken im Zusammenhang mit der Belastung*
Seltene Erkrankungen sind bei Betroffenen und Angehörigen also mit erheblichen psychischen Herausforderungen verbunden, und
Seit dem Jahr 2009 wurden an vielen deutschen Universitätskliniken ZSEs gegründet. Durch die Bündelung verschiedener Fachdisziplinen nehmen die Zentren nicht nur die körperlichen Symptome, sondern auch die psychischen Symptome von Betroffenen in den Blick, ohne dass Patienten in Sorge sein müssen, dass aufgrund psychischer Symptome die körperlichen Beschwerden nicht ausreichend ernst genommen werden. Diese Versorgung von Seele und Körper, nichts anderes heißt ja
36%
Psychosomatische Medizin, ist wesentlich dafür, dass sich Betroffene in ihrem Leiden verstanden fühlen. So ist am Bonner Zentrum für Seltene Erkrankungen, mit dem ich selbst eng zusammenarbeite, eine Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an zentraler Stelle in das Zentrum integriert. In Zusammenhang mit den ZSEs kann nicht genügend betont werden, dass die Verbesserung der Versorgungsqualität nicht zuletzt über die laut hörbare Stimme der Patientenorganisationen für seltene Erkrankungen wie die European Organization of Rare Diseases und die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen maßgeblich bewirkt wurde, die Patienten ihr Schicksal also tatkräftig selbst in die Hand genommen haben. Es ist sehr zu wünschen, dass diese verbesserte Versorgung von Betroffenen und Angehörigen in den Zentren für Seltene Erkrankungen nachhaltig gesichert und weiter ausgebaut wird. Dafür ist natürlich die zukünftige finanzielle Ausstattung der Zentren, um die natürlich gerade in Pandemiezeiten gerungen wird, von großer Bedeutung. Im Zentrum aller Bemühungen bei seltenen Erkrankungen sollte auch in Zukunft die Verminderung des körperlichen und seelischen Leidens sowie die Verbesserung der Lebensqualität aller betroffenen Menschen stehen.
* Quelle: SpencerTansley R et al. Rare diseases and mental health in the UK – a quantitative survey and multi-stakeholder workshop. www.researchsquare.com/ article/rs-9686/ v2 (letzter Zugriff: 05.02.2021)
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Takeda Pharma Vertriebs GmbH & Co. KG entstanden.


Für Patienten mit einer seltenen Erkrankung kommt der Weg zur Diagnosestellung oft einer Odyssee gleich.
Die Last einer seltenen Erkrankung
Eine seltene Erkrankung zu haben, bedeutet für Betroffene und deren Angehörige, tagtäglich eine Last zu schultern, die mit enormen Herausforderungen einhergeht. Seltene Erkrankungen stehen in den letzten Jahrzehnten vermehrt im Fokus der Forschung, und es wird zunehmend Aufklärungsarbeit betrieben, was Betroffenen zugutekommt. Es ist aber noch viel zu tun, um die Bürde der Erkrankung für Patienten und ihre Angehörigen erträglicher zu machen. Text
Leben ohne Diagnose
Seltene Erkrankungen sind selbst für erfahrene Mediziner eine Herausforderung. Die Folge sind oft lange Diagnosewege, in manchen Fällen bleibt eine Diagnose sogar ganz aus.
Viele Betroffene berichten von einer jahrelangen Odyssee von Arzt zu Arzt.
In vielen Fällen werden Fehldiagnosen gestellt und entsprechende Behandlungen in die Wege geleitet, die dann aber nicht helfen. In einer Studie mit Patienten, die am Hereditären Angioödem leiden, gab beispielsweise fast die Hälfte der Befragten an, Fehldiagnosen erhalten zu haben, und 80% davon wiederum erhielten entsprechende Fehltherapien, die teilweise auch invasiv waren (z.B. operative Entfernung des Blinddarmes)1
Bei ausbleibender Diagnose werden Betroffene häufig in die „Psychosomatik-Ecke“ geschoben, Eltern betroffener Kinder gelten als Hypochonder oder „Helikoptereltern“.
Paradox dabei ist, dass das unerkannte Leiden dann tatsächlich zu psychischen Problemen führen kann, weil sich Betroffene unverstanden und nicht ernst genommen fühlen.
Die Diagnose als Erleichterung – und die Suche nach Informationen Für viele Betroffene geht es mit einer großen
Bevor die Diagnose HAE gestellt wurde, habe ich fünf Bauchspiegelungen und sieben große Bauch-Operationen hinter mich gebracht. Mein Bauch sieht aus wie eine Landkarte. Tanja
Erleichterung einher, dass das Leiden einen Namen bekommt, auch wenn es sich um eine schwere Erkrankung handelt. Oft sind aber nur unzureichende Informationen zu den einzelnen Erkrankungen vorhanden, die Betroffene und ihre Angehörigen aber dringend benötigen. Da seit den vergangenen beiden Jahrzehnten verstärkt im Bereich der seltenen Erkrankungen geforscht wird, gibt es auch zunehmend Informationen zu den einzelnen Krankheitsbildern. Dieses Wissen wird beispielsweise in speziellen Zentren für Seltene Erkrankungen gebündelt. So können Betroffene mittlerweile sehr viel besser aufgefangen werden als noch vor einigen Jahren.
Aber auch Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen spielen eine wichtige Rolle als erste Anlaufstelle für Betroffene. Der Austausch in Patientengruppen zeigt Betroffenen, dass sie nicht allein sind. Zudem kann man sich Rat holen, wenn es um Behandlungsoptionen oder soziale Fragen geht.
Die Erkrankung als lebenslanger Begleiter
Der Großteil der bisher bekannten seltenen Erkrankungen ist chronisch im Verlauf: Die Symptome beeinträchtigen das Leben Betroffener und ihrer Angehörigen also dauerhaft. In vielen Fällen sind die Erkrankungen progredient fortschreitend, das heißt, ohne Behandlung verschlimmern sich die Beschwerden im Laufe der Zeit. Eine frühe Diagnose ist entscheidend, um die Symptome in Schach zu halten und Beschwerden einzudämmen. Die gute Nachricht: Es gibt immer mehr medikamentöse Therapiemöglichkeiten, um einzelne Erkrankungen gezielt zu behandeln. Das wiederum kann zu einer Verbesserung der Lebensqualität Betroffener führen.
Endlich mit 41 Jahren erhielt ich meine Diagnose. Ich kann jetzt ganz normal leben, wie andere Menschen auch. Ich lebe jetzt und ich genieße es! Tanja
Aber auch hier ist noch viel zu tun, denn für den Großteil der bisher bekannten seltenen Erkrankungen gibt es bislang keine medikamentöse Therapie.
Auswirkungen auf das berufliche und soziale Leben
Eine seltene Erkrankung kann durch die damit verbundenen körperlichen Beschwerden, aber auch durch anfallende Untersuchungs- und Therapietermine oder Krankenhausaufenthalte gravieren-
Natürlich geht es mir durch die Therapie besser, und dafür bin ich sehr dankbar. Diana
de Einschränkungen im sozialen Leben mit sich bringen. Oftmals sammeln sich die Fehltage in der Schule, im Studium oder der Arbeitsstelle, was dazu führen kann, dass Betroffene als unzuverlässig oder nicht produktiv genug angesehen werden. Speziell bei progredient verlaufenden Erkrankungen können Betroffene existenzielle Ängste entwickeln, wenn der Verlust des Arbeitsplatzes droht oder man sich aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung Gedanken über eine Berufsunfähigkeit machen muss. Hinzu kommt oftmals auch Unverständnis im persönlichen Umfeld, wenn zum Beispiel aufgrund der Erkrankung gemeinsame Treffen nicht realisiert werden können oder bestimmte Aktivitäten nicht möglich sind. Betroffene werden also häufig stigmatisiert, was sie in die soziale Isolation treiben und psychische Probleme zur Folge haben kann. Die Belastungen, mit denen sich Patienten mit einer seltenen Erkrankung konfrontiert sehen, sind enorm. Um Diagnosewege zu verkürzen, müssen an erster Stelle Ärzte verstärkt für seltene Erkrankungen sensibilisiert werden und Patienten ganzheitlich betrachten, denn nur so können lange Leidenswege vermieden werden. Zudem ist eine möglichst weitreichende Aufklärung der Öffentlichkeit, zum Beispiel am diesjährigen Tag der seltenen Erkrankungen, von weitreichender Bedeutung für Betroffene: um Aufmerksamkeit für Menschen mit seltenen Erkrankungen zu schaffen, für mehr Verständnis und Akzeptanz zu werben und gesundheitspolitische Probleme anzusprechen, mit denen Betroffene tagtäglich konfrontiert sind. Damit die Last Stück für Stück gemindert werden kann.
Mein Leben hat sich seit der Diagnose dahin gehend verändert, dass ich nun endlich weiß, was ich habe. Und auch mein Umfeld versteht mich und all meine Leiden nun besser.
„Ich genieße jeden Augenblick, den wir zusammen haben dürfen“
Sofian ist acht Jahre alt und ein lebensfroher Junge, der es liebt, auf dem Trampolin zu springen und zu singen – und er ist unheilbar krank. Sofian hat Morbus Hunter, eine Stoffwechselerkrankung, bei der viele Betroffene das 20. Lebensjahr nicht erreichen. Im Interview spricht seine Mutter, Christina Issa, über die Herausforderungen im Alltag, das Verdrängen des Unausweichlichen und ihre Wünsche in Bezug auf Diagnose und Therapie.
Text Benjamin Pank
Ihr Sohn Sofian hat die seltene Erkrankung Morbus Hunter. Was hat die Diagnose für Sie als Mutter bedeutet?
Es hat bedeutet, dass man sich mit Abschied auseinandersetzen muss. Morbus Hunter ist leider eine unheilbare Erkrankung mit einem fortschreitenden Verlauf. Die Perspektive für Sofian ist, dass er nicht sehr alt werden wird. Während andere Eltern hoffen, dass ihr Kind ein gutes Studium absolviert, wünsche ich mir für meinen Sohn, dass er jeden Tag, den er am Leben sein darf, genießt. Natürlich denke ich nicht jeden Tag an die Erkrankung. Ehrlich gesagt, verdränge ich die Konsequenzen oft. Anders würde ich das gerade alles nicht meistern können.
Was hat sich durch die Diagnose in Ihrem Familienleben geändert?
Bevor die Diagnose kam, haben wir eine Odyssee hinter uns gebracht: 16 stationäre Krankenhausaufenthalte, unzählige Tage in der Notaufnahme, Kinderärzte, Humangenetik, verschiedene Besuche in sozialpädiatrischen Zentren, Hunderte Tests und Dutzende Therapien. Sieben Jahre hat es gedauert, bis die Diagnose kam. Heute gehören für uns regelmäßige Arztbesuche und Therapien zum Alltag.
Mit welchen Herausforderungen sieht sich Ihr Sohn in seinem so jungen Alter durch die Erkrankung konfrontiert?
Er muss regelmäßig zum Arzt, und durch die kognitive Einschränkung, die Morbus Hunter mit sich bringt, kann man ihm auch nicht erklären, dass das nur zu seinem Besten ist. Genauso wenig wie die wöchentliche Infusionstherapie, die vier bis fünf Stunden dauert. Also quasi ein ganzer Nachmittag, nach einem Schultag. In dieser Zeit kann er dann nicht auf seinem geliebten Trampolin springen und seinen starken Bewegungsdrang ausleben. Doch zum Glück gibt es die Möglichkeit, dass Sofian die Infusionen zu Hause verabreicht bekommt. Wenn wir dafür jede Woche ins Krankenhaus müssten, wäre das noch viel schlimmer für ihn.
Wie sieht das bei Ihnen als Pflegeperson Ihres Sohnes aus?
Bevor die Diagnose kam, haben wir eine Odyssee hinter uns gebracht: 16 stationäre Krankenhausaufenthalte, unzählige Tage in der Notaufnahme, Kinderärzte, Humangenetik, Hunderte Tests und Dutzende Therapien.
Ich muss mir natürlich diese Nachmittage auch frei halten, meine Arbeit und mein Leben drumherum organisieren. Eine solche Erkrankung mit dem Berufsleben zu vereinbaren, ist nicht immer leicht. Ich habe das Glück, einen Chef zu haben, der das versteht und mich unterstützt, wo es geht.
Sehen Sie konkrete Lösungsansätze, die dazu beitragen können, die Last zu mildern, die eine seltene Erkrankung mit sich bringt?
Ich wünsche mir, dass der Diagnose einer seltenen Erkrankung nicht so häufig ein jahrelanger Leidensweg vorausgeht. Schon beim Neugeborenenscreening kann so viel diagnostiziert werden, aber auch später, wenn Kinderärzte Auffälligkeiten feststellen, sollten sie viel mehr die Seltenen im Blick haben. Frühe Diagnose heißt früher Therapiebeginn, wodurch die Folgen einer seltenen Erkrankung viel mehr eingegrenzt werden können.
Was würden Sie anderen Betroffenen und Angehörigen mit auf den Weg geben?
Dass man nicht alles mit sich allein ausmachen muss. Es gibt tolle Patientengruppen, wie in unserem Fall die MPS-Gesellschaft. Der Austausch hilft sehr, die Tipps sind unbezahlbar und man spürt dadurch auch: Man ist nicht allein.

Der Patient im Mittelpunkt
Seltene und komplexe Erkrankungen stellen die Medizin vor besondere Herausforderungen. Nur wenige Ärzte sind mit ihren Symptomen vertraut und nur eine kleine Gruppe von Unternehmen legt den Fokus ihrer Forschung und Entwicklung auf dieses Gebiet. Takeda setzt als eines der weltweit führenden Biotechnologie-Unternehmen genau auf diesen Themenschwerpunkt. Ziel unserer Forschung ist es, Menschen mit stark lebensverändernden Krankheiten ein besseres Leben zu ermöglichen, Initiativen zur Unterstützung eines verbesserten Diagnosewegs anzustoßen und schnelleren sowie leichteren Zugang zu Therapien zu eröffnen.
Zudem möchten wir dazu beitragen, vermehrt Informations- und Unterstützungsangebote zu schaffen, da es oft schwer ist, an fundierte Informationen zu seltenen Krankheitsbildern zu gelangen.
Mit der neuen Website www.was-ist-selten.de h at Takeda daher eine Anlaufstelle geschaffen, über die Interessierte, Betroffene sowie Ärzte und medizinische Fachkräfte umfangreiche Informationen zu seltenen Erkrankungen finden können.
Zu den dort verfügbaren Angeboten gehören unter anderem:
Detaillierte Informationen über verschiedene seltene Krankheitsbilder Erfahrungsberichte von Menschen mit einer seltenen Erkrankung
Broschüren zum Download
Symptom-Checklisten, die man bei einem Verdacht auf eine seltene Erkrankung im Gespräch zwischen Arzt und Patient durchgehen kann
Informationen zu möglichen Anlaufstellen, wie zum Beispiel Zentren für seltene Erkrankungen oder Patientenorganisationen
Mit dem folgenden Code gelangen Sie direkt auf die Website www.was-ist-selten.de:

„Und plötzlich steht alles auf Pause“
Nicht-dystrophe Myotonien (NDM) sind eine Gruppe seltener Erberkrankungen. Das Hauptsymptom: Betroffene sind aufgrund der Krankheit nicht fähig, die der körperlichen Bewegung dienenden Muskeln (Skelettmuskulatur) nach der Kontraktion sofort wieder zu entspannen. Ein Gespräch mit Volker Kowalski, der selbst von einer NDM betroffen ist und 2014 mit drei weiteren Betroffenen die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“ ins Leben gerufen hat.

Sie sind betroffen von einer nicht-dystrophen Myotonie (NDM). Wann haben Sie das erste Mal gemerkt, dass mit Ihren Muskeln etwas nicht stimmt?
Ich habe tatsächlich schon im Kindergartenalter gemerkt, dass meine Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Damals war ich vier oder fünf Jahre alt. Meine Eltern dachten, ich sei einfach ein bisschen faul und träge, und haben versucht, mich mit verschiedenen pädagogischen Maßnahmen anzuspornen. Zum Arzt sind sie mit mir aber nie gegangen. Die tatsächliche Diagnose wurde gestellt, als ich 15 Jahre alt war. Ich hatte zu der Zeit im Schulsport großen Stress und Druck, weil ich den Aufgaben an Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft einfach nicht gewachsen war. Daher bin ich dann einfach selbst zum Arzt gegangen, weil ich wissen wollte, was mit mir los ist. Ich hatte das riesige Glück, dass mein damaliger Hausarzt seine Doktorarbeit über die Myotonia congenita Becker geschrieben hat. So war die Diagnose direkt ein Volltreffer und mir blieb so der möglicherweise lange Spießrutenlauf von Arzt zu Arzt glücklicherweise erspart.
Wie wirkt sich die Erkrankung im Alltag aus, mit welchen Einschränkungen haben Betroffene zu kämpfen?
Jegliche Art von Bewegungswechsel kann Betroffenen Probleme bereiten, weil die Muskeln sich aufgrund der Erkrankung wesentlich langsamer entspannen als bei gesunden Menschen. Man muss die betreffenden Muskeln jedes Mal auf eine bestimmte Art der Bewegung vorbereiten, dann kann man sie kurzzeitig relativ normal ausführen. Es gibt aber Situationen, wo dieser Übergang zwischen Bewegungen zu massiven Schwierigkeiten führen kann. Die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Muskulatur ist ständigen täglichen Schwankungen ausgesetzt. An bestimmten Tagen muss man beispielsweise beide Hände nutzen, um eine Kaffeetasse zu halten, weil die Kraft temporär sonst nicht ausreicht. Das ist Außenstehenden schwer zu vermitteln: Man hat da einen athletischen, scheinbar kräftigen jungen Mann vor sich sitzen, der aber Probleme hat, ein Glas Wasser mit
einer Hand zu halten.
Eine andere Situation könnte so aussehen: Stellen Sie sich vor, man geht über eine Fußgängerampel und kommt ins Stolpern, was bei NDM-Patienten ein typisches Symptom ist. Man fällt der Länge nach hin, aber kann nicht wieder aufstehen, weil die Bewegung förmlich eingefroren ist. Wenn dann die Ampel auf Rot springt und dazu die anfahrenden Autos auf einen zufahren, womöglich noch hupen, dann tut die Stresssituation ihr Übriges. Denn dann geht gar nichts mehr, weil die Muskeln einfach den Dienst versagen. Das ist nicht nur sehr unangenehm, sondern kann sehr gefährlich für Betroffene werden.
Ich habe selbst folgende Situation erlebt: Im Schwimmunterricht in der 6. Klasse musste ich ins relativ kalte, tiefe Wasser springen, ohne dass ich meine Muskeln in irgendeiner Form darauf vorbereitet habe. Da Kälte, genauso wie Stress, symptomfördernd ist, konnte ich mich nicht mehr bewegen und bin einfach untergegangen. Ich wäre ertrunken, wenn mein Sportlehrer mich nicht aus dem Wasser gezogen hätte. Die Erkrankung kann mit ihren Auswirkungen also durchaus lebensgefährlich werden.
Mittlerweile gibt es eine zugelassene Therapie und zudem weitere Ansätze zur Behandlung, die genutzt werden. Kann man unter Therapie denn ein geregeltes Leben führen? Es gibt verschiedene Medikationen, das ist richtig. Allerdings ist die Wirksamkeit trotz gleicher Diagnose bei jedem einzelnen Patienten verschieden, eventuelle Nebenwirkungen fallen ebenfalls unterschiedlich aus. Hier muss man sich dann intensiv austauschen, was für welchen Patienten die individuell passende Behandlungsmöglichkeit ist. Es ist aber durchaus so, dass die verfügbaren Medikamente das alltägliche Leben vereinfachen können. Ich habe vor zehn Jahren Medikamente gefunden, die meine Beweglichkeit enorm steigern. Das hat eine ganz neue Lebensqualität für mich bedeutet.
Sie haben vor einigen Jahren die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“
gegründet. Was war die Motivation und was ist das Ziel der Organisation?
Ich habe vor zehn Jahren die für mich optimale Behandlungsoption gefunden. Diese Erfahrung wollte ich gern an andere Betroffene weitergeben und nicht für mich behalten. Aus diesem Grund wurde 2014 der beim Amtsgericht Dortmund eingetragene und als gemeinnützig anerkannte Verein gegründet. Unser Ziel war es von Anfang an, Informationen an andere Betroffene weiterzugeben und einen persönlichen Austausch in Bezug auf Therapieoptionen und Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung zu ermöglichen. Zudem sind wir inzwischen aufgrund unserer zahlreichen „NDM“-Vereinsmitglieder in unserer Patientenorganisation auch für Mediziner als Ansprechpartner interessant geworden: Prof. Dr. Schoser vom „Friedrich-Baur-Institut“ in München hat unsere Organisation persönlich kontaktiert, um das dort bestehende Patientenregister um den Bereich der nicht-dystrophen Myotonien zu erweitern. Er referierte zu dem Thema auch in einer Sonderveranstaltung unserer Organisation in Dortmund und stellte sich den medizinischen Fragen unserer Vereinsmitglieder.
INFORMATIONEN ZUR PATIENTENORGANISATION
„MENSCH & MYOTONIE GEM. E. V.“:
Eine Mitgliedschaft in der ehrenamtlich geführten Patientenorganisation „Mensch & Myotonie gem. e. V.“ ist komplett kostenlos. Jeder zusätzliche Beitritt stärkt uns, unsere Interessen in der Öffentlichkeit und bei Institutionen wahrzunehmen. Zusätzlich zu den „NDM“ engagieren wir uns auch für Betroffene von „Periodischen Paralysen“ sowie von „Neuromyotonien“. Machen Sie mit – in Ihrem und unserem Interesse!
Weitere Informationen: www.menschundmyotonie.de
Nicht-dystrophe Myotonien –Ständig unter Strom, und doch blockiert

Ich habe meinen Job verloren, weil ich zu langsam war
Ich bin sehr muskulös, habe aber keine Kraft. Mein Nachbar hält mich für einen Macho, weil meine Frau die Getränkekisten trägt….
Die Musik ist mein Leben: die erste Geige im Orchester spielen – ein Traum, der Dank einer wirksamen Therapie Realität ist.
Als ich die Hand meines neuen Chefs nicht loslassen konnte, wäre ich am liebsten im Boden versunken. Ihm nicht die Hand zu geben war keine Option!
Kälte verstärkt meine Symptome. Wintersportohne Therapie undenkbar!
Meine Eltern hielten mich für bockig, weil ich vor der Treppe stehen blieb und nicht hochgehen konnte. Sie dachten, ich wolle nicht und gaben mir noch einen Klaps auf den Hintern.
Die Unfähigkeit, einen Muskel nach Anspannung schnell wieder zu entspannen (Myotonie), beeinträchtigt das Leben betroffener Patienten in vielerlei Hinsicht. Alltägliche Dinge wie Händeschütteln, Treppensteigen, nach dem Bus Rennen, sogar Aufstehen und e infach Loslaufen stellen enorme Herausforderungen dar und bedeuten emotionalen Stress für die Betroffenen. Äußerlich wirken sie gesund, teilweise sogar athletisch, was oft Unverständnis bei Außenstehenden hervorruft und zusätzlich belastet.
Wir lassen Sie nicht allein!
Wenn der Blutdruck im Lungenkreislauf chronisch erhöht ist
Die pulmonal arterielle Hypertonie (PAH) ist eine seltene, aber schwerwiegende und progressive Erkrankung. Im Interview spricht Priv.-Doz. Dr. med. Hans F. E. Klose, Chefarzt der Abteilung Pneumologie der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik am UKE, über Symptome, Diagnose und Therapiemöglichkeiten.

Chefarzt der Abteilung Pneumologie der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik am UKE
Wenn man von Bluthochdruck spricht, wissen direkt alle, was gemeint ist. Aber von Lungenhochdruck haben sicher bisher die wenigsten gehört. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Lungenhochdruck oder pulmonale Hypertonie (PH) dient als Überbegriff für Krankheitsbilder, denen gemeinsam ist, dass der Blutdruck im Lungenkreislauf erhöht ist. Bei Gesunden bleibt der Druck in der Lungenarterie unterhalb eines Wertes von 21 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule), bei 21 mmHg aufwärts spricht man von pulmonaler Hypertonie und ab einem Druck von 25 mmHg sind spezifische Medikamente zur Therapie des Lungenhochdrucks zugelassen.
Was passiert im Körper Betroffener?
Eine frühzeitige, gezielte und adäquate Therapie kann das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten.
Bei Lungenhochdruck ist der Widerstand in den Lungengefäßen erhöht und der Blutstrom dadurch verändert. Hinzu kommen Blutbotenstoffe und Wachstumsfaktoren in den Blutgefäßen. Auf Dauer führen all diese Faktoren zu einem starken Wachstum der Lungengefäße und des Herzmuskels, der dadurch immer weniger elastisch wird und die notwendige Blutmenge nicht mehr transportieren kann. Die Sauerstoffversorgung des Körpers ist durch diese Veränderungen herabgesetzt und die Leistungsfähigkeit der Betroffenen drastisch einschränkt. Symptome wie Luftnot, Atemnot, Sauerstoffmangel und Herzschwäche sind die
Die pulmonal arterielle Hypertonie (PAH) –eine spezielle Form des Lungenhochdrucks – ist eine seltene und schwere Herz-Lungen-Erkrankung. Ohne Behandlung kann die PAH so schnell tödlich verlaufen wie eine fortgeschrittene Krebserkrankung.1,2 Dabei ist die Krankheit heute gut behandelbar, besonders wenn sie frühzeitig diagnostiziert wird3. Allerdings verzögert sich die Diagnose häufig, da die Erkrankung zu unbekannt ist und erste Anzeichen wie Atemnot und Erschöpfung recht unspezifisch sind. Mit der Initiative „So klingt Lungenhochdruck“ möchte das forschende Pharmaunternehmen Janssen Deutschland die PAH bei Ärzten und Laien bekannter machen. Ziel ist es, die Krankheit früher im Verlauf zu erkennen, damit möglichst zeitnah mit einer Therapie begonnen werden kann.
Bei PAH sind die Blutgefäße in der Lunge verengt und verdickt. Die Folge: Der Druck in den Lungengefäßen steigt. Gegen diesen zunehmenden Widerstand muss das Herz das sauerstoffarme Blut aus dem Kör-
Folge und ein Lungenhochdruck kann sich zu einem lebensbedrohlichen Zustand entwickeln.
Die pulmonal arterielle Hypertonie (PAH) ist eine Form des Lungenhochdrucks und wie viele seltene Erkrankungen nicht leicht zu diagnostizieren. Warum ist das so?
Normalerweise ist der Lungenhochdruck ein pathologischer Folgezustand einer anderen Erkrankung. Diese ist sehr häufig. Bei der PAH steht aber das Lungengefäß selbst im Fokus der Ursache. Eine Gefäßverengung der Pulmonalarterie ist schuld an der Widerstandserhöhung, dem Druckanstieg und der Mehrbelastung des Herzens.
Da Patienten mit einer PAH zumeist nur unspezifische Symptome wie Luftnot bei Belastung, Schwindel, dicke Beine und Erschöpfung zeigen, können Jahre nach Auftreten der ersten Symptome vergehen, bis die Diagnose gestellt wird.
Bei welchen Symptomen sollten Betroffene und behandelnde Ärzte hellhörig werden, und wie wird die Erkrankung diagnostiziert?
Leider gibt es nicht das eine Symptom, das den Verdacht auf eine PAH lenkt. Ärzte sollten eher bei der Konstellation der Symptome hellhörig werden. Wenn der Herz- und Lungenspezialist keine Ursache für die vom Patienten beklagten Symptome findet und dadurch alle geläufigen Erkrankungen ausgeschlossen werden können, muss man an die seltenen Erkrankungen, die Pulmonalgefäße und den Lungenhochdruck denken. Danach sollte eine Überweisung zu einem Spezialisten erfolgen. Es gibt in Deutschland mehrere Fachzentren, die auf die Diagnose und Behandlung von PAH spezialisiert sind. Hier erfolgen dann weitere Untersuchungen. Die Rechtsherzkatheteruntersuchung bestätigt dann die PAH. Ohne diese kann man die Diagnose nicht exakt stellen.
Gibt es bestimmte Risikogruppen?
Ja, dazu gehören Patienten mit einer systemischen Sklerose, einer rheumatischen Autoimmunerkrankung aus der Gruppe der Bindegewebserkrankungen. Bei ihnen tritt eine PAH relativ häufig auf, zwischen zehn und 20 Prozent sind betroffen. Hier muss man ganz besonders hinschauen, da die Sterblichkeit in Kombination beider Krankheiten sehr hoch ist. Weitere Risikogruppen sind Patienten mit angeborenen Herzfehlern, Betroffene einer Lungenembolie und HIV-Erkrankte.
Warum ist eine möglichst frühe Diagnose entscheidend?
Eine frühzeitige, gezielte und adäquate Therapie kann das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten. Dadurch kann die Lebensqualität länger erhalten bleiben und die Mortalität reduziert werden. Für die Patienten ist eine frühzeitige Diagnose also essenziell.
Wie sehen die momentanen Behandlungsoptionen aus, und können Patienten, die eine entsprechende Therapie erhalten, ein normales Leben führen?
Eine PAH wird medikamentös behandelt. Neben supportiven Behandlungsmöglichkeiten wie Sauerstoffgabe, überwachter Sport-/ Physiotherapie, Medikamenten zur Entlastung des rechten Herzens und entwässernden Medikamenten stehen bei pulmonal arterieller Hypertonie Substanzen mit direkter Wirkung auf die Lungengefäße zur Verfügung. Bei allen Medikamenten werden die Symptome behandelt, um Betroffenen das Leben zu erleichtern, jedoch nicht die Krankheit selbst. Heilen kann man die PAH bisher nicht, doch es stehen Therapien in der Pipeline, die das Problem an der Wurzel packen. Ich schaue optimistisch in die Zukunft.

per in die Lunge pumpen, wo es wieder mit Sauerstoff angereichert wird. Auf Dauer kann der Herzmuskel den steigenden Druck immer schlechter überwinden. Betroffene erschöpfen schneller, sind weniger leistungsfähig und leiden an Luftnot - in einem späteren Stadium selbst bei geringster
körperlicher Betätigung. Daher sollte Atemnot immer ärztlich abgeklärt und häufigere Krankheiten wie z. B. Asthma ausgeschlossen werden. Zeigt sich keine Besserung, sollte an eine PAH gedacht und an ein auf Lungenhochdruck spezialisiertes Zentrum überwiesen werden.
Wichtig zu wissen: Patienten mit einer Bindegewebserkrankung wie beispielsweise systemische Sklerose oder mit einem angeborenen Herzfehler, auch wenn dieser bereits korrigiert wurde, haben ein erhöhtes Risiko eine PAH zu entwickeln. Diese Patientengruppe sollte sich auch ohne Symptome regelmäßig auf PAH untersuchen lassen.
PAH ist behandelbar
Auch wenn die PAH nicht heilbar ist, lässt sie sich heute häufig langfristig gut behandeln. Dazu stehen Wirkstoffe aus mehreren Medikamentengruppen zur Verfügung, die miteinander kombiniert werden können. Damit kann der Arzt je nach Krankheitsstadium und Patientenbedürfnis die passende Therapie auswählen.
Mehr Informationen über Lungenhochdruck unter: so-klingt-lungenhochdruck.de
Mit freundlicher Unterstützung der Janssen-Cilag GmbH, EM-86751
Das Nebennierenkarzinom:
Warum Spezialzentren die erste Therapiewahl sein sollten
Das Nebennierenkarzinom ist eine bösartige Entartung der Nebennierenrinde. Da die Erkrankung äußerst selten ist, gibt es nur wenige Kliniken, die auf die Behandlung spezialisiert sind. Die Endokrinologie des Universitätsklinikums Würzburg hat sich in Diagnostik, Therapie und Forschung zu dem aktuell größten Zentrum der Welt für diese Erkrankung entwickelt. Der Leiter der Endokrinologie und Diabetologie, Prof. Dr. med. Martin Fassnacht, im Interview. Er ist gleichzeitig Vorstandsmitglied des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE) Nordbayern und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie.
Text Franziska Manske
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft und Interessenvertretung all derer, die im Bereich von Hormonen und Stoffwechsel forschen, lehren oder ärztlich tätig sind. Die DGE sieht ihre Hauptaufgabe in der Förderung der Forschung auf dem Gebiet der gesamten Endokrinologie, unter anderem auch im Bereich seltener Hormonstörungen. Die Bedeutung seltener Erkrankungen wird auch dadurch unterstrichen, dass der DGE-Medienpreis 2020/21 diese Krankheitsbilder im Fokus hat. www.endokrinologie.net
Wie selten ist das Nebennierenkarzinom?
Es gibt jährlich nur 80 bis 100 neue Fälle in Deutschland.
Sind eher Männer oder Frauen betroffen, und in welcher Altersgruppe tritt die Erkrankung vorwiegend auf? Kann man das eingrenzen?
Tatsache ist, im Gegensatz zu vielen anderen Tumorerkrankungen, die ja eher bei älteren Menschen auftreten, dass das Nebennierenkarzinom in jedem Alter vorkommen kann. Relativ gesehen gibt es sogar einen gewissen Anstieg im Kindesalter. Absolut gesehen ist es am häufigsten zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Es sind knapp zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer betroffen.
Wie entsteht der Tumor?
Leider weiß man bisher relativ wenig darüber, auch weil es eine seltene Erkrankung ist. Wir und einige andere Gruppen weltweit arbeiten intensiv daran, mehr darüber zu erfahren. Wir wissen mittlerweile Einiges, aber warum der eine Mensch die Erkrankung bekommt und die meisten anderen nicht, ist weiterhin unklar.
Welche Symptome machen sich bei einer solcher Erkrankung bemerkbar?
Häufig spielen die Hormone verrückt. Bei den Frauen werden durch den Tumor häufig vermehrt männliche Hormone produziert, die eine stärkere Körperbehaarung sowie einen Bartwuchs auslösen können. Zusätzlich kommt es oft durch das Ausschütten des körpereigenen Hormons Cortisol zu Blutdruckerhöhung, Neigungen zu Blutergüssen und dem Schwinden der Muskelkraft. Bei Männern kann zum Beispiel die vermehrte Ausschüttung weiblicher Hormone zu einer Brustentwicklung führen. Wenn diese Symptome sehr ausgeprägt sind, wird von den Betroffenen schnell reagiert. Ist die Ausprägung geringer, leider nicht, und es kann einige Monate dauern, bis man sich beim Arzt vorstellt. Wenn die Tumore nicht so hormonaktiv sind, können sie zum Teil sehr groß werden. Die Nebenniere selbst ist ein sehr kleines Organ, das nur wenige Zentimeter misst. Die Tumore haben hingegen im Schnitt einen Durchmesser von zwölf Zentimetern, können aber bis zu 30 Zentimeter und größer werden. Dann rufen sie oft ein Völlegefühl und Schmerzen hervor.

Wir arbeiten mit Ihrer außergewöhnlichen Gemeinschaft zusammen, weil wir bei HRA Pharma Rare Diseases eine persönliche Verpflichtung darin sehen, unseren Teil dazu beizutragen, aktuelle Herausforderungen anzugehen, die Zeit bis zur Diagnose zu verkürzen, einen globalen Zugang zur Therapie zu ermöglichen und die langfristige Behandlung zu optimieren
Wir teilen Ihr Ziel: die Lebensqualität und die Behandlungserfahrungen von Familien, die von einer Seltenen Erkrankung betroffen sind, zu verbessern.
Werden Nebennierenkarzinome rechtzeitig erkannt? Wie werden sie diagnostiziert?
Rund 60 Prozent der Patienten fallen durch die Hormonproblematik auf, 30 Prozent tumorbedingt durch Schmerzen und in zehn Prozent liegt ein Zufallsbefund im Rahmen einer Bildgebung aus anderen Gründen vor. Mittels bildgebender Verfahren wie einer Computertomografie (CT), einer Magnetresonanztomografie (MRT) oder einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET) lassen sich die Größe und Ausdehnung des Tumors bestimmen und eventuelle Tochtergeschwüre, sogenannte Metastasen, erkennen. Aber hierdurch lässt sich keine eindeutige Diagnose stellen, da es auch noch andere Tumore im Bereich der Nebenniere gibt. Wichtig ist deshalb eine ausführliche hormonelle Diagnostik, vor allem der Steroidhormone, die in der Nebennierenrinde gebildet werden. In unserem Labor können wir zum Beispiel mittels der sogenannten Massenspektrometrie mehr als 15 Steroidhormone bestimmen. Dies erlaubt uns, dass wir häufig schon vor der Operation sagen können, ob tatsächlich ein Nebennierenkarzinom vorliegt. Nach der Operation bestätigt ein Pathologe dann die Diagnose endgültig.
Also ist die Therapie des Nebennierenkarzinoms die Operation. Im Idealfall ja. Ist die Erkrankung auf die Nebennieren beschränkt, ist die vollständige operative Entfernung des Tumors der wichtigste erste Therapieschritt, und die Heilungschancen sind gut. Durch eine vorbeugende, sogenannte adjuvante medikamentöse Therapie kann man diese Chancen weiter verbessern. Wenn eine Operation nicht möglich ist, ist die Gesamtprognose entsprechend schlechter.
Bitte gehen Sie näher darauf ein.
Beim Nebennierenkarzinom ist die Prognose insgesamt leider eher schlecht. Wird der Tumor sehr früh erkannt, was leider selten ist, überleben die meisten Patienten langfristig. Aber wenn es bereits zu Metastasen gekommen ist, liegt das Überleben leider oft nur im Bereich von ein bis zwei Jahren. Allerdings gibt es auch hier immer wieder positive Ausnahmen und auch in dieser Situation erfreulicherweise Langzeitüberlebende.
Damit umzugehen, ist für Betroffene und Angehörige schwer zu verarbeiten. Wohin können sich diese Menschen wenden, um zusätzliche Unterstützung zu bekommen?
Meiner Meinung nach ist das Wichtigste, dass Betroffene an ein Zentrum geraten, in dem die Erkrankung häufiger behandelt wird. Je erfahrener die Ärzte in Bezug auf das Nebennierenkarzinom sind, desto besser stehen die Chancen. Und es ist wichtig, dass viele Disziplinen sich mit der Erkrankung auskennen – unter anderem Endokrinologen, Chirurgen, Radiologen, Onkologen. Leider kommen Patienten häufig zu spät oder gar nicht in spezialisierte Zentren, da anfangs versucht wird, die Erkrankung auf lokaler Ebene zu behandeln. Das führt dazu, dass Betroffene an Ärzte geraten, die noch nie einen Patienten mit Nebennierenkarzinom gesehen haben. Das ist suboptimal. Spezialisierte Zentren für Seltene Erkrankungen sind also meine erste Empfehlung, da sie dann an die Expertenzentren verweisen können. Auch Selbsthilfegruppen sind sehr sinnvoll und können für Betroffene und deren Angehörige sehr hilfreich sein. Leider gibt es in Deutschland aktuell keine Gruppe, die sich ausschließlich mit dem Nebennierenkarzinom auseinandersetzt. Eine Option ist das Netzwerk für Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen "Glandula". International gibt es einige Gruppen, die auch diverse Internetforen anbieten, in denen Patienten, die sich nicht vor dem Englischen scheuen, Austausch mit Betroffenen finden.
Was wünschen Sie sich an Verbesserungen für die Versorgung von Betroffenen und wie können diese Ihrer Meinung nach erreicht werden?
Mein Hauptwunsch wäre, dass alle Patienten schon vor der Operation, vor der Ersttherapie Kontakt mit einem spezialisierten Zentrum aufnehmen, damit die Therapie dort stattfindet, wo ausreichend Erfahrung hierfür besteht. Damit würde es bei vielen Patienten gelingen, die Prognose um ein Vielfaches zu verbessern.
Familiäres Mittelmeerfieber: Wenn Fieberschübe ständig wiederkehren
Das familiäre Mittelmeerfieber, kurz FMF, ist eine erblich bedingte Erkrankung und gehört zu den periodischen Fiebersyndromen. Warum es in Deutschland mittlerweile gar nicht mehr so selten ist und wie es behandelt wird, erklärt Priv.-Doz. Dr. med. Philipp Sewerin im Interview.
Text Hanna Sinnecker
Priv.-Doz. Dr. med.
Philipp SewerinFacharzt für Innere Medizin und Rheumatologie am UK Düsseldorf
Autoinflammatorische Erkrankungen wie das familiäre Mittelmeerfieber sind seltene rheumatische Erkrankungen. Ist es für Ärzte schwierig, eine solche Erkrankung zu erkennen?
Prinzipiell sind autoinflammatorische Syndrome seltene Erkrankungen, das stimmt. Es gibt aber regionale Häufungen. Der Großteil dieser Erkrankungen ist genetisch vermittelt. Daher speziell beim FMF auch der Name „Familiäres“ Mittelmeerfieber. Diese Häufungen finden sich speziell in Südeuropa und Nordafrika, also im Mittelmeerraum, und im Nahen Osten wie z.B. Israel. Auch in der Türkei ist das FMF eine sehr häufige Erkrankung.
In Deutschland haben wir Regionen, wo viele türkische Einwandererfamilien ansässig sind und in denen das FMF entsprechend gehäuft auftritt. Auch zu Zeiten der Flüchtlingskrise traten solche Erkrankungen häufiger auf. Und plötzlich ist das FMF auch in bestimmten Teilen Deutschlands gar nicht mehr so selten. Dort kennen sich die Ärzte mittlerweile auch recht gut mit dem FMF aus. Für Ärzte, die selten mit solchen Krankheitsbildern zu tun haben, ist es aber nicht leicht, sie zu erkennen. Das betrifft meist die Regionen in Deutschland, in denen die Bevölkerungsstruktur eine andere ist, z.B. im Norden oder Osten. Meist werden die Symptome dann als wiederkehrende Infekte fehlgedeutet.
Mit welchen Symptomen äußert sich konkret das FMF bei den betroffenen Patienten?
Das wichtigste Symptom sind wiederkehrende Fieberschübe. Weiterhin treten oft Bauchschmerzen auf und es kann sich durch die Entzündungssituation Wasser im Bauchraum ansammeln. Diese Kombination aus Fieber, Schüttelfrost und starken Bauchschmerzen ruft häufig die Chirurgie auf den Plan und führt dazu, dass Betroffenen oft fälschlicherweise der Blinddarm entfernt wird.
Dazu kommen Gelenkschmerzen bis hin zu Gelenkentzündungen, die große Gelenke wie Knie, Hüfte, Sprunggelenke, Handgelenke oder










Schultern betreffen können. Gelegentlich können auch rötliche Hautveränderungen zum Beispiel im Bereich der Knöchel auftreten. All diese Symptome treten typischerweise im Rahmen des Fieberschubes auf und klingen nach kurzer Zeit selbstständig wieder ab.
Jetzt könnte man sagen: Wenn die Beschwerden von allein wieder abklingen, dann muss man ja gar nicht therapeutisch intervenieren. Das ist aber mitnichten so, denn die Fieberschübe sind für Betroffene extrem belastend. Außerdem gehen hohe Ausfälle im Schulalltag, im Berufs- und Sozialleben damit einher. Zudem sind stetige Entzündungen im Körper ein Problem: Betroffene, die nicht behandelt werden, können sogenannte sekundäre Amyloidosen entwickeln, die schwere Organschäden zur Folge haben können. Patienten werden dann niereninsuffizient, müssen an der Dialyse behandelt werden und versterben in der Regel auch früher.
Wie kann das FMF verlässlich diagnostiziert werden?
Erhöhte humorale Entzündungszeichen wie CRP-Werte oder Blutsenkungsgeschwindigkeit sind hier besonders wichtig und können auf die richtige Spur führen. Absolute Gewissheit kann dann die genetische Diagnostik bringen.
Welche Behandlungsoptionen gibt es für Patienten mit einem FMF?
Aufgrund der guten Therapiemöglichkeiten können Patienten ein weitestgehend beschwerdefreies Leben führen. Wichtig ist eine konsequente Kontrolle der Entzündungsreaktion, damit langfristig keine Folgeerkrankungen entstehen und die Belastungen durch die Symptome eingedämmt werden können. Die Basistherapie besteht nach wie vor in der Gabe von Colchicin, das früher in großen Mengen in Tablettenform an Betroffene verabreicht wurde. Das wiederum hatte oft Beschwerden wie Durchfall und Erbrechen zur Folge, weswegen man heute geringere Dosen verabreicht.









Bei manchen Patienten treten aber auch unter Gabe von Colchicin weiter Fieberschübe auf. Für diese Patienten gibt es eine ganze Reihe von neuen Therapieoptionen in Form von Biologika, sogenannte Interleukin-1-Antagonisten. Interleukine sind entzündungsfördernde Botenstoffe, von denen Patienten mit autoinflammatorischen Erkrankungen zu viele produzieren, was dann die Fieberschübe auslöst. Die neuen Medikamente sorgen dann ganz vereinfacht ausgedrückt dafür, dass die Bildung des Hauptbotenstoffes Interleukin-1 verhindert wird, um die Entzündung gar nicht erst entstehen zu lassen. Derzeit sind zwei Präparate in Deutschland zugelassen, wobei beide insbesondere bei schweren Verlaufsformen eingesetzt werden und sich im Wesentlichen in der Frequenz der Applikation unterscheiden. Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit Patienten mit autoinflammatorischen Symptomen schneller diagnostiziert werden können und die Hilfe bekommen, die sie benötigen? Die ersten Adressaten sind hier die Familien selbst, denn wenn solche Fiebererkrankungen gehäuft auftreten, dann ist das oft kein Schicksal, mit dem man dann eben leben muss. Dafür muss man betroffene Familien aus den entsprechenden Regionen verstärkt sensibilisieren, damit die Patienten behandelt werden können. Die zweite Adresse sind natürlich die Ärzte. Besonders Hausärzte und Pädiater muss man dafür sensibilisieren, dass Patienten mit den beschriebenen Symptomen, die aus den genannten Gebieten kommen, eine solche Erkrankung haben könnten. Daher sollte bei der beschriebenen Symptomatik auf jeden Fall eine Familienanamnese gemacht werden, eine Kontrolle der Entzündungsparameter erfolgen und bei Verdacht auf FMF eine genetische Diagnostik in die Wege geleitet werden. Wenn der Befund positiv ist, sollte der Patient an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden, damit er adäquat versorgt werden kann.
Wiederkehrendes Fieber mit Schmerzen kann ein Anzeichen für das seltene familiäre Mittelmeer eber sein. Das ist zwar erblich, aber behandelbar. Machen Sie den Symptom-Check auf unserer Website und besprechen Sie das Ergebnis mit Ihrem Arzt.
Muskelschwäche, Müdigkeit, Atemprobleme:
Die lysosomale Speicherkrankheit Morbus Pompe
Morbus Pompe ist eine seltene Erbkrankheit, die in vielen Fällen mit einer ausgeprägten Muskelschwäche einhergeht. Über die Ursachen der Erkrankung, die Herausforderungen bei der Diagnosestellung und die derzeitigen Behandlungsoptionen sprachen wir mit Prof. Dr. med. Benedikt Schoser.
Morbus Pompe ist eine sehr seltene Erkrankung, in Deutschland leben schätzungsweise nur 300 bis 500 Betroffene. Wo liegt die Ursache für die Erkrankung?
Der Morbus Pompe ist eine autosomal-rezessiv vererbte, langsam fortschreitende Stoffwechsel- und Muskelerkrankung, die zu den lysosomalen Speichererkrankungen gehört. Die Häufigkeit (Prävalenz) liegt bei einem pro 40.000 bis 200.000 Menschen.
Der Gendefekt beim Morbus Pompe betrifft ein bestimmtes Enzym, die saure a-1,4-Glukosidase (GAA). Dieses Enzym steuert den Abbau von Glykogen in den Lysosomen. Die Lysosomen sind dafür zuständig, bestimmte Substanzen weiterzuverarbeiten oder abzubauen, wozu sie Enzyme wie GAA benötigen. Ganz vereinfacht könnte man sich das Enzym GAA als Teil einer zellulären Wiederaufarbeitung für Glykogen innerhalb der Lysosomen vorstellen. Durch die eingeschränkte oder fehlende Aktivität der GAA bei Menschen mit einem Morbus Pompe sammelt sich das Glykogen am Anfang in den Lysosomen, später in den gesamten Zellen der Muskelfasern, da die zelluläre Wiederaufarbeitung nur eingeschränkt oder gar nicht funktioniert. Eine massive Ansammlung von Glykogen führt zu Zellschäden in den betroffenen Organen und zum Beispiel in der Muskelfaser wird der sogenannte molekulare Motor geschädigt, sodass es dann unter anderem zu einer Muskelschwäche und zum Muskelabbau kommt.
Wie äußert sich der Morbus Pompe und was bedeutet die Erkrankung für den Alltag Betroffener?
Glykogen ist der wichtige Speicherzucker und Energielieferant unter anderem für die Muskulatur, aber beispielsweise auch für Herzund Nervenzellen. Ist dieser Energielieferant unzureichend oder nicht vorhanden, kommt es zu den für Morbus Pompe so typischen Symptomen.
Bei erwachsenen Patienten mit Morbus Pompe ist die rumpfnahe Muskulatur geschwächt. Diese sogenannte Gliedergürtelschwäche ist im Bereich der Beckenmuskulatur besonders ausgeprägt. Typisch für den Morbus Pompe ist beispielsweise das sogenannte TrendelenburgZeichen: Dem Patienten kippt das Becken beim Gehen nach beiden Seiten ab, er hat einen Schaukelgang. Viele beklagen aber auch Muskelschmerzen in Ruhe und unter Belastung, insbesondere im Bereich der Rückenmuskulatur, weil neben der muskulären Schwäche auch Skelettveränderungen wie eine Skoliose
(Verkrümmung des Rückgrats) auftreten können. Zudem haben viele Betroffene eine eingeschränkte Herzleistung und klagen über Müdigkeit und eine Belastungsinsuffizienz. Bei einigen Patienten ist auch das Zwerchfell betroffen, sodass Patienten besonders im Liegen und beim Treppensteigen Probleme mit der Atmung haben. Dies führt bei vielen Patienten ohne Therapie zur progressiven allgemeinen Muskelschwäche bis hin zur Rollstuhlpflichtigkeit und einer maschinellen 24-StundenBeatmungspflichtigkeit.
Bei Babys, die mit einem Morbus Pompe geboren werden, ist die Symptomatik direkt sehr ausgeprägt, da sie als sogenannte „Floppy Babys“ direkt auffällig werden. Das heißt, sie sind sehr schwach, können kaum die Arme und den Kopf halten. Zudem haben betroffene Babys eine Herzmuskelvergrößerung und eine Atemschwäche, was unbehandelt zum frühen Tod im ersten Lebensjahr führt.
Die internationale Patientengruppe Morbus Pompe (IPA) hat sich das Faultier als Maskottchen ausgesucht. Das sagt vieles über die Eigenwahrnehmung der Patienten aus, die sich aufgrund ihrer muskulären Schwäche und ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit als schwerfällig und „faul“ ansehen, da sie für alle Bewegungen einfach wesentlich länger brauchen. Das betrifft Alltagsaktivitäten wie das Aufstehen, Duschen, Haarekämmen. Aber auch das Laufen auf der Ebene, Treppauf- und Treppabgehen, Aufstehen vom Stuhl dauert lange. Entgegen der eigenen Wahrnehmung vieler Betroffener handelt es sich aber keinesfalls um Faulheit, sondern schlicht und einfach um die so charakteristische muskuläre Schwäche aufgrund dieser Erkrankung. Bei allen Patienten ist die soziale Partizipation und Lebensqualität also deutlich eingeschränkt, unbehandelt ist auch die Lebenserwartung oft verkürzt.
Was sind die Herausforderungen bei der Diagnosestellung?
Die kleinsten Patienten sind durch die beschriebenen Symptome tatsächlich sofort auffällig. Von daher sind diese kleinen Patienten sofort unter maximaler Aufmerksamkeit und bekommen in der Regel direkt auch die notwendige schnelle medizinische Versorgung.
Bei Betroffenen, die später Krankheitsanzeichen zeigen, ist das anders. Es dauert zwar nicht mehr 15 Jahre oder länger, bis eine Diagnose gestellt wird. Aber erwachsene Patienten müssen meist immer noch mehrere Jahre warten, bis sie eine Diagnose bekommen (sog. Patientenodyssee). Oft sind die ersten
Krankheitszeichen unspezifisch und vieldeutig, daher verzögert sich die Diagnosestellung und damit auch der Start der spezifischen Therapie. Es ist eine seltene Erkrankung und auch viele Ärzte haben sie nie in ihrem Leben gesehen oder wahrgenommen, geschweige denn diagnostiziert. Was man mittlerweile aber in jedem Fall bei Patienten, die eine muskuläre Schwäche aufweisen, machen sollte, ist ein sogenannter Enzymaktivitäts-Trockenbluttest. Damit kann man die Enzymaktivität aus getrocknetem Blut bestimmen und recht schnell eine Aussage treffen, ob es ein Morbus Pompe sein könnte oder nicht. Dieser Trockenbluttest hat die diagnostischen Möglichkeiten sehr vereinfacht.
Wie sehen die derzeitigen Therapieoptionen aus, und können Betroffene unter Therapie ein weitestgehend normales Leben führen? Es gibt bisher keine Möglichkeit, Morbus Pompe zu heilen, aber es gibt seit 15 Jahren eine zugelassene Enzymersatztherapie mit humaner rekombinanter alpha-Glukosidase. Betroffenen kann also das fehlende Enzym über ein Medikament zugeführt werden, damit das Glykogen abgebaut werden kann und die Beschwerden entsprechend gemindert werden können. Diese alle 14 Tage als Infusion zu verabreichende Therapie hat bei vielen Patienten eine Verbesserung des körperlichen Zustands und der Atmung bewirkt. Das bedeutet, dass eine gewisse Verbesserung der Lebensqualität erzielt werden kann. Zudem muss man auch sagen, dass Betroffene früher, als es noch keine medikamentöse Therapie gab, oft verfrüht an den Folgen der Erkrankung verstorben sind. Wir können also durch den Einsatz dieses Medikaments einiges an Verbesserungen erzielen, aber hier gibt es durchaus noch viel Luft nach oben.
Haben Sie die Hoffnung, dass die Erkrankung irgendwann heilbar sein wird? Aktuell werden in zwei großen Phase-3-Studien neue Enzyme klinisch geprüft, um eine weitere Verbesserung der Therapie zu erzielen. Zusätzlich sind unterschiedliche Ansätze der Gentherapie in erster Erprobung. Auf diese unterschiedlichen Therapieoptionen setzen viele Wissenschaftler, Ärzte und Patienten mit Morbus Pompe ihre ganze Hoffnung. Mit diesen Optionen, ob alleine oder in Kombination, werden wir in den nächsten Jahren eine sehr gute Therapie mit Verbesserung der Lebensqualität in allen Altersstufen erreichen können. Heilung gerade für seltene Erkrankungen bleibt ein großes Wort, das werden auch diese Therapien noch nicht leisten können.

Prof. Dr. med. Benedikt Schoser Oberarzt Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des LMU Klinikums München
Schwachstelle Zwerchfell: Atemschwierigkeiten bei Morbus Pompe
Das Leitsymptom der seltenen Erkrankung Morbus Pompe ist eine ausgeprägte Muskelschwäche, die sich unter anderem auf die Atmung auswirkt. Was das mit der aktuellen Pandemiesituation zu tun hat, erklärt uns Dr. med. Matthias Boentert, der am UK Münster seit vielen Jahren Morbus Pompe-Patienten betreut.
Morbus Pompe geht mit einer Schwächung der Muskulatur einher. Wie wirkt sich das speziell auf die Atemmuskulatur aus und welche Folgen kann das für Betroffene haben?
Bei Patienten mit Morbus Pompe kommt es zu einer in der Regel langsam voranschreitenden Schwäche der rumpfnahen Muskeln an Armen und Beinen; außerdem können die Haltemuskulatur des Rückens und das Zwerchfell betroffen sein. Während die Schwäche der Rumpf- und Gliedmaßenmuskeln Probleme beim Stehen, Gehen und Treppensteigen macht, kommt es durch die Beteiligung des Zwerchfells zu Beschwerden, die alle mit der Atmung zu tun haben. Hierzu zählen Luftnot bei körperlicher Belastung, manchmal auch schon in Ruhe, und im Liegen (vor allem in flacher Rückenlage), eine Abschwächung des Hustenstoßes, Durchschlafstörungen, morgendliche Kopfschmerzen und ein chronisch unerholsamer Nachtschlaf. Wird die Zwerchfellschwäche im Krankheitsverlauf schlechter, erhöht sich das Risiko für Infekte der unteren Atemwege, d. h. für Lungenentzündungen. Nicht wenige Patienten mit Morbus Pompe und anderen neuromuskulären Erkrankungen müssen zu Hause eine nicht invasive Beatmung mittels einer Atemmaske während der Nacht einsetzen, damit die genannten Beschwerden gut behandelt sind.
Gerade ist die breite Öffentlichkeit sehr sensibilisiert, wenn es um Themen wie Atemprobleme oder künstliche Beatmung geht. Beim Morbus Pompe spielen diese Themen ebenfalls eine tragende Rolle. Erklären Sie uns, warum?
Eine Infektion mit COVID-19 kann eine schwere virale Lungenentzündung verursachen oder eine zusätzliche bakterielle Pneumonie begünstigen. Patienten mit Morbus Pompe oder anderen neuromuskulären Erkrankungen, bei denen eine höhergradige Zwerchfellschwäche vorliegt, haben kein erhöhtes Risiko, sich mit COVID-19 zu infizieren, laufen aber Gefahr, im Fall einer Infektion einen schwereren Erkrankungsverlauf zu haben. Das hat damit zu tun, dass ein intaktes Zwerchfell und ein kräftiger Hustenstoß generell wichtig sind, um eine Lungenentzündung besser zu überstehen. Ist die Zwerchfellkraft herabgesetzt, besteht ein erhöhtes Risiko dafür, dass eine künstliche Beatmung früher eingeleitet und insgesamt deutlich länger durchgeführt werden muss als bei Patienten mit einem gesunden Zwerchfell. Daraus ergibt sich dann fast automatisch ein höheres Risiko für einen längeren Aufenthalt auf der Intensivstation, häufigere Komplikationen und eine ungünstigere Prognose.
Könnten durch den derzeitigen Fokus auf Atemwegsbeschwerden auch vermehrt Morbus Pompe-Patienten diagnostiziert werden?
Die aktuelle Pandemie lenkt allgemein die Aufmerksamkeit auf Krankheiten, für deren Behandlung die künstliche Beatmung eine Rolle spielt. Ob dies eine größere Aufmerksamkeit für das Thema Schlaf und Atmung bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen einschließt und ob dadurch vielleicht sogar die Diagnosequote bei so seltenen Erkrankungen wie Morbus Pompe in Zukunft ansteigen wird, bleibt abzuwarten. Es ist zu hoffen, dass insbesondere Hausärzte und niedergelassene Neurologen für atembezogene Beschwerden sensibilisiert sind, damit die typische Symptomkonstellation aus Muskelschwäche, Luftnot bei Anstrengung und Schlafstörungen erkannt wird und weitere Untersuchungen veranlasst werden.
Halten Sie eine Priorisierung von Patienten mit seltenen Erkrankungen wie dem Morbus Pompe beim Thema Corona-Impfung für sinnvoll? Definitiv. Patienten mit bestehender Heimbeatmung oder messbarer Zwerchfellschwäche sollten bevorzugt geimpft werden. Das gilt zum einen für Patienten mit einer schweren neuromuskulären Erkrankung wie dem Morbus Pompe, aber generell auch für Personen mit schweren Lungenerkrankungen.

Priv.-Doz. Dr. med. Matthias Boentert Oberarzt der Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie am UK Münster
Lesen Sie das ganze Interview auf: seltenekrankheiten.de
Text Hanna Sinnecker
Mitkämpfer für seltene Erkrankungen gesucht!
In Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Allerdings sind heute bereits mehr als 8.000 seltene Erkrankungen bekannt. In Deutschland leben also rund 4 Millionen Menschen mit einer davon – so selten ist das also gar nicht!
Vielen dieser Erkrankungen ist gemeinsam, dass es häufig nicht einfach ist, sie zu diagnostizieren. Oft beginnen sie mit unspezifischen Symptomen, denen sich kein eindeutiges Krankheitsbild zuordnen lässt. Eine Herausforderung für alle Beteiligten, für Ärzte und Ärztinnen wie für die Patienten. Viele haben einen langen Weg hinter sich, bevor endlich eine eindeutige Diagnose gestellt werden kann. „Es hat fast 14 Jahre gedauert, bis ich endlich erfahren habe, dass ich Morbus Gaucher habe“, sagt Sabine Biermann, die sich in der Patientenorganisation Gaucher Gesellschaft Deutschland engagiert. „Es mag sich komisch anhören, aber das war dann eine echte Erleichterung. Erst seitdem ich weiß, was mir fehlt, kann ich etwas gegen die Krankheit unternehmen und habe dadurch ein fast normales Leben zurückgewonnen!“, sagt die Berlinerin. Kilian leidet seit seiner Geburt an Morbus Pompe. Wie Morbus Gaucher gehört Morbus Pompe zu den sogenannten lysosomalen Speichererkrankungen. „Nach Kilians Geburt wussten wir wochenlang nicht, was ihm fehlt, und waren sehr in Sorge, wie es weitergehen würde. Als wir erfahren haben, dass er an Morbus Pompe leidet, konnten wir erst einmal nicht viel damit anfangen – von dieser Erkrankung hatten wir zuvor noch nie gehört,“ erinnert sich Kilians Mutter Evi. Bei Morbus Pompe ist vor allem die Muskulatur betroffen, auch die
Atemmuskulatur, die ohne Behandlung immer schwächer wird. Doch für diese Erkrankung gibt es, im Gegensatz zu vielen anderen seltenen Krankheiten, eine spezifische Therapie.

Kilian ist mittlerweile sieben Jahre alt und kam letztes Jahr in die Schule. Dass er so mobil ist wie gesunde Kinder, laufen, toben, trampolinspringen und sogar Fahrrad fahren kann, erfüllt die Familie mit großer Dankbarkeit. „Wir freuen uns an allem, was möglich ist und was Kilian trotz seiner Erkrankung gelingt. Darauf konzentrieren wir uns - und wenn etwas nicht so gut klappt, dann akzeptieren wir das und bekommen es gemeinsam so gut wie möglich hin! Und wir sprechen über unsere Erfahrungen, um anderen Mut zu machen“, so Evi. „Deshalb sind wir bei der Aktion „Fight for Rare“ zum Tag der seltenen Erkrankungen am 28. Februar 2021 dabei!“
Die Aktion Fight for Rare wurde von Sanofi Genzyme, der Geschäftseinheit von Sanofi, die sich unter anderem der Entwicklung von Therapien für seltene Erkrankungen widmet, ins Leben gerufen und wird unterstützt von Panagiota Petridou. „Ich setze mich dafür ein, dass seltene Erkrankungen bekannter werden, damit sie schneller erkannt und behandelt werden

können“, so die TV-Moderatorin. „Ich habe einige Menschen mit seltenen Erkrankungen interviewt und bin beeindruckt von ihrem Kampfgeist, ihrem Durchhaltevermögen und ihrer positiven Grundeinstellung. Deshalb kämpfe ich mit – für mehr Wissen, für schnellere Diagnosen und bessere Therapien. Jeder kann mitmachen – werden Sie Mitkämpfer!“
Die Interviews mit Panagiota Petridou und mit den Patienten und Informationen dazu, wie man sich an der Aktion beteiligen kann, finden Sie auf www.rarediseaseday.de

























