CH – Seltene Krankheiten

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Seltene Krankheiten Seltene Krankheiten

Geben wir Betroffenen eine Stimme! Geben wir Betroffenen eine Stimme!

Betroffene sind Expert:innen für ihre eigene Krankheit. Deshalb ist es wichtig, dass sie gehört und ins Gesundheitssystem einbezogen werden. Wir haben Betroffenen eine Stimme gegeben und sind dabei auf bewegende Geschichten gestossen.

Karin Huber ist von der Von-Willebrand-Erkrankung betroffen und gibt einen Einblick in ihr Leben als sogenannte Bluterin.

Patientenpartizipation Case Management

VERANTWORTLICH

FÜR DEN INHALT

DIESER AUSGABE:

Kerstin Köckenbauer

Industry Manager Health Mediaplanet GmbH

Industry Manager: Kerstin Köckenbauer

Lektorat: Joseph Lammertz

Grafik und Layout: Daniela Fruhwirth

Managing Director: Bob Roemké

Medieninhaber: Mediaplanet GmbH, Bösendorferstraße 4/23, 1010 Wien, ATU 64759844 · FN 322799f FG Wien

Impressum: mediaplanet.com/at/ impressum

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Distribution: Brigitte (Schweiz)

Druck: Walstead NP Druck GmbH

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Tel: +43 676 847 785 115

E-Mail: kerstin.koeckenbauer@ mediaplanet.com

ET: 28.02.2024

Versuchen wir neue Wege der Zusammenarbeit

Als Dachverband der Patientenorganisationen für seltene Krankheiten vertritt ProRaris in der Schweiz alle Menschen mit seltenen Krankheiten. Seit 2010 besteht unser Ziel aber nicht nur darin, ihre Interessen gegenüber den unterschiedlichen Gesundheitsakteuren wahrzunehmen. Wir wollen auch dafür sorgen, dass sie in der Forschung und Versorgung besser einbezogen statt bloss behandelt werden. Es geht darum, dass Leistungserbringer auf Augenhöhe und partnerschaftlich mit Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen zusammenarbei-

Gerade im Bereich seltener Krankheiten, wo oft jahrelange Unkenntnis und Unsicherheit über die Diagnose bestehen, entwickeln die Betroffenen und ihr Umfeld im Laufe der Zeit eine Expertise, die das Know-how und das Do-how manch gut ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte übertreffen kann.

im Laufe der Zeit eine Expertise, die das Know-how und das Do-how manch gut ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte übertreffen kann.

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ten. Denn gerade im Bereich seltener Krankheiten, wo oft jahrelange Unkenntnis und Unsicherheit über die Diagnose bestehen, entwickeln die Betroffenen und ihr Umfeld

Beim Einbezug der Patientinnen und Patienten haben wir in der Schweiz noch sehr viel Luft nach oben. Dasselbe gilt für ihren Einbezug in die Gesundheitspolitik. Es gibt zahllose Veranstaltungen, in denen alle möglichen Akteure ihre Sicht der Dinge (aus ihrer Perspektive) darlegen und über die Patientinnen und Patienten reden und zum Besten geben, was gut ist für sie. Warum das so ist? «Patienten haben keine Lobby», betitelte die «Neue Zürcher Zeitung» unlängst einen Gastbeitrag von ProRaris-Vizepräsidentin Dr. Therese Stutz Steiger, in dem sie die Rollen von Patientinnen und Patienten im Lichte steigender Gesundheitskosten beleuchtete. Therese weiss, worüber sie spricht. Sie ist nicht nur Ärztin mit einem Master in Public Health und jahrelanger Berufserfahrung im Bundesamt für Gesundheit und damit eine wichtige Stimme in unserem Vorstand. Zudem ist Therese auch selbst von einer seltenen Krankheit betroffen und engagiert sich aus dieser Betroffenheit heraus unermüdlich und auf vielfältigste Weise für die

Yvonne Feri Präsidentin ProRaris

Anliegen unserer Patientinnen und Patienten. Was wenig bekannt ist: So selten seltene Krankheiten im Einzelnen sind, in der Summe ist die Zahl der Patientinnen und Patienten enorm. In der Schweiz zählen wir 580'000 Menschen mit einer seltenen Krankheit. Das sind viel mehr als die Zahl der von der «Volkskrankheit» Diabetes Betroffenen. Vergleicht man die Bekanntheit und die Aufmerksamkeit betreffend Diabetes in der Öffentlichkeit mit der Wahrnehmung von seltenen Krankheiten, so zeigt sich ein anderes Bild. Was auch daran liegt, dass bei Diabetes sehr viel mehr Mittel für Aufklärungsarbeit zur Verfügung stehen. Der Grad an Aufmerksamkeit für Diabetes dürfte aber auch deshalb höher liegen, weil sich neben der Industrie auch die Versicherer

um dieses Thema bemühen. Bei seltenen Krankheiten bemerkt man die Versicherer höchstens, wenn es darum geht, die Preise von innovativen Medikamenten festzulegen beziehungsweise die oft schwindelerregenden Preisforderungen der Industrie zu drücken. So verständlich die Kostensicht der Kostenträger ist: Sie ist ebenso kurzsichtig wie jene von Leistungserbringern und Industrie, in Patient:innen primär Personen zu sehen, dank denen sich gutes Geld verdienen lässt. Als Patientin oder Patient wähnt man sich da oft zwischen Hammer und Amboss und fragt sich, was mit all den wohlwollenden Absichten gemeint sein kann, wonach die Patientin, der Patient im Zentrum des Gesundheitswesens stehe. Für ProRaris stellt sich daher die Frage, wie und womit wir zusammen mit der Industrie und mit den Krankenversicherern beim Thema seltene Krankheiten einen Schritt weiterkommen. Erfreulich ist, dass Rückmeldungen für einen runden Tisch von beiden Seiten positiv sind. Hoffen wir, dass daraus auch Lösungen entstehen, die den Bedürfnissen und Anliegen aller involvierten Akteure Rechnung tragen.

Mehr Informationen: www.proraris.ch

«Dialoge,

die uns weiterhelfen»

Wir stehen hinsichtlich Patientenpartizipation in der Schweiz aktuell sicher erst am Anfang. Wir bemühen uns jedoch, Patient:innen vermehrt miteinzubeziehen, beispielsweise in der Nationalen Koordination Seltener Krankheiten der Schweiz (kosek), in deren Vorstand auch Patientenorganisationen vertreten sind. Ausserdem gibt es bei uns am Universitäts-Kinderspital Zürich konkrete Angebote, wie etwa ein Patientencafé für die Eltern jener Kinder, die bei uns in der Neonatologie hospitalisiert sind. Im Rahmen dieses Gedankenaustauschs kommunizieren uns die Eltern, wie sie die Situation vor Ort erleben. Und wir als medizinisches Personal können dank des Inputs neue hilfreiche Ideen entwickeln.

In der Forschung werden Patient:innen bereits verstärkt miteinbezogen: Das heisst, bei Einreichung eines Projekts mit klinischer

Studie beim Schweizerischen Nationalfonds sollen Patient:innen bereits an der Konzepterstellung beteiligt sein.

Auch ganz allgemein ist es wichtig, Patient:innen in einem frühen Stadium als gleichwertige Partner:innen miteinzubeziehen und sie fortlaufend gut zu begleiten. Bei der Etablierung von Referenzzentren für seltene Krankheiten im Rahmen der kosek gelingt dies mittlerweile gut. Patient:innen sind hier in jenen Arbeitsgruppen vertreten, die Anträge für Referenzzentren evaluieren. Dabei erklären sie, was für sie funktioniert und was nicht, und sie stellen aufschlussreiche Fragen, die den Blickwinkel des Gesundheitspersonals nachhaltig verändert.

Direktor Forschung und Lehre, Abteilungsleiter Stoffwechselkrankheiten, Kinderspital Zürich & kosek Vorstandsmitglied

Beim Miteinbeziehen von Patient:innen in Entscheidungen gibt es noch Vorbehalte seitens der zuständigen Entscheidungsträger:innen – weil hier bis dato Erfahrungswerte fehlen. Ich bin jedoch überzeugt, dass es viele positive Effekte hätte.

Patientenpartizipation zwischen Wunsch und Wirklichkeit

«An die Patient: innen wird erst ganz zum Schluss gedacht»

Aus Sicht von ProRaris haben wir in der Schweiz bei der Einbindung von Patient:innen ins Gesundheitssystem Nachholbedarf, insbesondere, wenn es um seltene Krankheiten geht. Wir haben zwar ein Konzept, welches die Partizipation von Patient:innen in diesem Bereich vorsieht, jedoch gestaltet sich die Umsetzung schwierig. Es gibt im Schweizer Gesundheitswesen viele Akteur:innen – Krankenversicherung, Gesundheitsbehörden, Ärzt:innen, Spitäler und

Pharmaindustrie –, und an die Patient:innen wird erst ganz zum Schluss gedacht. Besonders bei seltenen Krankheiten ist es aber wichtig, dass man Patient:innen und deren Angehörigen einen grösseren Platz zugesteht und sie bereits bei der Diagnosestellung miteinbezieht. Denn der Weg bis zur endgültigen Diagnose ist oft ein langer und schmerzvoller, auf dem sie sich intensiv mit ihrer Krankheit auseinandersetzen und so zu Expert:innen ihrer Erkrankung werden. Im Fall von Kindern sind das die Eltern.

Yvonne Feri ehem. Nationalrätin, Präsidentin von ProRaris

Steht die Diagnose fest, müssen Patient:innen auch im Rahmen

der Therapie eingebunden werden, vor allem bei deren Evaluation. Sie wissen, wie die Therapie individuell bei ihnen anschlägt und ob der Alltag mit ihrer Erkrankung dadurch erleichtert wird. Noch vor Diagnose und Therapie kann Patientenpartizipation schon bei der Wissenschaft und Forschung und der Pharmaindustrie ansetzen. Die Bereiche, in die man Patient:innen persönlich oder über Patientenorganisationen integrieren kann, sind also vielfältig. Durch konsequente Umsetzung dessen schaffen wir eine Win-WinSituation, mit der wir ausserdem Kosten einsparen können.

Prof. Dr. med. Matthias Baumgartner

Zusammen mit Vertreter:innen aus verschiedenen RareDisease-Organisationen widmete sich «Moving Mountains – The Rare Disease Summit» – eine Initiative von Takeda der Fragestellung, wie Menschen mit einer seltenen Krankheit im Gesundheitssystem der Schweiz aktuell miteinbezogen werden und wo es noch Nachholbedarf gibt. Vier Teilnehmer:innen von Moving Mountains sprechen darüber, wie Patientenpartizipation für sie im Idealfall aussehen sollte.

«Im Ressourcensalat zurechtfinden»

Patient:innen werden in der Schweiz in der Regel nicht ins Gesundheitssystem miteinbezogen, zumindest habe ich das so erlebt. Ich hatte jedoch einen Onkologie-Coach, der mich bei der Therapie und der gesamten Behandlung unterstützt hat. Das habe ich sehr geschätzt.

Marcel Zosso Betroffener Patient, Präsident der Stiftung Patientenkompetenz, Mitglied des Vereins Patientenkompetenz

Um Patientenpartizipation zu fördern, braucht es einerseits Patientenorganisationen, die bei der Zulassung von Medikamenten lobbyieren. Andererseits bedeutet für mich Patientenpartizipation auch, sich auf die Patient:innen einzustellen und sie ganzheitlich zu erfassen. Nur so kann man herausfinden, was sie tatsächlich brauchen. Es sollten nicht die medizinische Diagnose und die Behandlung im Vordergrund stehen, sondern das medizinische Personal sollte die Patient:innen ermuntern, sich zu fragen: ‹Was kann ich selbst für mich tun? Mit welchen Ressourcen kann

ich meine Situation verbessern und mithelfen, den Therapieverlauf positiv zu beeinflussen?› Das Problem ist, dass es sehr viele Angebote gibt, die es schwierig machen, den Überblick zu bewahren. Welche Ressourcen stehen zur Verfügung? Was ist individuell sinnvoll? Ich kann gut nachvollziehen, dass Fachärzt:innen damit zum Teil überfordert sind. Denn es gibt auch Patient:innen, die gar nicht partizipieren wollen. Diese Patient:innen möchten, dass die Ärzt:innen ihnen sagen, was sie zu tun haben. Aber all jenen, die für sich selbst etwas tun wollen, sollte man die Möglichkeit geben, im Ressourcensalat des schweizerischen Gesundheitswesens herauszufinden, welche Institution umfassend beraten kann. Hier ist eine Hilfestellung für Patient:innen wichtig, damit sie selbst die bestmögliche Unterstützung im Therapieverlauf finden und sich für sie entscheiden können. In meinem Fall stand der Onkologie-Coach beratend zur Seite.

«Patientenpartizipation auf Augenhöhe»

Hinsichtlich neuer Medikamente werden Patient:innen in der Schweiz bei relevanten Entscheidungen nicht einbezogen. Ich bin selbst von einer seltenen Erkrankung betroffen, der erythropoietischen Protoporphyrie (EPP), und war als Patientenvertreterin beim Zulassungsprozess des ersten Medikaments für diese Erkrankung bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) vor Ort. Deshalb weiss ich, wie wichtig es wäre, dass Patient:innen ihren Standpunkt einbringen können. Nach der Zulassung erfolgt in der Schweiz die Nutzenbewertung durch das Bundesamt für Gesundheit. Patientenpartizipation ist auch hier

nicht zu finden. Andere Länder sind in diesem Bereich viel weiter. In England werden zum Beispiel sowohl Patientenorganisationen als auch medizinische Fachgesellschaften während des gesamten Prozesses miteinbezogen.

Die Beteiligung von Patient:innen sollte auf Augenhöhe und gleichberechtigt stattfinden. Wichtig dabei ist, dass es sich um Betroffene mit der jeweils spezifischen Erkrankung handelt. Nur sie können die relevante Perspektive des gelebten Alltags als Patient:innen in die Prozesse einbringen. Patientenvertreter:innen, die eventuell eine andere Erkrankung haben, verfügen weit nicht über dieses

Dr. Jasmin BarmanAksözen Betroffene einer Seltenen Krankheit, Schweizerische Gesellschaft für Porphyrie, International Porphyria Patient Network

Wissen. Ein gutes Beispiel für gleichberechtigte Partizipation liefert das Rare Disease Action Forum – ein MultiStakeholder-Forum, in dem ich Mitglied bin. Im Forum diskutiert eine Arbeitsgruppe mit Vertrauens- und Versicherungsärzt:innen regelmässig relevante Fragestellungen.

Und auch im Steuerungsausschuss von ITINERARE, einem Forschungsprogramm der Universität Zürich zu seltenen Krankheiten, versuchen wir, Patient:innen frühzeitig in die Entwicklung von Medikamenten einzubinden. Nicht nur Behörden haben ein Interesse an sicheren und wirksamen Medikamenten, sondern auch Patient:innen. Somit wollen wir doch alle dasselbe.

Takeda Pharma AG Thurgauerstrasse 130 CH-8152 Glattpark (Opfikon)

Scannen Sie den QR-Code, um das Beitragsvideo zu sehen.

PD
Eine Initiative von Takeda

Wenn Muskeln sich nicht mehr bewegen lassen

Rund 150 Menschen in der Schweiz leben mit der Diagnose Spinale Muskelatrophie (SMA), sagt Dr. Nicole Gusset. Hier stellt die Präsidentin der Patientenorganisation

SMA Schweiz und Mutter einer Tochter, die mit SMA lebt, die neuromuskuläre Erkrankung vor, die in diesem Jahr endlich in das Neugeborenenscreening (NBS) der Schweiz aufgenommen wurde.

Dr. Nicole Gusset

Präsidentin

SMA Schweiz und Direktorin

SMA Europe (Europäischer Dachverband für SMA Organisationen)

Was ist SMA Schweiz und was bewog Sie zur Gründung der Patientenorganisation?

Als meine erste Tochter 2011, sie war anderthalb Jahre alt, die Diagnose SMA erhielt, musste ich das verarbeiten: unheilbar! Als Biologin recherchierte ich alles, was ich in wissenschaftlichen Publikationen und Medien dazu finden konnte. Bald wusste ich so viel, dass ich mein Wissen teilen wollte. Zugleich wünschte ich mir Austausch. Meine Internetseite wurde rasch eine Info- und mit der Zeit auch Anlaufstelle für Betroffene und ihre Angehörigen. Mit der Gründung der Patientenorganisation schufen wir einen Platz für die Schweizer SMA-Community, deren Interessen wir vertreten. Wir setzen uns für eine optimale Gesundheitsversorgung, den Zugang zu Medikamenten und Unterstützung der Schweizer Betroffenen ein. Dafür vernetzen wir uns mit Stakeholdern

(Ärzteschaft, Pharmaindustrie, Versicherungen), suchen den Dialog, aber stellen auch Forderungen.

In diesem Jahr wird SMA auch in der Schweiz in das Neugeborenenscreening (NBS) aufgenommen. Was bringt das?

Bei SMA kommt es zu irreparablen Schäden an Nervenzellen, die Muskelbewegungen steuern (Motoneuronen). Betroffene leiden zunehmend an Muskelschwäche, Muskelschwund und Lähmungen –bei voller Empfindsamkeit und uneingeschränkten geistigen Fähigkeiten.

Mit den Medikamenten, die es heute gibt, lässt sich der individuelle Zustand stabilisieren. Je früher SMA erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Aussichten auf ein langes, selbstbestimmtes Leben. Doch alle profitieren von den neuen Therapien: frisch Diagnostizierte wie langjährig Betroffene.

Mit der Aufnahme von SMA in das Neugeborenenscreening nutzen wir, als eines der europäischen Schlusslichter, endlich die Chance, jedes Neugeborene auf SMA zu testen. Eins von 10'000 ist im

Schnitt davon betroffen. Das frühe Erkennen eröffnet beste Chancen zum Behandeln.

Wie unterstützt SMA Schweiz Betroffene beim Bewältigen ihres Alltags? Bislang kam die Diagnose SMA meist aufgrund von Symptomen zustande. Zeigen sich motorische Auffälligkeiten, sind die Schäden jedoch längst da – und die bestehenden Einschränkungen nicht mehr aufhebbar. Betroffene können je nach Fortschritt alltägliche Bewegungen nicht mehr ausführen: essen, trinken, sich waschen, schreiben, jemanden umarmen, sitzen, laufen. Mit unserer neuen Initiative «SMArte Innovationen» zapfen wir das Schwarmwissen an. Jeder von uns ist im Alltag mit kleineren und grösseren Herausforderungen konfrontiert. Aktuell sammeln wir in unserer Community Tüfteleien, die sich als Lösung bewährt haben und die wir auf unserer Plattform teilen. In einem nächsten Schritt wollen wir auf Ideenschmieden wie Hochschulen zugehen, um gemeinsam innovative Lösungen für noch ungelöste Alltagsprobleme zu entwickeln.

Ich muss mir meine Kräfte gut einteilen

Lucie Hofmann lebt mit einer seltenen rheumatischen Erkrankung, bei der die Lunge stark mitbetroffen ist. Wie auch ihr Umfeld mitbetroffen ist, erzählt sie in diesem Interview. Mit Unterstützung von Boehringer Ingelheim (Schweiz) GmbH

Mit welcher Erkrankung leben Sie und welche Organe sind mitbetroffen?

Ich bin 53 Jahre alt und habe eine Mischkollagenose mit vorherrschender systemischer Sklerose und Symptomen der rheumatoiden Arthritis. Dies führt zu einer Versteifung der Gelenke. Ich kann etwa meine Schuhe nicht mehr binden. Meine Lunge ist von der Erkrankung stark mitbetroffen. Lungenfibrose und Lungenhochdruck beeinträchtigen meinen Alltag stärker als die motorischen Einschränkungen.

In welchem Alter sind die ersten Symptome Ihrer Erkrankung aufgetreten? Wie war der Weg zur Diagnose?

Mit etwa zwölf Jahren wurden meine Hände beim Skifahren eiskalt. Ich konnte sie nicht öffnen und musste nachhelfen, meine Finger wieder gerade zu biegen. Bei den ersten Symptomen hat noch niemand reagiert. Dann traten die ersten rheumatologischen Symptome wie Schmerzen in Knöchel und Knie auf. Mein Hausarzt dachte zum Glück gleich daran, dass es sich um Rheuma handeln könnte, und veranlasste entsprechende Tests, die seine Vermutung bestätigten.

Die Lunge ist bei Ihrer Erkrankung mitbetroffen. Wie wirkt sich dies auf Ihren Alltag aus?

Die ersten Symptome der Lungenfibrose traten etwa im Alter von 26 Jahren auf. Ich merkte, dass schon leichte körperliche Anstrengungen für mich extrem mühsam wurden. Inzwischen nimmt die

Lungenfunktion immer mehr ab und damit auch meine Leistungsfähigkeit. Früher war es kein Problem für mich, Auto zu fahren oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein. Inzwischen bedeutet der Besuch einer Veranstaltung oder einen Auswärtstermin wahrzunehmen, dass ich am Abend und auch am nächsten Tag total erschöpft bin. Ich muss mir meine Kräfte gut einteilen. Auch meinen Beruf als Wissenschaftlerin in der medizinischen Forschung musste ich vor zehn Jahren aufgeben.

Inwieweit ist Ihr Umfeld mitbetroffen?

Mein Vater wollte meine Erkrankung nicht wahrhaben. Er meinte, ich simuliere. Meine Mutter suchte Therapien im alternativen Bereich für mich. Sie begleitete mich zu Therapien und Ärzten. Meine Eltern bemühten sich, meinen jüngeren Bruder und mich immer gleichzubehandeln. Ich wurde nicht in Watte gepackt. Auch wenn das oft anstrengend war, war ich stolz, dass ich Herausforderungen gemeistert habe. Meine Mutter ist mir auch heute noch im Alltag eine grosse Hilfe. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters wird dies allerdings langsam schwieriger.

Welche Behandlungsformen und Unterstützungsangebote finden Sie hilfreich?

Es gibt sehr praktische Hilfsmittel wie lange Spezialschuhlöffel, Sockenanziehhilfe oder Eincremehilfe. Ich nehme Physiotherapie und Ergotherapie in Anspruch und auch Psychotherapie. Es tut mir gut,

FOTO: ZVG

mit jemand Aussenstehendem zu sprechen.

Wo bräuchten Sie noch mehr Unterstützung?

Es bräuchte eine Stelle, wo alle Informationen verfügbar sind, die den Alltag von Betroffenen erleichtern, wie etwa ein Case Management, das Koordinationsaufgaben übernimmt. Damit könnten Wege verkürzt und Kosten gespart werden.

Gibt es etwas, was Sie uns gerne mitgeben würden?

Von Nichtbetroffenen würde ich mir wünschen, dass sie mehr Rücksicht nehmen, dass sie geduldig bleiben, wenn es nicht so schnell geht und lieber Hilfe anbieten als zu motzen. Betroffenen rate ich, das Leben zu geniessen und zu tun, was ihnen Freude macht. Für mich ist das zum Beispiel das Reisen. Ich gehe gerne auf Safari. Das tut mir sehr gut!

Anlaufstellen für Betroffene: Rheumaliga Schweiz (inkl. Hilfsmittelshop) www.rheumaliga.ch info@rheumaliga.ch 044 487 40 00

Verein Lungenfibrose Schweiz facebook.com/ lungenfibrose.ch

Lucie Hofmann Betroffene

Manuela Stier

Gründerin und Geschäftsführerin Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK)

Familien nachhaltig stärken

Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten feiert am 20. Februar 2024 sein zehnjähriges Jubiläum. In der vergangenen Dekade wurde viel erreicht – wir verbinden schweizweit 810 betroffene Familien.

10'000 Gäste erlebten Glücksmomente auf unseren Familien-Events, und eine Gesamtsumme von drei Millionen Schweizer Franken konnte dank Spender:innen an Familien ausbezahlt und so deren Lebensqualität verbessert werden.

Nach der Diagnose fühlen sich die Eltern häufig überfordert. Das fehlende Wissen rund um das Thema Seltene Krankheiten erschwert ihnen den Umgang mit der neuen Situation. Wissen mindert Ängste, sensibilisiert und befähigt Eltern, selbstbewusst auf Augenhöhe mit Fachleuten zu kommunizieren.

Der Förderverein für Kinder mit

seltenen Krankheiten hat sich zum Ziel gesetzt, Wissen zu bündeln und allen Dialoggruppen auf www.wissensplattform.kmsk.ch in vier Sprachen kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Jährlich veranstalten wir zum Internationalen Tag der seltenen Krankheiten das KMSK WissensForum Seltene Krankheiten zu einem Fokusthema. Durch Referate und Podiumsdiskussionen entsteht ein reger Austausch zwischen betroffenen Eltern und Fachexpert:innen. Hierbei wird Raum für konstruktive Gespräche zu neuen Lösungsansätzen geboten. Das Wissens-Forum ist eine wichtige Informationsquelle für betroffene Familien und Fachpersonen. Zugleich schafft die jährliche Sensibilisierungs-Plakatkampagne die Aufmerksamkeit bei der breiten Öffentlichkeit und den Medien und trägt somit zur Sensibilisierung bei. Das 11. KMSK Wissens-Forum findet

am 2. März 2024 im KKL Luzern statt und wird via Live-Streaming übertragen.

Ende 2023 erschien das sechste KMSK Wissensbuch Seltene Krankheiten zum Thema «Case Management und Digitalisierung entlasten Eltern». Um die Eltern in der Koordination und Umsetzung von zahlreichen Terminen besser zu unterstützen, bedarf es eines umfassenden Case Management. Bis jetzt fiel diese Herkulesaufgabe mit einer Selbstverständlichkeit den Eltern zu. Case Management ist ein Prozess, in dem die Eltern mit den involvierten Fachpersonen gemeinsam festlegen, wie sie organisatorisch, bei medizinischen Notfällen und bei komplexen psychosozialen Fragen eine zusätzliche Unterstützung benötigen. Die Bücher etablierten sich für Familien, Fachpersonen und Auszubildende zu einem unverzichtbaren Arbeitsinstrument und Nachschlagewerk. Während wir auf diese Jahre des Engagements und der Freude zurückblicken, werfen wir auch einen Blick nach vorn. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten bleibt fest entschlossen, seine Mission fortzusetzen. Gemeinsam stärken wir unsere Familien, damit sie den oft beschwerlichen Alltag und die Herausforderungen ruhiger angehen können. In Anbetracht des stetigen Informationsbedarfs von unseren vielschichtigen Dialoggruppen erscheint im Februar 2024 das erste KMSK Magazin Selfcare, das die Dynamik, die Vielfalt und den nachhaltigen Nutzen unseres Engagements für die betroffenen Familien widerspiegelt. Das Magazin bietet eine breitere und erlebbare Perspektive auf seltene Krankheiten und den Förderverein.

2. MÄRZ 2024, 10.30 – 15.00 UHR

Wenn das Bluten nicht aufhört …

Ein Prozent der Menschen ist von der Von-Willebrand-Erkrankung betroffen. Karin Huber gehört dazu. Im Interview gewährt uns die 48-Jährige Einblick in ihren Alltag als sogenannte Bluterin.

Sie sind von der Von-Willebrand-Erkrankung betroffen – wie kam es zur Diagnose?

Ich habe eine ältere Schwester. Als sie vier war, wurde die Blutgerinnungsstörung bei ihr festgestellt. Daraufhin untersuchte man auch meine Mutter, denn die Erkrankung wird vererbt. Sie war betroffen. Und so war schon zu meiner Geburt klar, dass auch ich an der Von-Willebrand-Erkrankung leiden könnte. Das Risiko dafür lag bei 50 zu 50. Tests bestätigten mein Erbe.

Wie zeigt sich die Erkrankung?

Typisch für die Erkrankung ist ein sogenannter Von-Willebrand-Faktor, der seinen Job nicht richtig macht: Je nach Ausprägung gibt es zu wenig von dem Bluteiweiss, es fehlt oder ist defekt. Das beeinträchtigt die Blutstillung der Schleimhäute, sodass insbesondere Nase, Zahnfleisch und Gebärmutter im Fall des Falles lange bluten. Auch oberflächliche Blutergüsse können auftreten, ebenso Muskel- und Gelenkblutungen.

Wie wurden und werden Sie behandelt?

Als ich klein war, gab es noch begrenzte Behandlungsmöglichkeiten für Bluterinnen und

Bluter. Ich erinnere mich an etliche Besuche im Spital, da jeder Sturz mir hätte gefährlich werden können. Das Wort «Vorsicht!» begleitete mich überallhin. In der Schule durfte ich wegen des Verletzungsrisikos kaum am Sportunterricht teilnehmen – nur Schwimmen war erlaubt. Ich fühlte mich

den langen Menstruationsblutungen hatte ich mich arrangiert. Wegen des erblichen Risikos verzichtete ich auf Nachwuchs. Ich arbeite in zwei mich erfüllenden Jobs: als Assistentin in einer Arztpraxis und als selbstständige Tierphysiotherapeutin. Doch dann wurde ich im Jahr

als Aussenseiterin. Seit ca. 25 Jahren, spritze ich mir ein gerinnungsförderndes Medikament prophylaktisch intravenös. Im Notfall spritze ich mir eine Extradosis, auch dann, wenn ich anschliessend ins Spital zur Behandlung fahre – noch immer sind sich nicht alle Ärztinnen und Ärzte der Tatsache bewusst, dass auch Frauen Bluter sein können.

Wie beeinträchtigt Ihre Erkrankung Sie im Alltag und wie gehen Sie damit um? Lange fühlte ich mich der Krankheit gut gewachsen. Mit

2020 an der Schulter operiert. Ein zentraler Katheter, der mir gelegt wurde, infizierte sich leider. Ich bekam eine Blutvergiftung und wäre fast gestorben. Seitdem leide ich zusätzlich an chronischer Erschöpfung und weiteren Folgen, welche meine Lebensqualität und die Arbeit stark einschränken. Meine geliebte Labrador-Hündin Ajari gibt mir Kraft.

Karin Huber ist von der Von-WillebrandErkrankung betroffen. Ihrer Arbeit als Tierphysiotherapeutin geht sie trotz ihrer Krankheit mit Einsatz und voller Hingabe nach. www.freilaufhuber.ch

Text: : Doreen Brumme

Alles geht –nur etwas langsamer

Lian ist zwölf Jahre alt und spielt gerne Fussball. Die Bälle nimmt er sitzend oder gestützt auf seinen Rollator an, denn er kann nicht ohne Hilfe laufen. Lian ist vom Louis-Bar-Syndrom betroffen. Was die seltene Erkrankung für das Alltagsleben von Lian und seiner Familie bedeutet, berichtet seine Mutter Klaudia (37).

Text: : Doreen Brumme

Klaudia, was hat es mit Lians Erkrankung auf sich?

Das Louis-Bar-Syndrom ist eine seltene Erbkrankheit. Ihre Häufigkeit liegt bei

Mein Wunsch ist, dass es Lian so gut geht wie bis jetzt und dass er immer glücklich und zufrieden ist.

einer von 40'000 bis 100'000 Geburten.1 Wie bei Lian sind meist beide Eltern Träger der Erkrankung, ohne selbst davon betroffen zu sein. Die meisten Betroffenen werden etwa 20 bis 25 Jahre alt, nur wenige erleben ihren 40. Geburtstag.

Wie zeigte sich die Krankheit bei Lian?

Die Schwangerschaft mit Lian und seine Geburt waren unauffällig. Er war wie jedes andere Baby auch. Als Lian mit 13 Monaten loslief, schwankte er jedoch wie ein Betrunkener.

Wie kam es zur Diagnose und wie bist du damit umgegangen?

Unsere Kinderärztin schickte

uns zum Abklären ins Spital. Der Arzt dort sagte uns, dass er eine Vermutung habe, die der grosse Bluttest dann bestätigte. Als er mich anrief und uns Eltern persönlich sprechen wollte, wusste ich, dass es ernst ist. Ich hatte keine Vorstellung, wie ernst ... Ich brauchte Zeit, um die Diagnose zu verdauen. Wir konnten nichts tun, Lians Erkrankung ist nicht heilbar. Sie verläuft bei jedem Kind etwas anders, typisch ist jedoch der zunehmende Verlust der Muskelkontrolle, dessen Anfänge wir bei Lian beobachteten. Nach zwei Wochen hatte ich mich gefangen. Ich schaute Lian an, der glücklich zurückstrahlte, und sagte mir: Ich konzentriere mich nicht auf die Krankheit. Für mich steht Lian nach wie vor im Mittelpunkt.

Wie wird Lian behandelt?

Die Krankheit lässt sich nicht behandeln, nicht mal bremsen. Lians Therapien zielen deshalb immer auf seine individuellen Symptome ab. Von typischen Begleiterscheinungen der Erkrankung wie

schwächelndes Immunsystem oder Blutkrebs – das Risiko dafür ist beim Louis-BarSyndrom um ein 1000-Faches höher – ist er bislang zum Glück verschont geblieben. Im Gegenteil: Unsere Ärztinnen und Ärzte staunen bei den Kontrollen, dass Lian sich kaum Infekte einfängt. Und

auch sein Muskelkontrollverlust stagniert seit vier Jahren. Vielleicht ist das naturnahe Leben auf dem Dorf ein Grund, warum es Lian so gut geht.

Lian ist ein Naturkind?

Er liebt es, draussen zu sein. Im Sommer badet und schwimmt Lian stundenlang. Er taucht sogar. Lian fühlt sich wohl hier auf dem Land, wir leben im Dorf Oberkirch (Luzern). Er mag die Landwirtschaft, die Tiere, die Trecker. Neulich sagte er zu mir, dass er später gerne Traktoren reparieren würde.

Wie sieht der Alltag mit Lian aus?

Aus Kostengründen leben wir beide bei meinen Eltern. Lians Tag beginnt, wie der Tag anderer Kinder seines Alters auch, mit der Schule. Er besucht seit der dritten Klasse eine Privatschule. Die ist zwar teuer, doch Lian fühlt sich dort angenommen und wohl. In der Freischule bestimmen die Kinder, was und in welchem Tempo sie lernen. Bei der Finanzierung des Schulbesuchs werden wir unter anderem von Dorfbewohnern unterstützt. Weiters hat Manuela Stier mit dem von ihr gegründeten Förderverein für Kinder mit seltenen

Krankheiten (KMSK) eine Spendenorganisation für uns initiiert. Nach der Schule hat Lian regelmässig Therapien und Arzttermine. Sein Terminkalender ist prall gefüllt, doch gemeinsam mit meinen Eltern bewältigen wir den Alltag. Sie sind wie ich für Lian da, insbesondere dann, wenn ich arbeite. Denn allein lassen können wir Lian nicht.

Wie nimmt Lian seine Erkrankung hin?

Es ist für ihn, wie es ist. Wege in der Wohnung legt er im Vierfüsslergang zurück. Ich muss ihm nur helfen, wenn er etwas tragen will. Für kürzere Wege draussen nutzt er seinen Rollator und für lange seinen Rollstuhl. Das Zittern der Hände erschwert ihm mitunter das Greifen und Halten. Beim Trinken unterstütze ich ihn deshalb. Lian macht, was andere Kinder auch tun. Er weiss, dass er für vieles länger braucht. Er nimmt sich seine Zeit und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Alles geht –nur etwas langsamer.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Mein Wunsch ist, dass es Lian so gut geht wie bis jetzt und dass er immer glücklich und zufrieden ist.

1 https://louis-bar-syndrom.ch/de/syndrom

Leben mit Phosphatdiabetes –«Gestalten statt hinnehmen»

Die x-chromosomale Hypophosphatämie (kurz XLH) ist eine seltene Störung des Knochenstoffwechsels. Die Mutation, die XLH hervorruft, kann vererbt werden oder als spontane Mutation auftreten, was die Diagnose erschweren kann. XLH führt zu einem Phosphatmangel, weshalb die Erkrankung auch die Bezeichnung Phosphatdiabetes trägt. Auch wenn die Erkrankung entdeckt und behandelt wird, leiden Betroffene unter ihren Folgen. Dazu zählen unter anderem starke Schmerzen, enorme Bewegungseinschränkungen und häufige Knochenbrüche. Wir sprachen mit Sara Franke über ihr Leben mit der Erkrankung.

Frau Franke, Sie leiden an XLH. Wann und wie hat sich die Erkrankung bei Ihnen geäussert, und gibt es in Ihrer Familie weitere Betroffene?

Bei mir wurde XLH bereits im Kleinkindalter sichtbar. Mit dem Beginn des Laufens zeigten sich deutliche Verformungen meiner Beine. Meine Mutter zog sofort Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit, in der sie ähnliche Verformungen hatte. Die Krankheit, die nicht nur mich, sondern auch meine Mutter und meine beiden Geschwister betrifft, wurde bei meiner Mutter damals fälschlicherweise als Knochenfehlbildung diagnostiziert. Bezugnehmend auf meine Knochenfehlstellung, wurde ihr und meinem Papa gesagt, dass sich das wieder verwächst. Glücklicherweise wurde durch die Hartnäckigkeit meiner Eltern bei meinen Schwestern

und mir die korrekte Diagnose gestellt, als ich drei Jahre alt war.

Was waren und sind für Sie die grössten Herausforderungen, die mit Ihrer Erkrankung im Zusammenhang stehen?

In meiner Kindheit kämpfte ich mit Zahnabszessen und den Einschränkungen durch O-Beine. Aber unsere Familie lebte immer nach dem Motto: Jeder gestaltet sein Leben so gut wie möglich. In meiner Jugend führten Operationen zur Korrektur der Beine und weitere Eingriffe zu vielen Fehlzeiten in der Schule. Das auffällige Äussere und der veränderte Gang sorgten oft für abschätzenden Blicke und Stigmatisierung. Es war sehr schwer als «behindert» abgestempelt und in meinen Fähigkeiten unterschätzt zu werden sowohl von Mitschülern als auch von Lehrern. Doch dank der Unterstützung meiner Familie, meiner Freunde und später meines Mannes, konnte ich mein Selbstbewusstsein stärken und lernte mich zu behaupten.

Mein gesamtes Skelett ist deformiert, was zu zahlreichen Begleiterkrankungen führte. Ärzte behandeln diese in der Regel nur symptomatisch, was einen kraftraubenden Prozess darstellt. Es gibt nicht viele Patienten mit dieser Krankheit, und es dauert leider oft zu lang, bis man dann als erwachsener Patient einen Spezialisten findet. Bis dahin versuchte ich, meine Schmerzen mit Schmerzmitteln zu lindern. Als lebensfroher Mensch war es für mich oft schwierig, den Ärzten die Intensität meiner Schmerzen und die Dringlichkeit meiner Situation zu vermitteln.

Symptome der XLH im Überblick

Mögliche Symptome bei Kindern:

• Fehlstellungen der Beine (O- oder X-Beine)

• Deformierungen der Knochen und Achsenfehlstellungen

• Weiche Knochen (Rachitis)

• Verspäteter Laufbeginn, Gangbildveränderungen, «Watschelgang»

• Verzögertes/Vermindertes Wachstum (Kleinwuchs)

• Dysproportionen

• Knochen- und Gelenkschmerzen

• Muskelschmerzen und -schwäche

• Schädeldeformationen: Craniosynostose (verfrühter Verschluss der Schädelnähte), Chiari Malformation (Fehlbildung des Übergangs zwischen Hinterhaupt und Wirbelsäule)

• Spätes Sekundärgebiss und Zahnprobleme (z.B. Abszesse und Fisteln)

Zusätzliche mögliche Symptome bei Erwachsenen:

• Veränderungen des Gehörs: Schwerhörigkeit bis hin zum Hörverlust, Tinitus, Schwindel

• Frakturen und Pseudofrakturen durch unzureichende Knochenmineralisation

• Osteomalazie (Knochenerweichung)

• Spinalkanalstenosen (Verengungen des Wirbelkanals)

• Früh einsetzende Arthrose oder Knochen- und Gelenkentzündungen

• Bewegungseinschränkungen und Steifigkeit

• Mineralisierung (Verkalkung) von Sehnen und Bändern

• Dauerhafte Verkürzung von Sehnen, Muskeln und Bändern

• Reduzierte Belastbarkeit, Erschöpfung

Mit Unterstützung von Kyowa

XLH ist zwar noch nicht heilbar, aber behandelbar: Wie geht es Ihnen unter Therapie? Mir geht es ganz gut. Natürlich begleiten mich ständig Schmerzen, die wohl auch bleiben werden. Das Bücken und Knien wird mir immer verwehrt bleiben sowie unbeschwert längere Strecken zu gehen. Trotz dieser Herausforderungen empfinde ich mein Leben als wunderbar. Es war mir immer wichtig ein Teil der Gesellschaft zu sein sowohl privat als auch beruflich und das gibt mir sehr viel Kraft. Seit einem Jahr spritze ich mir ein Medikament, das auch für Erwachsene zugelassen ist und mir Tage mit erträglichen Schmerzen schenkt.

Sie sind 2022 Mutter geworden. Hatten Sie Sorge, dass Ihr Kind auch von XLH betroffen sein könnte?

Mein Mann und ich haben ausführlich darüber gesprochen und uns entschlossen, unsere Lebensfreude und unsere Träume nicht von einer Erkrankung beeinträchtigen zu lassen. Als das neue Medikament zugelassen wurde und die Erfolge bei Kindern vielversprechend waren, wurde unser Wunsch nach einer Familie noch stärker. Meine Frauenärztin war hervorragend über meine Krankheit informiert und hat mich

jederzeit einfühlsam unterstützt. Nun sind wir stolze und glückliche Eltern eines kerngesunden Sohnes.

Wie geht es Ihnen heute, und was möchten Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Bei der Frage wie es mir geht, versuche ich oft einen klaren Unterschied zwischen meinem physischen und meinem persönlichen Zustand herzustellen. Körperlich gibt es immer wieder Tage oder Wochen, in denen es mir nicht so gut geht. Persönlich könnte es mir nicht besser gehen! Ich bin glücklich verheiratet und habe das Geschenk bekommen einen gesunden Sohn zu haben. Anderen Betroffenen möchte ich mit auf den Weg geben, dass in jedem von uns etwas schlummert, für das es sich zu kämpfen lohnt. Jeder, der betroffen ist, sollte die Kraft und Geduld aufbringen, Ärzte aufzusuchen, bei denen er sich wohl fühlt. Es ist von grundlegender Bedeutung, fest an sich selbst zu glauben. Wir verdienen es, wertgeschätzt zu werden. Wir sind so viel mehr als die Erkrankung!

Anlaufstelle für Betroffene Seltener Krankheiten www.proraris.ch

Einsatz für Menschen mit seltenen Erkrankungen

«Meine Hautprobleme begannen 2004», berichtet eine Patientin. Sie litt zu dieser Zeit unter wiederkehrenden Hautausschlägen und Schmerzen. Erst Jahre später wurde bei ihr eine Mycosis fungoides diagnostiziert, eine Krebserkrankung, die in Europa weniger als einen von 110'000 Menschen betrifft.1 «Ich befand mich fast zehn Jahre lang in einer Grauzone», erinnert sie sich. Ihre anfänglichen Symptome wurden zunächst als Ekzem erkannt. Erst ein Zufallsbefund

führte zur richtigen Diagnose. Diese Geschichte ist kein Einzelfall: Der Weg bis zum Befund dauert bei diesem Krankheitsbild durchschnittlich zwei bis sieben Jahre.2

Kyowa Kirin ist ein global tätiges biopharmazeutisches Unternehmen, das die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessern möchte. Es wurde 1949 in Japan gegründet und entwickelt seit dieser Zeit innovative Therapien in den Bereichen Nephrologie, Neurologie,

Onkologie und Immunologie. Die Forschung, Entwicklung und Wirkstoffproduktion stützen sich auf Verfahren der Spitzenbiotechnologie aus eigenem Hause. So gilt das Unternehmen als Pionier in der Behandlung des nur selten auftretenden Phosphatdiabetes. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Behandlung seltener Krebserkrankungen wie der Mycosis fungoides und des Sézary-Syndroms – beides Unterformen des kutanen T-Zell-Lymphoms (CTCL).

Kyowa Kirin möchte sämtlichen Menschen, mit denen es sich im Austausch befindet, ein Lächeln schenken – nicht nur durch die Bereitstellung neuer Wirkstoffe, sondern auch durch gelebte Partnerschaften. Das Unternehmen sucht weltweit den Austausch mit Betroffenen und Beteiligten, um gemeinsam bessere Antworten auf Patientenbedürfnisse zu finden, getrieben von dem Ansporn «Making people smile».

Kirin Sàrl

Seltene Krankheiten: So wichtig sind Austausch und Wissen

Désirée Waeber ist Mutter zweier Töchter. Ihre jüngere Tochter Noemi, heute sechs Jahre alt, leidet an der seltenen Erkrankung Neurofibromatose. Was das nicht nur für ihr Kind, sondern auch für sie als Mutter bedeutet, lesen Sie hier.

Text: Magdalena Reiter-Reitbauer

Wie wurde bei Ihrer Tochter Neurofibromatose festgestellt?

Meine Tochter Noemi war eine Frühgeburt. Nach sechs Wochen im Krankenhaus wurde sie zwar noch mit Problemen bei der Nahrungsaufnahme, aber eigentlich gesund entlassen. Ein paar Monate später, mit knapp sechs Monaten, hatte Noemi einen Infekt. Unser ursprüngliches Krankenhaus hat uns aber entgegen der Empfehlung unseres Kinderarztes wieder nach Hause geschickt. Daraufhin wollten wir eine Zweitmeinung dazu hören und haben das Krankenhaus gewechselt. Dort wurde sie sofort stationär aufgenommen – nicht nur wegen des Infekts, sondern auch aufgrund dessen, dass sie unterentwickelt war. Wir hatten das grosse Glück, dass noch in derselben Woche eine Genetikerin vor

Ort war, die Noemi untersucht hat und alle weiteren Tests in die Wege geleitet hat. So haben wir glücklicherweise eine relativ schnelle Diagnose erhalten.

Wie haben Sie die Diagnose damals aufgenommen?

Es war eine schwierige Zeit! Die Ärztin war selbst davon überrascht, schliesslich hielt auch sie Neurofibromatose für weniger wahrscheinlich. Die Diagnose habe ich über das Telefon erfahren. Das war nicht gut. Wir haben einen Termin zur Besprechung vereinbart, aber ich wurde mit der Diagnose alleingelassen. Es war gut und gleichzeitig schwierig, eine fixe Diagnose zu haben. Ich hatte praktisch einen Zusammenbruch –auch weil die Last der letzten Monate abgefallen ist. Mit der Diagnosestellung habe ich begonnen, mich einzulesen.

Doch jeder Fall von Neurofibromatose ist unterschiedlich. Daher ist die Zukunft total offen.

Wie macht sich die seltene Erkrankung bemerkbar?

Neurofibromatose ist eine Nervenerkrankung, die Tumore bilden kann – äusserlich wie innerlich. Meistens bilden sich Fibrome auf der Haut. Viele Betroffene haben Tumore auf den Sehbahnen, so auch Noemi. Sie hat ausserdem noch einen Hirntumor. Mit der Zeit und dem weiteren Krankheitsverlauf werden vielleicht noch weitere Tumore hinzukommen. Zumeist sind es aber gutartige Tumore.

Wie geht es Ihrer Tochter heute?

Noemi lebt weiterhin mit dem Hirntumor, weil man ihn operativ aufgrund der

Lage nicht entfernen kann. Seit vier Jahren erhält sie Chemotherapien. Nach der ersten Chemotherapie, die 70 Wochen gedauert hat, hat sich der Tumor leider vergrössert. Heute erhält sie eine Chemotherapie, die ich ihr täglich zu Hause verabreichen kann. Der Hirntumor ist derzeit stabil – absetzen dürfen wir das Medikament aber nicht. Noemi lebt mit gewissen Einschränkungen, die man ihr nicht direkt ansehen kann. Dazu zählt etwa eine Wahrnehmungsproblematik. Ausserdem haben die Therapien Nebenwirkungen. Hier müssen wir immer Nutzen und Schaden abwägen. Noemi hat durch die Chemotherapie eine starke Sonnenallergie entwickelt, daher können wir auch im Sommer nicht lange draussen sein. Das ist immer wieder schwierig. Sie ist trotz alledem ein sehr lustiges und

fröhliches Mädchen. Sie ist wissbegierig und freut sich schon, ab Sommer in die Schule zu gehen – zwar mit deutlich reduziertem Stundenplan und Assistenz, aber sie ist total motiviert!

Inwiefern brauchen auch Eltern oder Geschwister von Kindern mit seltenen Erkrankungen Betreuung?

Klar, die Situation ist eine psychische Belastung. Ich bin alleinerziehend und nehme psychologische Betreuung in Anspruch. Noemi hat mehrmals pro Woche Therapien, wie Physiotherapie, Ergotherapie, Heilpädagogik oder Hippotherapie. Letztere nimmt sie mehr als Hobby und weniger als Therapie wahr. Ihre Schwester, die ja auch ihre eigenen Baustellen hat, muss dennoch leider oft zurückstecken. Daher erhält auch sie Betreuung.

Welche Rolle spielt der Austausch mit anderen Familien mit seltenen Erkrankungen? Ich erachte es als sehr wichtig! Man lebt zwar nicht mit den gleichen Diagnosen, hat aber oftmals die gleichen Themen und Sorgen. Man fühlt sich weniger allein. Diesen Austausch und das Wissen darüber empfinde ich als sehr wertvoll.

Wo sehen Sie aktuell noch Verbesserungsbedarf in der Versorgung?

Wir haben Glück, dass Neurofibromatose unter den seltenen Erkrankungen gar nicht so selten ist. Mittlerweile gibt es Fachpersonen, die sich mit Neurofibromatose sehr gut auskennen oder dazu forschen – auch wenn wir diese im Ausland besuchen

müssen. Allerdings findet der Austausch zwischen den Ärztinnen und Ärzten meiner Meinung nach noch nicht ausreichend statt. Das empfinde ich als ein grosses Manko! Auch wenn das Erkrankungsbild und die Symptome bei Noemi klar sind, funktioniert der Austausch über komplexe Fälle wie unseren nicht gut. Die Kommunikation darüber wäre allerdings sehr wichtig –nicht zuletzt auch, weil viele Fachbereiche involviert sind. Es braucht daher einen viel engeren Austausch und einen besseren Wissenstransfer.

Der Austausch zwischen den Ärztinnen und Ärzten findet meiner Meinung nach noch nicht ausreichend statt. Das empfinde ich als ein grosses Manko!

Was möchten Sie gerne anderen Eltern von Kindern mit einer seltenen Erkrankung mitgeben?

Ich wusste schon vor der Diagnose, dass irgendetwas mit Noemi nicht stimmt. Allerdings wurde mir nicht geglaubt. Daher: Hört auf euer Mamigefühl – egal was Ärztinnen und Ärzte sagen. Eine sehr gute Anlaufstelle für seltene Erkrankungen ist der Förderverein für Kinder mit seltenen Erkrankungen. Der Verein hilft Familien wirklich enorm weiter!

Noemi mit Mutter Désirée und ihrer Schwester Kira

Erzählen wir gemeinsam Erfolgsgeschichten, bieten wir Patientenorganisationen, Betroffenen und Expert:innen eine Bühne um Patientenmündigkeit zu fördern und Bewusstsein für Krankheiten zu schaffen.

Frauengesundheit

LesenSiemehrunterwww.blickaufsie.ch

«Ein ehrlicher Umgang mit der Erkrankung birgt viel Überraschendes und Schönes»

«MehrSelbstachtung und-fürsorgefür eingesundesLeben»

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