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Journal fĂźr Literatur Journal littĂŠraire Vol 01


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L Journal fĂźr Literatur Journal littĂŠraire

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Impressum Herausgeber: Verein Literarischer Kreis Saar c/o Susanna Bur Blumenstr. 20 66111 Saarbrücken

Kontakt: literarischerkreissaar@gmail.com www.literarischerkreissaar.wordpress.com

Redaktion: Jörg Bur Susanna Bur Dr. Christine Reiter

Grafische Gestaltung: Jörg Bur Susanna Bur

Erscheinungstermine: Das Journal erscheint vierteljährlich. Nächste Ausgabe: 15. September 2013

Copyright©: Für die Inhalte der jeweiligen Texte sowie grammatikalische und stilistische Fehler sind die Autorinnen und Autoren selbst verantwortlich. Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte und Pflichten verbleiben bei den Autorinnen/Autoren sowie Fotografinnen/ Fotografen. Ungeachtet der Sorgfalt, die auf die Erstellung von Text, Abbildungen und Programmen verwendet wurde, können weder die Autorinnen/Autoren oder Herausgeber für mögliche Fehler und deren Folgen eine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung übernehmen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................... 7 Das Kleid, Robert Bruckart....................................................... 8 Gegen den Strom, Andreas Hämer ......................................... 28 Wenn‘s Hunde und Katzen regnet, Andreas Hämer ............... 29 Alles Abzocke, Dr. Christine Reiter........................................ 32 Fühlst du es?, Monika Jehl ...................................................... 38 Des moments magique à Paris, Jörg Bur ................................ 40 Sommerimpression, Susanna Bur ........................................... 42 Reves d‘enfant, Huguette Wolf ................................................ 44 E Friend, Iris Gutfried ............................................................. 46 Gibt es ein Leben vor dem Tod?, Susanna Bur ....................... 48 Frühlingsmorgen, Susanna Bur ............................................... 56 Männer und Frauen, Andreas Hämer ...................................... 60 Kleine Schwester Sheena, Anne Adam.................................... 64

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VOR WORT

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Warum schreiben wir? Und warum behalten wir das Geschriebene so oft für uns? So, als ob es ein Geheimnis wäre, das es vor den Augen der Welt zu verbergen gilt. Sicher, Schreiben ist meist ein sehr persönlicher Vorgang, der uns hilft, Erlebtes zu verarbeiten oder Träume in Worte zu fassen. »Ich schreibe halt für die Schublade«, lautet ein Satz, den man oft zu hören bekommt. Doch was wäre, wenn wir all die vielen Zeilen, Worte und Buchstaben hervorholen und mit anderen teilen würden? Wenn wir all die Menschen um uns herum an den Geschichten, Erlebnissen und Träumen teilhaben ließen? Genau das haben sich die Autorinnen und Autoren von L vorgenommen und ihre Schubladen geöffnet. Wir wünsche Ihnen eine unterhaltsame und anregende Lektüre und vielleicht öffnen ja auch Sie demnächst Ihre Schublade. Jörg Bur, Redakteur

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Das Kleid © Robert Bruckart, 12.05.2013

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ätte man unterschiedliche Leute gefragt, sie wären sicher auch unterschiedlicher Meinungen zu ihrer Person gewesen. Bei der Hälfte der Betrachter wäre vielleicht die Meinung aufgekommen, sie sei wunderschön, während die andere Hälfte genau davon eben nicht überzeugt gewesen wäre. Und ich? Ich wusste es nicht! Konnte mich nicht entscheiden, wie ich sie einstufen sollte. Schön oder nicht schön? Wie nahe lag das eigentlich beieinander oder voneinander entfernt? Doch egal wie lange ich sie anschaute, zu einem Ergebnis kam ich nicht und dabei war ich gar nicht mal so blöd. Auf jeden Fall hatte sie für mich etwas Anziehendes. Sehr anziehend sogar und deshalb kam ich irgendwann zu dem Schluss, dass es sich bei ihr unmöglich um einen hässlichen Menschen handeln konnte. »Was ist überhaupt ein hässlicher Mensch? Gibt es solche Menschen wirklich? Vielleicht gibt es Menschen, die nicht so schön sind wie andere, also weniger schön! Sie ist nicht hässlich, sie ist vielleicht markant, herb, ausgeprägt! Aber hässlich ist sie auf keinen Fall. Nein! Sie ist ein ganz besonderer Typ, strahlt etwas ganz Besonderes aus und ist nun einmal nicht jedermanns Geschmack!« Sie war nicht mal einssiebzig groß und ihr Gewicht überstieg keine sechzig Kilo. Eine sportlich schlank wirkende Gestalt. Ihre Haare reichten bis über die Schultern und sie fielen in dunklen Locken an ihrem Kopf herunter. Ihr vorderer Haaransatz saß ziemlich weit zurück und so wirkte ihre Stirn recht hoch. Die

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Augen waren dunkelbraun bis schwarz und ihre Nase recht ausgeprägt mit einem leichten Höcker, der aber nicht weiter störte. Ihre Lippen waren voll und geschwungen. Besonders die Oberlippe. Es war ein sehr ausdrucksvoller Mund. Sie hatte ihn auffallend rot geschminkt. Dafür war das Make-up in ihrem Gesicht viel zu hell. Sie wirkte zu blass, gespenstig, fast leichenhaft. Mich überlief jedes Mal ein Schauer, wenn ich allmorgendlich dieses blasse Gesicht sah und ich wusste nicht einmal warum. Obwohl es irgendwie so fremd wirkte, erinnerte es mich an etwas. Vielleicht wäre ich darauf gekommen, woran es mich erinnerte, wenn diese Blässe nicht so übertrieben gewesen wäre. Ihre ganze Gestalt stellte einen Typus dar, der mir unglaublich bekannt vorkam und trotzdem war ich nicht in der Lage, sie irgendwo einzuordnen. Manchmal glaubte ich sogar, immer wenn ich sie sah, dann wollte meine Fantasie mit mir durchgehen. Ich wagte es überhaupt nicht, dieser Fantasie freien Lauf zu lassen. Ich bangte regelrecht, es könnten sich schlimme Abgründe in mir auftun, obwohl ich eigentlich ein braver Zeitgenosse war. Vielleicht viel zu brav! Zumindest wurde mir das immer wieder attestiert. Da stand sie, mit aufrechter und gestreckt wirkender Haltung, den Blick geradeaus, in die Unendlichkeit gerichtet und mit ernster Mine. Zwischen ihr und mir standen auf dem Bahnsteig vielleicht fünf Leute. Ich beobachtete sie nur aus dem Augenwinkel heraus. Der Zug kam und es galt einzusteigen. Natürlich entging es mir nicht, dass sie auf die gleiche Tür zusteuerte wie auch ich. Als würde eine innere Stimme mir Befehle erteilen, eilte ich bis in ihre Höhe, um so die Chance zu haben, mit ihr gleichzeitig durch die Tür in den Wagen zu gehen. Ich war kein

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Drängler, ganz im Gegenteil, aber an diesem Morgen ritt mich der Teufel. Eine Erklärung dafür hatte ich nicht. Fast empfand ich es wie einen feierlichen Moment, als ich gleichzeitig mit ihr den Fuß auf den Boden des Waggons setzte, während von jedem von uns der andere Fuß noch auf dem Bahnsteig stand. Ich drehte den Kopf in ihre Richtung, zog ganz lange die Luft durch meine Nase ein und im nächsten Augenblick begann ich das, was meine Geruchsnerven wahrnahmen, zu analysieren. Verschiedene Gerüche begleiteten sie und wäre ich ein wirklicher Fachmann gewesen, sicher hätte ich auch noch die einzelnen Produkte nennen können. Angefangen von der Zahncreme, über das Duschgel, das Deo, das Haarspray bis hin zu dem Parfüm, das zweifelsfrei hinter ihren Ohren und am Hals platziert worden war. Dieses ganze Ensemble von Geruchsbestandteilen war rund und stimmig, passte perfekt zu ihrem Typus, wie ich fand. Sie duftete einfach wundervoll und ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief und sich an meinen Armen und auf dem Rücken eine Gänsehaut bildete. Doch es war wohl weder der Ort, noch die Zeit, um diesen süßen Schauer zu genießen. Es war früher Morgen, es war die Zeit, zu der es alle eilig hatten, ihrem Verdienst nachstrebten. Da blieb keine Zeit für zarte Gefühle und Sehnsüchte, romantische Vorstellungen und Träume. Jetzt begann man mich zu schubsen und mit den Ellbogen zu bearbeiten, und ehe ich mich versah, war ich im unteren Bereich des doppelstöckigen Waggons gelandet, wo ich eigentlich nie zu sitzen pflegte. Mich zog es immer in die obere Etage, dorthin, wo die Aussicht besser war. Ich wollte schon umdrehen und mich auf den Weg in die andere Ebene machen, doch ich erblickte sie wieder und sah, dass sie in dieser unteren Ebene in einer Vierersitzgruppe ganz alleine saß. Plötzlich war wieder das

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Gefühl da, als stoße man mich, drücke mich genau auf diese Sitzgruppe zu, doch auf dem Flur in meiner Nähe befand sich keine Menschenseele. Ich ließ mich ihr genau gegenüber nieder und schon ruckte der Zug sanft an. Leise beschleunigte er und gewann schnell an Fahrt. Fast zwanzig Minuten konnte ich nun in ihrer Nähe verweilen. Zum ersten Mal war ich ihr so nah und es war ein aufregendes und prickelndes Gefühl. Immer wenn jemand den Flur entlang ging, dann überrollte mich eine Welle von ihrem Duft. Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick mehr, als mit diesem Duft abends einschlafen zu können. Zaghaft hob ich hin und wieder meine Augen und betrachtete sie. Sie blickte meist auf ihre Hände und ab und an warf sie einen Blick aus dem Fenster, wobei ihre Augen auf dem Weg von ihren Händen zu der gläsernen Scheibe stets für einen verstohlenen Augenblick mein Gesicht streiften. Sie war älter als ich und so versuchte ich sie zu schätzen. Vielleicht war sie Anfang dreißig, vielleicht aber auch schon Mitte dreißig. Ich entschied mich für die letztere Schätzung, wobei ich gestehen muss, dass ich unwahrscheinlich schlecht schätzen kann. Wenn es so war, dass sie wirklich schon Mitte dreißig war, dann war sie zehn Jahre älter als ich. Der Gedanke kullerte in meinem Kopf hin und her und ich stellte mir die Frage, warum ich mich für eine Frau in diesem Alter interessierte? Aber ist man mit etwas mehr als dreißig Jahren wirklich alt? Die Frage beschäftigte mich sehr und ich fragte mich weiter, warum solche Sachen in meinem Kopf herumspukten? Was faszinierte mich an dieser Frau so? Denn es war Faszination! Zweifelsfrei! Ich versuchte mir vorzustellen, was sie wohl arbeitete, wie sie

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wohl lebte, doch eine rechte Vorstellung, mit der ich mich hätte anfreunden können, fand ich einfach nicht. Sie war aufgestanden, hatte die beiden vorderen Teile ihres Mantels übereinandergeschlagen und ihre Handtasche genommen. Langsam machte sie sich auf den Weg in Richtung Ausgang und mir wurde erst zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass die zwanzig Minuten Fahrt schon zu Ende waren und auch ich aussteigen musste. Eiligst suchte ich meine Sachen zusammen. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand. Mein Blick war auf ihren Körper fixiert, der sich vor mir den Bahnsteig entlang bewegte. »Was läuft in meinem Kopf ab, der sich mit nichts anderem als diesem Wesen beschäftigen kann? Sie hält dich für einen kleinen Jungen, wenn sie tatsächlich so alt ist, wie du angenommen hast. Sie hat dich im Zug nicht immer wieder kurz angeschaut, weil sie sich für dich interessiert, sondern weil du sie ständig angestarrt hast. Sie hat sich belästigt gefühlt! Was sonst?« Irgendwie hatte ich sie im Gedränge aus den Augen verloren und nun suchte ich sie auf meinem Weg vor das Bahnhofsgebäude und zur Haltestelle der Straßenbahn. Doch ich konnte sie nirgends sehen. Vielleicht war sie heute, entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten, zu Fuß gegangen. Immer wieder blickte ich den Bahnsteig hinauf und hinunter und konnte sie nicht sehen. Dann kam die Bahn und ich stieg ein. Der hintere Viererplatz war komplett frei und ich setzte mich. Als ich aufsah, da bemerkte ich, dass sie sich genau gegenüber von mir hingesetzt hatte. Ich betrachtete sie interessiert und verstand, wo sie geblieben war. Sie hielt eine Tüte mit einem Brot darin in der Hand. Umständlich verstaute sie die Tüte in einer Tasche, die sie zusammen mit ihrer Handtasche auf ihre Beine stellte.

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Verstohlen blickte ich auf ihre Knie. Sie trug einen Rock und meine Augen wanderten an ihren Beinen hinunter und plötzlich fiel mir noch etwas auf. Sie hatte etwas ausgeprägte Waden. Nein, keine auffallend dicken Waden, keinesfalls, ihre Beine waren schlank, aber an den richtigen Stellen muskulös. Offensichtlich trieb sie einen Sport, der ihre Waden so schön geformt hatte. Ich blickte nochmals in ihr Gesicht. Meine Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, welcher Sport zu diesem Menschen passen könnte? So sehr ich auch grübelte, ich hatte keine Vorstellung. Die Straßenbahn hielt und ich versuchte sie in meinem Traumdenken festzuhalten, doch sie war ausgestiegen. Ich blickte ihr nach, wie sie am Fußgängerüberweg zunächst warten musste, bis die Ampel umschaltete und sodann ihren Körper in Bewegung setzte. Im gleichen Augenblick fuhr die Straßenbahn an. Dieses wunderschöne Bild, das ich um jeden Preis in mir festhalten wollte, begann plötzlich wegzulaufen. Ihr Haar wurde beim Gehen vom Wind leicht an den Seiten angehoben und auch ihr Mantel, der vorne nicht geschlossen war, flatterte zaghaft an den Seiten. Die Spitzen der beiden unteren Mantelhälften machten in der sanften Prise Bewegungen wie Flügel. Als wollte sie sich aufschwingen und ich versuchte, das Bild aufzufangen und an einem sicheren Platz in meinem Inneren zu verwahren. Dieses Bild sagte mir etwas, erinnerte mich an etwas, aber ich wusste nicht woran. Zum wiederholten Male ging es mir an diesem Morgen so. Noch zwei Stationen, dann würde auch ich aussteigen, würde in dieses Gebäude gehen und die Treppen hinauf steigen, so wie jeden Morgen. In einem der Flure würde ich bis zum Nachmit-

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tag in einem Büro verschwinden, in dem mein Schreibtisch stand, auf welchem sich das Papier stapelte. Es war nicht gerade ein aufregendes Leben als Sachbearbeiter bei der Rentenversicherung, doch mit irgendetwas musste man sein Geld verdienen. Die Leute fanden meinen Job langweilig und ich ehrlich gesagt auch. Ich fand ihn nicht nur langweilig, ich kam mir durch diesen Beruf so vor, als hätte ich eine Behinderung, als sei ich in verschiedenen Dingen eingeschränkt und dabei konnte ich diese Behinderung oder Einschränkung nicht einmal konkretisieren. Es machte mich melancholisch, wenn ich an meinen Beruf dachte, weil ich die Befürchtung hegte, dass sich an meinem Leben nie wieder etwas ändern würde. Der Tag schlich dahin und ich blickte schon zum zehnten Mal zum Fenster hinaus und hinüber zu der Kirchturmuhr. Die Zeit schien einfach nicht vergehen zu wollen, schien stehen geblieben zu sein. Einige Augenblicke verharrte mein Blick auf dem Zifferblatt, während in meinem Kopf die Frage auftauchte, wie viel Vertrauen ich dieser Uhr schenkte. Ich wollte ihr nicht wehtun, nichts Schlechtes über sie denken, schließlich waren wir beide uns sehr vertraut. Doch vorsichtshalber schob ich die Manschette meines Hemdes etwas zurück und sah auf meine Armbanduhr. Wie gestochen sprang ich vom Stuhl hoch. »Nicht die Zeit ist stehen geblieben! Die Kirchturmuhr ist stehen geblieben. Schön reingelegt! Jetzt werde ich meinen Zug wohl nicht mehr erwischen!« Eiligst hatte ich die Jacke angezogen, die Tasche vom Boden hochgerissen und war aus dem Büro gestürmt. Ich rannte zur Haltestelle der Straßenbahn und dabei wusste ich nicht einmal, warum ich mich so fürchterlich beeilte. Eigentlich war es ganz egal, wann ich nach Hause kam. Dort

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wartete absolut niemand auf mich. Es war auch vollkommen gleichgültig, ob ich mit dem gleichen Zug fuhr wie an jedem Tag, oder einen später oder gar fünf Züge später. Was spielte das in meinem Leben schon für eine Rolle? Als ich die Haltestelle erreichte, blieb ich zunächst einmal stehen, schnappte nach Luft und starrte auf die Informationstafel. Leicht schnaufend las ich: »Aufgrund einer technischen Störung voraussichtlich dreißig Minuten kein Straßenbahnverkehr!« Ich musste schmunzeln. Zweimal innerhalb weniger Minuten hatte ich mich hereinlegen lassen. Zuerst die Kirchturmuhr und nun die Straßenbahn. Ich entspannte mich, ließ das Gefühl der Eile aus mir entweichen und verließ mit gemächlichem Schritt den Bahnsteig. Ich überquerte die Straße und trottete langsam in Richtung Bahnhof. Es war mir egal wann ich dort ankommen würde. Ich schlenderte an den Geschäften vorbei, sah in die Schaufenster, interessierte mich für Dinge, denen ich sonst keinerlei Aufmerksamkeit und Zeit schenkte. Meine Augen hatten sich schon von der großen Glasfläche der Scheibe gelöst, als ich plötzlich innehielt und ein paar Schritte zurück ging. Nochmals warf ich einen Blick durch die riesige Glasfront. Straßenbahn und Zug schienen in diesem Augenblick jegliche Bedeutung verloren zu haben. Etwas total Anderes hatte meinen Alltag mit ei-nem Schlag mit völlig neuem Leben erfüllt. In diesem Geschäft, da stand meine Schöne oder auch Nichtschöne, der ich seit dem frühen Morgen all meine Aufmerksamkeit und meine Gedanken geschenkt hatte. Sie stand in dieser Boutique neben den Anprobekabinen vor einem mannshohen Spiegel, hielt sich ein Kleid vor den Körper, das noch auf einem Bügel hing, und betrachtete sich sehr aufmerksam. Sie drehte sich von einer Sei-

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te zur anderen, den Blick nicht von dem Stoff des Kleides lassend. Es war mir jetzt unmöglich mich auch nur einen einzigen Schritt in Richtung Bahnhof zu bewegen. In meinem Inneren kam plötzlich ein Gefühl auf, das ich schlichtweg als Aufregung bezeichnen musste. Wie sollte ich mich von diesem Platz fortbewegen, ohne gesehen zu haben, wie sie in diesem Kleid aussieht. Es erschien mir unmöglich. Vielleicht hätte ich das Glück, sie darin sehen zu dürfen, vielleicht würde sie es gleich anprobieren und erneut vor den Spiegel treten, mich teilhaben lassen an dem Gefallen, den sie vielleicht an diesem Kleidungsstück finden würde. Sie verschwand in der Kabine und ich wartete angespannt, hörte, wie das Blut in meinen Halsschlagadern pochte. Die Minuten des Wartens erschienen mir wie eine Ewigkeit. Doch irgendwann war es so weit. Sie trat aus der Kabine heraus und stellte sich erneut vor den Spiegel. In diesem Moment hielt ich den Atem an und meine Augen weiteten sich. Es war, als wäre in diesem Augenblick in meinem Kopf ein Knoten geplatzt. All die Rätsel, die mich die ganze Zeit im Zusammenhang mit dieser Frau beschäftigt hatten, schienen plötzlich eine Lösung gefunden zu haben. Nein, ich war mir ganz sicher, dass der Gedanke, der mir gerade durch den Kopf geschossen war, genau der Richtige war. Es konnte gar nicht anders sein. Das Kleid lag sehr eng an ihrem Körper an, betonte ihn überaus, setzte ihn in Szene und erst unterhalb der Hüften gab es diese Enge auf, zeigte sich weiter, leicht verspielt und hatte diesen typischen und ausgeprägten Schlitz an der Seite. Bei diesem Anblick fielen mir nur zwei Worte als Lösung für all die Fragen ein, die ich mir an diesem Tag schon gestellt hatte. Zwei Worte,

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die nicht bloß Worte waren. Worte, die Leidenschaft verkörperten: »Tango Argentine!« Mit einem Schlag hatte mich all die Anspannung verlassen. Natürlich! Warum war ich nicht schon viel früher darauf gekommen. Meine Augen klebten an diesem Kleid und an ihr und sie drehte sich immer wieder vor dem Spiegel. Diese Bewegungen beflügelten meine Fantasie, riefen in meinem Kopf eine entsprechende Musik herbei. Wie durch ein Wunder waren ihre Bewegungen dort vor dem Spiegel genau im Takt der Musik in meinem Kopf. Plötzlich erinnerte ich mich an lange zurückliegende Stunden, an Musik und Bewegungen in Leidenschaft. Ich fragte mich, wie lange das schon her war? Krampfhaft versuchte ich mich genau zu erinnern, immer wieder abgelenkt durch den Tanz der Frau vor dem Spiegel. Sieben endlos lange Jahre war es her. Eine Ewigkeit. »Was wünschst du dir zum achtzehnten Geburtstag?« Lange hatte ich damals nicht überlegt. Freude durchfuhr mein Inneres, als ich mir bewusst wurde, welche Forderung ich nun stellen würde. »Es gibt nur eins, was ich mir wünsche. Ich möchte Tango tanzen lernen, Tango Argentine!« Verwundert hatten sie mich angeschaut, hatten meinen Wunsch aber trotz aller Skepsis und Verwunderung akzeptiert und so bekam ich an meinem Geburtstag einen Gutschein von einer Tanzschule. Es war nicht irgendeine Tanzschule, nein, es war eine Tanzschule, in der man ausschließlich Tango erlernen konnte.

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Sie war schon über zwanzig Jahre alt und ich gerade achtzehn. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es für mich das erste Mal war, dass ich einem Mädchen so nahe kam und ich war von den Gerüchen fasziniert, die von der jungen Frau ausgingen. Diese Düfte prägten mich und sie prägten meine Nase. Fortan verglich ich jeglichen weiblichen Geruch mit dem der jungen Frau aus der Tanzschule. Sie hieß Beatrix und sie war genauso begeistert von diesem Tanz wie auch ich. Zweimal in der Woche trafen wir uns in der Tanzschule und gaben uns der Leidenschaft für diesen Tanz hin. Wir waren sogar auf den Gedanken gekommen, in der Zukunft unser Geld mit diesem Tanz zu verdienen. Doch es kam alles ganz anders, denn Beatrix lernte die große Liebe kennen und die große Liebe nahm Beatrix mit in eine andere Stadt und ich, der Tangotänzer, blieb alleine in der Tanzschule zurück. Ich bekam eine andere Tänzerin, doch die war nicht Beatrix, und nachdem ich mich mit ihr ein halbes Jahr gequält hatte, da beschloss ich, einfach nicht mehr zur Tanzschule zu gehen. Schließlich gab es auch noch andere Sportarten, welchen man nachgehen und bei denen man auch Leute kennenlernen konnte. Sie drehte sich noch immer vor dem Spiegel und dann, dann hielt sie plötzlich in ihren Bewegungen inne, drehte sich mit einem Schlag herum und blickte mich direkt an. Ich kam mir ertappt vor, zuckte zusammen, ließ die Tasche zu Boden fallen und sah ihr bei alledem geradewegs in die Augen. Ich muss in diesem Augenblick einen unglaublich dämlichen Eindruck erweckt haben. Zumindest dachte ich so in diesem Moment. Sie schien jedoch alle diese Nebensächlichkeiten völlig zu ignorieren. Ihr Blick stellte für mich tausend Fragen und ich wusste zu-

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nächst nicht, was es für Fragen waren. Doch dann begriff ich. Ich blickte noch einmal an ihr herunter. Danach sah ich ihr ganz fest in die Augen und nickte nur. Ich hatte meine Zweifel, ob mein Nicken ernsthaft genug gewirkt hatte und lächelte verlegen. Für einen Augenblick schloss ich die Augen, lauschte der Musik in meinem Kopf und wünschte mir nichts sehnlicher, als sie zu diesen Klängen im Arm zu halten. Als ich die Augen wieder öffnete, da stand sie bereits an der Kasse und die Verkäuferin ließ das Kleid in eine Tasche gleiten. Sie kam aus dem Geschäft und ich stand noch immer an der Scheibe und blickte genau so dämlich in ihre Richtung. Direkt vor mir blieb sie stehen und sah mich ganz ernsthaft an. Es war, als würde sie auf etwas warten und ich, ich konnte nicht anders. Ich musste es wissen und sie nun fragen! »Sie tanzen, nicht wahr?« Sie blickte mich überrascht an und ihr Augen stellten schon wieder Fragen. »Tango Argentine tanzen sie, nicht wahr?« Plötzlich nahm dieses viel zu helle Make-up Farbe an, verlieh ihrem Gesicht unendlich viel Leben, und sie begann, über das ganze Gesicht zu strahlen. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie mich. Verlegen gab ich Antwort: »Ich wusste es nicht. Ich habe es einfach gespürt, schon länger, nur ist es mir heute erst bewusst geworden, was mich an Ihnen so fasziniert.« Ich wurde schon wieder verlegen. Sie hatte ihren Kopf leicht zur Seite gekippt und lauschte meinen Worten. »Tanzen Sie auch?« Ich schüttelte mit dem Kopf. »Ich habe mal Tango Argentine getanzt, aber meine Partnerin hat die Liebe ihres Lebens kennengelernt und ist in eine andere

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Stadt gezogen und ihre Nachfolgerin konnte mich nicht länger für diesen Tanz begeistern. Seit mehr als sechs Jahren habe ich schon nicht mehr getanzt!« Wir waren nebeneinander hergetrottet, immer in Richtung Bahnhof. Noch am Morgen waren wir uns unglaublich fremd und nun war es so, als würden zwei Menschen nebeneinander gehen, die sich endlos lange Zeit kannten. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, mit dieser Frau jemals ins Gespräch zu kommen und nun, ja, nun gab es da sogar gemeinsame Interessen. Als wir den Zug verließen, da hielt sie mich am Ärmel meiner Jacke fest und blickte mir fest in die Augen. »Möchten Sie noch einmal tanzen?« Ich sah den Glanz, die tiefe Leidenschaft, die da in diesem Meer in ihren Augen schwamm. Ich fühlte mich unendlich stark zu ihr hingezogen. In meinem Kopf begann wieder diese Musik zu spielen und wieder spürte ich das Blut in meinen Halsschlagadern pochen. Ich nickte und war mir bewusst, ich tat es aus voller Überzeugung heraus. Sie öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum. Dann fand sie, was sie gesucht hatte. »Haben Sie heute schon etwas vor?« Ich blickte sie lächelnd an und schüttelte mit dem Kopf. »Dann kommen Sie doch hier hin! Ich werde ab zwanzig Uhr dort sein und ich würde mich freuen, mal wieder mit jemandem tanzen zu können, der es versteht!« Sie drückte mir die Karte in die Hand, drehte mir den Rücken zu und machte sich auf den Weg. Ich begann zu lesen. »Buenos Aires, argentinisches Spezialitätenrestaurant und Tango-Tanzbar.«

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Ich beeilte mich zum Parkplatz zu kommen, stieg in den Wagen und fuhr nach Hause. Die Tasche ließ ich im Flur achtlos zu Boden sinken und wandte mich dem Schlafzimmer zu. Ich öffnete alle Türen des Kleiderschrankes, setzte mich auf das Bett und blickte ins Schrankinnere hinein. »Willst Du das wirklich tun?« Einen Augenblick gab ich mir Bedenkzeit, dann sprang ich vom Bett auf, zerrte den Frack aus dem Schrank, warf ihn hinter mich auf die Decke und begann das Bügelbrett aufzubauen. Es war fünf Minuten nach zwanzig Uhr, als ich das Lokal betrat, und im gleichen Augenblick begann das Orchester zu spielen. Kerzengerade ging ich hinein, mit herausgestreckter Brust und gegelten Haaren, die Schuhe auf Hochglanz poliert, an der Hose messerscharfe Bügelfalten. Meine Augen suchten nur eine einzige Person. Auf der Tanzfläche waren nur wenige Paare und sie, sie stand in ihrem neuen Kleid an der Bar und blickte zu mir herüber. Es war ein ganz anderer Blick als der, den ich kannte. Sie lächelte mich an, hielt mit einer Hand ihr Glas und ich glaubte zu sehen, dass sie die andere Hand vorsichtig nach mir ausstreckte. Ich ging zu ihr an die Bar, ergriff diese fast ausgestreckte Hand und küsste sie auf den Handrücken. Worte brauchten wir in diesem Augenblick nicht, denn ich konnte in ihren Augen lesen, was sich in ihrem Inneren abspielte. Es war, als sei der Moment gekommen, auf den sie unendlich lange gewartet hatte. Als die Musik verstummte, das erfasste sie meine Hand und ich wusste, sie würde mit mir auf die Tanzfläche gehen, um unsere Position einzunehmen. Sobald die Musik wieder einsetzen würde, begann das Spiel der Leidenschaft und der Bewegung. Für einen angespannten Moment standen wir auf der

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Tanzfläche, sahen uns an und dann setzte die Musik ein. Es war vom ersten Augenblick an, als würden unsere beiden Körper miteinander verschmelzen, zu einem werden, der von der Leidenschaft auf Wogen aus heißer Lava davongetragen wird. Für mich gab es nichts Erotischeres und Sinnlicheres als diesen Tanz. Nach und nach verschwanden die wenigen Pärchen von der Tanzfläche und postierten sich in genügend weitem Abstand um unsere drehenden Leiber herum, offensichtlich ergriffen von unseren Bewegungen und der Leidenschaft des Tanzes. Als die Musik verstummte, da gab es großen Beifall. Sie strahlte mich an. »Wie heißt Du überhaupt?« Sie sah mich mit diesen glühenden Augen an und wartete auf meine Antwort. Ich hatte keine Ahnung, ob ich jemals wieder einen Ton herausbringen würde, so sehr hatte mich dieser Tanz ergriffen. Ich spürte, dass meine Nackenhaare noch immer aufrecht standen. »Ich heiße eigentlich Christoph, aber alle meine Freunde sagen Carlos zu mir. Es ist wohl wegen des Tangos!« Sie musste lachen. Ich bemerkte, dass die Härchen an ihren Unterarmen auch noch aufrecht standen und sie dort eine Gänsehaut hatte. »Carlos ist genau der passende Name für Dich. Ich werde Dich auch Carlos nennen. Ich heiße übrigens Alexa!« Die Musik setzte wieder ein und ich richtete meinen Körper auf, hielt sie mit meinen Händen und schon begannen wir, uns wieder zu drehen, unsere Körper zu strecken, die Bewegungen zu vollführen, welche die Musik uns abverlangte und unsere

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Leidenschaft und die des Tanzes uns diktierte. Kaum einen der Tänze hatten wir ausgelassen, nur hin und wieder einen, um uns an der Bar etwas zu trinken zu bestellen und die Glut in unserem Innern etwas zu kühlen. Es fiel mir zunehmend schwerer, in ihre dunkel schimmernden Augen zu sehen. Es war, als würde ich vor einem dunklen See stehen und etwas aus diesem See lockte mich an, um mich hinabzuziehen in diese endlose Tiefe. Immer wieder streiften ihre Augen über meinen Körper und schienen ihn von oben bis unten abzutasten. Schauer überliefen mich bei jedem dieser Blicke. »Hast Du gespürt, wie sich unsere Körper vereinigt haben?« Ich blickte ihr in die Augen, in diese Glut, in dieses Feuer, von dem ich sicher war, dass es mich verschlingen wollte. »Ja, aber leider nur beim Tanz!« Es war ein Gedanke und sollte es auch bleiben. Mein Gedanke, mir gehörend, mein Geheimnis. Ich wollte es nicht sagen. Ich spürte auch, wie mir die Schamröte in diesem Augenblick ins Gesicht stieg. Ich hatte diesen Gedanken tief in meinem Inneren produziert, hatte ihn dort tanzen lassen, mich an ihm erfreut. Doch plötzlich waren seine Drehungen wohl zu schnell geworden, er war außer Kontrolle geraten, hatte diese geheime Kammer verlassen. Bei mir hätte er bleiben sollen, doch ich hatte ihn einfach nicht halten können. Er war mir entglitten, hatte sich verselbstständigt und war mir einfach über meine Lippen entwichen. Sie blickte mich immer noch leidenschaftlich an und plötzlich fasste ihre Hand nach meiner. Ganz fest hielt sie meine Hand und ich spürte die Feuchte ihrer Haut. Es war nicht einfach ein sich an den Händen halten. Es war eine Umklamme-

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rung, ein Festhalten in der Angst, etwas zu verlieren. »Komm«, sagte sie und zog mich mit sich. Als ich aufwachte, da erinnerte ich mich an all diese Drehungen, an das Schweben, an die Musik und die Gänsehaut. Ein Traum, ein unendlich schöner Traum, von dem ich mir wünschte, er würde nie zu Ende gehen. Mit einem Mal riss mich etwas in die Gegenwart und ich blickte mich um. Es war nicht mein Schlafzimmer. Der Raum war mir fremd und doch schien er mir bekannt. Es war auch nicht mein Bett und doch hatte ich eine unendlich glückliche Nacht darin verbracht. Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite und erblickte ihre dunklen Locken. Meine Hand tastete vorsichtig nach ihrem Kopf, strich behutsam über ihren Nacken. Ich beugte mich zu ihr hinüber, suchte ihr Ohr und begann zu flüstern: »Es war Tango! Eine ganze Nacht lang Tango Argentine!«

Weitere Kurzgeschichten dieser Art finden Sie in meinem erst kürzlich veröffentlichten E-Book: Gesichter der Zweisamkeit

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Gesichter der Zweisamkeit Robert Bruckart Erhältlich als E-Book Preis 3,07 € Nichts beschäftigt uns Menschen in unserem Leben wahrscheinlich mehr, als in glücklicher Zweisamkeit zu leben und trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass es nicht gerade einfach ist, eine solche zu finden. Dabei entgeht uns oft, dass wir es meist selbst sind, die einer solchen Zweisamkeit hinderlich im Wege stehen. Und noch eins sei gesagt; Zweisamkeit ist nicht gleich Zweisamkeit. Mein Kurzgeschichtenband mit dreizehn Geschichten erzählt Episoden aus dem Leben von Menschen, bei denen Zweisamkeit und die Suche nach ihr, wie auch das Ende einer Zweisamkeit, eine wesentliche Rolle spielt.

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gegen den strom Andreas Hämer 6.1.2013

und kommen und gehen die ströme des atems wie ebbe und flut wie wellen und rollen zurück ins endlose meer und wogen die worte gesprochen, gehört vergessen, beschwert verwehend im winde, wer weiß je wohin in erdferner zeit und bleiben wie spuren und wirken und weisen die welt und den weg die wunden vernarben sie nicht und nagen zur nacht verwehen, vergehn wohl die spuren im wind und uralte angst im rauschen der zeit, begrabt doch was grollt, noch vor tag

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Wenn's Katzen und Hunde regnet Andreas H채mer 20.5.2013

Ich lass mir lange Weile vertreibe nicht die Zeit Still darf sie stehen bleiben bis sie von selber geht und ich geh mit. Der Morgen atmet Freude grundtief in mich hinein. Der tagelange Regen bringt Himmel auf die Erde von der ich bin.

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advent im mai Andreas Hämer 18.5.2013

und ist der morgen trüb wie ohne frühling, kühl und trist verhangen, dumpf versagt uns die sonne ihr gold und droht mit dauerndem regen hör hin ist’s nicht, als ob ein amseljubelschrei die schwere luft zerreißt ein mönchsgrasmückenliebeslied das unbekümmert jauchzend im jungen grün der buchen uns schwätzendflötentrillernd zuspielt die lieben grüße der sonne lachend noch hinter hundert wolkengrau

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Es perlen die Tage Andreas Hämer ISBN 978-3-935431-25-5 Ladenpreis 12,80 € In den vielfältigen und brisanten Gedichten im Werk „Es perlen die Tage“ von Andreas Hämer geht es um Politik, Frieden, Kirche und Religion, Natur und umgedichtete Kirchenlieder. Ansprechende Illustrationen vom Grafiker Dietmar Fiessel erweitern die Interpretation der Gedichte. Beim Lesen der Gedichte kann man nachdenken und auch schmunzeln. Die Polarität zwischen Aufrütteln und Träumen kann eine Spannung erzeugen, die zur Reflexion über die eigenen Sichtweisen anregt und zum Handeln motiviert.

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Alles Abzocke (oder der Springer) Dr. Christine Reiter

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ünchen Hauptbahnhof, planmäßige Ankunft 11Uhr 29.

Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr: 11 Uhr 45. Leider ist auf die Deutsche Bundesbahn auch nicht immer Verlass! Hastig greife ich Koffer, Tasche, Handtasche (habe ich in dem Koffer Goldbarren versteckt? Jedenfalls ist er wahnsinnig schwer!) und klettere eilig die Leiter des Zugwagons hinunter. Bereits um 12 Uhr 30 ein Gespräch mit Herrn Dr. Neu, vorher noch ins Hotel, um mich ein wenig frisch zu machen…Ich haste den Bahnsteig entlang, mein Gepäck ist schlicht zu schwer! Ich habe mal wieder zu viele Schuhe eingepackt, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, es dieses Mal bei einem Paar Ersatzschuhen bewenden zu lassen. Bücher wiegen auch schwer: Von den vier Romanen, die ich für drei Nächte als Bettlektüre eingepackt habe, nehme ich wahrscheinlich drei wieder ungelesen mit nach Hause. Glücklicherweise finde ich einen Gepäckkuli und habe auch noch passend ein 50Cent Stück zur Hand, mit dem ich den vordersten Wagen von der Kette lösen kann. Gepäck auf den Kuli und nichts wie weiter - die Zeit drängt. Ich eile auf einen der Bahnhofsausgänge zu und habe Glück, denn dort stehen zahlreiche Taxis. Den Kofferkuli habe ich ordnungsgemäß wieder abgestellt, als ich zielstrebig auf das erste Taxi in der Reihe zueile - ich weiß inzwischen, dass auch bei Taxifahrten in Deutschland eine strenge Reihenfolge einzuhalten ist. Der Taxifahrer, ein schwarz gelockter Jüngling, bleibt allerdings in seinem Wagen

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sitzen, lässig mit dem Daumen nach vorne zeigend. Als ich ihm gerade erklären will, dass sich vor seinem Wagen kein weiterer befinde - mag ja sein, dass ich es hier mit einem kurzsichtigen Menschen zu tun habe - sehe ich einen dickleibigen Mann (ich schätze ihn auf Anfang 60) auf mich zukommen. »Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen«, sagt er und zeigt dabei auf ein Taxi - vermutlich sein Taxi - in einer parallelen Schlange von parkenden Taxis. Sein bayrischer Dialekt bestätigt meine Vermutung, dass ich es hier mit einem richtigen Ur-Bayer zu tun habe - fehlt nur noch die Lederhose. »Das ist mir sehr recht, Sie kennen sich hier in München bestimmt bestens aus«, sage ich laut und erwidere sein Grinsen mit einem zaghaften Lächeln. »Das kann man schon so sagen!«, erwidert er selbstsicher, während er den Kofferraum seines Wagens öffnet. Ich lade selbst mein Gepäck ein, bevor ich mich leicht erschöpft auf den Rücksitz fallen lasse. Ich nenne den Namen eines kleinen Münchener Hotels, und er weiß tatsächlich sofort Bescheid, kennt sogar die Hausnummer. »Gemütliches kleines Haus«, meint er, und mehr zu sich selbst brummelt er: »Das kann man schon sagen, dass ich mich auskenne! - Hat mal eine Dame zu mir gesagt« - inzwischen hat er sich wieder mir zugewendet - »wenn du einen Anzug anhättest, tät’ ich dir alles glauben! Das war bei einem Pornodreh. Ich war aber kein Darsteller!« Kurzes Schweigen. Krampfhaft überlege ich, ob ich hier zu einem Sittenstrolch in den Wagen gestiegen bin. Aber eigentlich sieht dieser ältere Mann da harmlos aus: Seine dicken Backen

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verleihen ihm eher ein unschuldiges Aussehen, fast wie ein Kind schaut er mich mit seinen strahlend blauen Augen im Rückspiegel an. »Ich war kein Darsteller«, wiederholt er. »Nur Springer!«, fügt er stolz hinzu. Sollte ich jetzt fragen, was um Himmelswillen ein ʺSpringerʺ in dem Zusammenhang ist? Mir wird allmählich ein wenig unbehaglich zumute. Hatte ich nicht neulich noch von einem unzüchtigen Taxifahrer gelesen… »Es wird alles teurer heutzutage, alles Abzockerei«. Na, Gott sei Dank Themenwechsel. »Da, da steht’s wieder drin« - er fuchtelt mit der Münchener Tageszeitung herum, die ich bereits vorher auf dem Beifahrersitz gesehen hatte, hält mir das Blatt entgegen - »Betrug mit Bausparverträgen. Da baut einer ein Haus, und jeden Tag wird’s teurer.« Noch ehe ich überlegen kann, was der Betrug beim Hausbau mit Pornos gemeinsam hat, fängt er wieder an: »Sagt die Dame doch glatt, wenn der 'nen Anzug anhätt', tät' ich dem fast alles glauben. Das war bei so einem Dreh, sie hatte nichts an und« er zögerte ein paar Sekunden - »und ich auch nicht, es war ein Porno, da ist das so.« Wieder betretenes Schweigen meinerseits, was sollte ich dazu auch sagen? Themenwechsel wäre meine Rettung. Als könnte er Gedanken lesen, fährt mein Bayer nun mit seinem zweiten Thema fort (es handelt sich ja um einen ʺSpringerʺ, fällt mir nun wieder ein): »Alles Abzocke. Die kommen auf alle Tricks, wenn sie einem was verkaufen wollen.« Dankbar ergreife ich blitzschnell den Strohhalm: »Ja, es wird alles teurer. Seit dem Euro…«

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»Ja, ja, die setzen alles daran, die Steuern zu erhöhen«, ereifert mein Taxifahrer sich sogleich. »Jetzt haben sie sogar die Tabaksteuern erhöht, so dass man die Zigaretten gar nicht mehr bezahlen kann.« Er fuchtelt im Handschuhfach herum, zieht ein angefangenes Päckchen Tabak heraus - welch ein Glück, dass die Am-pel gerade auf Rot steht! Als sie auf Grün springt, fährt er weiter, dreht das Tabakpäckchen dabei in seinen Händen und brummt vor sich hin: »Jetzt finde ich gar nicht mehr den Preis… Die sind ja dumm. Bringen ihre Kunden um, statt einen Tabak zu erfinden, in dem kein Nikotin enthalten ist!« Plötzlich springt mein ʺSpringerʺ wieder zu seinem ersten Thema: »Die wollte mir nur 'nen Anzug verkaufen, die Dame, die gesagt hat, dass sie mir alles glauben tät', wenn ich einen Anzug anhätt'. Was hätte ich denn mit einem Anzug machen sollen, damals…« Seinem Blick nach zu urteilen weilte mein Taxifahrer augenblicklich in der Vergangenheit. »Ist alles schon ein paar Jährchen her… Heute könnte ich allenfalls noch bei ʺ7 Zwerge allein im Waldʺ mitspielen«, sagt er nun wieder an mich gewandt. Diese Feststellung scheint witzig gewesen zu sein, denn mein Fahrer lacht, während ich überlege, ob es sich bei dem genannten Film um einen Pseudoporno handelt. »Ich war damals aber kein Pornodarsteller, nur Springer«, be­ teuert er dann nochmals, nun wieder an mich gewandt. Jetzt siegte meine Neugierde. »Was ist denn ein ʺSpringerʺ?«, will ich wissen, denn mir ist klar, dass er selbst den Ausdruck nicht auf seinen ständigen Themenwechsel bezieht. »Das ist einer, der aushilft, wenn ein Darsteller mal verhindert

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ist«, kommt prompt die Erklärung. Angeblich ist mein ʺkleines gemütliches Hotelʺ ja gar nicht weit vom Bahnhof entfernt, aber plötzlich dauert mir die Fahrt zu lange. Mir ist heiß und ich frage zaghaft meinen so vielseitigen Fahrer, ob es noch weit bis zum Hotel Astoria sei. »Das liegt in der Nähe von der Leopoldstraße…Da haben Sie Glück gehabt, dass Sie überhaupt etwas in der Innenstadt gefunden haben. Die großen Hotels sind immer alle belegt. Und so teuer…das ist die reinste Abzocke!« Endlich erblicke ich das kleine gelbe Gebäude, das ich mir schon per Internet angeschaut habe, das Hotel Astoria. Zumindest in dem Punkt scheint der Taxifahrer auf jeden Fall die Wahrheit gesagt zu haben: ein ʺkleines gemütliches Hotelʺ mit nicht zu übersteigerten Preisen, wie ich selbst weiß. Wir fahren in die Einfahrt - »ich kann Ihnen leider mit dem Gepäck nicht behilflich sein. Bin vor vier Wochen von einem LKW gefallen, habe mir die linke Schulter gebrochen. Ich war aber nicht beim Arzt. Die kennen sich sowieso nicht aus, sind alle nur Abzocker.« Währenddessen schaue ich auf das Tachometer: 12 Euro 40 für 4 Kilometer. Und ich muss meinem Taxifahrer recht geben: Die reinste Abzocke!

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Fühlst du es? Monika Jehl, 20. April 2013

Wenn roter Mohn in Blüte steht, mein Herz auf Seelen-Reise geht, erkennt mein tiefes Ahnen und Streben die Gewissheit, weshalb wir wirklich leben: Das „ Jetzt “ bewusst erspüren, genießen Lässt Wundervolles neu ersprießen Träume sich strahlend zusammenweben Gedanken in weißen Wolken schweben

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Des moments magiques à Paris Jörg Bur, 18.05.2013

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m April 1995 befand ich mich gemeinsam mit einer Gruppe von Studenten und Professoren auf Studienfahrt in Paris. Nach Absolvierung des üblichen Touristenprogramms und der Besichtigung diverser Museen hatten wir am letzten Tag unserer Exkursion einige Stunden zur freien Verfügung. Mein Kommilitone Mathias und ich verließen die Orangerie, wo wir zuvor Monets beeindruckende Seerosenbilder bewundert hatten, um uns auf den Weg zum Centre George Pompidou zu machen. Auf halber Strecke beschloss Mathias, für seine Freundin ein Buch über Monets Bilder zu kaufen. Während er zur Orangerie zurück eilte, setzte ich meinen Weg zum Centre Pompidou fort, wo wir uns auf einen Kaffee treffen wollten. Denn Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe, sondern auch der unzähligen Cafés. Gegen 18:00 Uhr trafen wir uns dann vor der Millennium Clock. Rech­ ter Hand entdeckten wir ein Café mit Außenbestuhlung und beschlossen, dort unseren Kaffee zu trinken. Nach einer kurzen Überprüfung der gemeinsamen Barschaft stellten wir fest, dass unser Geld gerade noch für zwei Kaffee und ein gemeinsames Päckchen Zigaretten reichen würde. Einige Minuten später saßen wir an einem kleinen Tisch und genossen beides. Wir sprachen kein Wort, lächelten uns nur an und betrachteten die vorbeigehenden Passanten, lauschten der Vielzahl von Geräuschen und betrachteten die Millennium Clock, welche unermüdlich die noch verbleibende Zeit bis zum Beginn des neuen Jahrtausends rückwärts zählte. Es war ein magischer Augenblick, wortlos und in absolutem Einklang mit Mathias, all den Menschen um uns

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herum und ohne jedweden Gedanken an das Gestern oder das Morgen. Ich war einfach nur anwesend, wunschlos glücklich, erfüllt von einem Gefühl vollkommener Freude. Als wir später unseren Weg fortsetzten, unterhielten Mathias und ich uns über diesen Augenblick und stellten fest, das wir beide gleichermaßen empfunden hatten. Doch Paris war großzügig und so sollten wir noch einen weiteren magischen Augenblick erleben. Nach einem gemeinsamen Abendessen mit Ilka und Sabine standen wir vier in einem Tunnel der Metro und warteten auf den nächsten Zug. Dabei entdeckten wir einen Pantomimen, der sich zu dem Song "Moments in Love" der Gruppe "The Art of Noise" wie in Zeitlupe über den Bahnsteig und die Sitzbänke hinweg bewegte. Sein Auftritt faszinierte unser so sehr, dass wir mindestens vier Mal die U-Bahn fahren ließen, um seine Performance bis zum Ende verfolgen zu können. Und wieder stellte sich dieses besondere Gefühl der Einheit mit allen Anwesenden ein, diese zeitlose Präsenz ganz im Hier und Jetzt. Nach dem Ende des Auftritts spendete das Publikum begeisterten Applaus, einige Fahrgäste warfen dem Pantomimen sogar quer über die Bahngleise Geld zu. Im Anschluss nahmen wir die nächste Metro und saßen schweigend, lächelnd und mit leuchtenden Augen im Abteil bis wir aussteigen mussten. Paris hat mir an diesem Tag zweimal ein Geschenk gemacht, das man nicht erwarten kann, sondern nur erhält, wenn man bereit ist für den Augenblick. Wann immer ich "Moments of Love" höre, denke ich zurück an Paris, dieses magische Paris.

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Sommerimpressionen Susanna Bur

Zauber der Landschaft Träume aus Form und Farben Im Fluss der Zeiten Abendlicht am Meer Der endlose Himmel malt Mit Wasser Farben Hinter dem Marktstand Taumelflug einer Wespe Voll der süßen Frucht Sommer im Garten Schmetterlingstanz auf Blumen Wespenstich für mich Die Koffer packen Den Meerblick weitergeben Rückfahrt nach Hause Verspätung des Zugs Unverhofft zehn Minuten Zeit für mich allein Farbe auf Papier Unendliche Möglichkeit Das Glück zu fangen

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REVES D'ENFANT Huguette Wolf

Quand j’étais enfant, Je savais, je savais Que les mots magiques font avancer les nuages Quand il y a du vent. Quand j’étais enfant, Je croyais, je croyais Qu’un jour, j’aurais des ailes et que je volerais Bien sûr sur l’océan. Quand j’étais enfant, Je pensais, je pensais Qu’en allant à l’horizon, je toucherais le ciel Et le soleil couchant Quand j’étais enfant, Je sentais, je sentais Que la lune me surveillait, me regardait Tout en me suivant. Quand j’étais enfant, Je ne savais pas, je ne pensais pas Que je réaliserais mes rêves d’enfant. Aujourd’hui, je sais que mes rêves d’enfant Se sont tous envolés, emportés par le vent. Alors avec mes ailes, Je vais tous les rattraper au soleil couchant .

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Grafik einf端gen

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E FRIEND IRIS GUTRIED, 2008

E Friend, des esch me wie e Fierel, Es esche ebs wunderbàrres, E Hoffnung, E Scheni Sunn E Gàrde, Met Blueme de zittere, E Befreiung, E Harz voller Freid, E tieffi Quall, E grosses Licht, E Friend, des esch e Herrgott’sgschank, E esch me wie e einfaches Fierel E esch e unerhoffti Freid.

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A La Petite Pierre, L'association en collaboration avec la Municipalité, l'association Sports Loisirs et Culture, le Club Vosgien ont inauguré le 1er Avril 2000 un

JARDIN DES POETES. En le visitant vous pouvez découvrir des panneaux de poèmes d'enfants et d'adultes, une sculpture installée le 3 juillet 2011, la vue sur le "Staeddel" avec l'église et le château, et le merveilleux cadre de la forêt environnante. Ouvert au public toute l'année le jardin vous accueille pour vous reposer, méditer... Comme les enfants vous pourrez rêvasser et composer des poèmes, et nous les faire parvenir…

www.jardindespoetes.fr 47


Gibt es ein Leben vor dem Tod? Susanna Bur

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erner Keller lag seit 14 Tagen im Krankenhaus.

Er war schon immer sehr schlank gewesen, aber nun, nachdem ihm ein Teil seines Magens entfernt worden war, und er seit langem nichts mehr essen konnte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Abgemagert bis auf das Skelett lag er im Bett, die Haut blass, leicht ins Grau übergehend. Er war kraftlos und wollte nur noch schlafen. Der Arzt hatte bereits mit seiner Frau und seinem Stiefsohn gesprochen und ihnen mitgeteilt, dass es sehr schlecht aussehe, Werner die Krankheit und Operation möglicherweise nicht überleben würde. Else Keller war weinend zusammen gebrochen. Die beiden waren seit 25 Jahren verheiratet und während dieser Zeit nicht einen Tag getrennt. Ihren Sohn Heinz hatte Else aus erster Ehe mit einem Franzosen mit in die Ehe gebracht, der im Krieg gefallen war. Werner war Heinz immer ein guter Stiefvater gewesen. Werner Keller arbeitete seit über zwei Jahrzehnten in einem kleinen Klebstoffwerk in einem Vorort von Mainz mit 20 Kollegen. Der Inhaber, Chef, wie er von allen genannt wurde, war ein halber Franzose. Er war nicht nur der Chef, sondern auch ein Patron der alten Schule der Französischen Art, der auch viel Verantwortung für das Privatleben seiner Mitarbeiter trug. Er besaß oben im Gebäude des Klebstoffwerkes einige Wohnungen, von denen die Familie Keller eine bewohnte.

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Mit den meisten Kollegen hatte Werner Keller nicht nur die Arbeitszeit verbracht, sondern auch größtenteils das Privatleben. Dies auch unter anderem, weil alle über einige Ecken irgendwie miteinander verwandt waren und sich auch gegenseitig den Arbeitsplatz vermittelt hatten. Ein lähmender Schock lag nach der Stellungnahme des Arztes über dieser Sozialgemeinschaft. Einer der ihren sollte plötzlich nicht mehr da sein, einfach so nie wiederkommen, eine riesige Lücke hinterlassen, die durch nichts wieder zu schließen war. Die Stimmung war gedrückt, alle Gespräche drehten sich um das Leid von Werner, seiner Frau und der Tatsache, dass mit Werner ein Freund, Verwandter, Kollege und Mitarbeiter fehlte. Jens Halverson übernahm zusätzlich die Arbeit von Werner Keller am Rührwerk II, das bedeutete aber viele Überstunden, was kaum zu bewältigen war. Sein Sohn Andreas Halverson arbeitete als ungelernte Hilfskraft mit im Unternehmen, Er erledigte Handlangerarbeiten für dies und das. Er kannte sich aber mittlerweile so gut aus, dass er die Arbeiten an Rührwerk II hin und wieder übernahm. Der Vorarbeiter besprach die dringende Notwendigkeit einer Arbeitskraft an Rührwerk II mit dem Chef und Andreas hatte seine neue Zuständigkeit. Es gab da noch so einen entfernten Cousin des Kollegen Josef Müller, der gerade seine Arbeit als Kanalarbeiter verloren hatte und mal eben die Hilfstätigkeiten von Andreas Halverson übernehmen konnte. Der Cousin wurde eingestellt. Das alles lief über mündliche Besprechungen mit dem Vorarbeiter und dem Chef, Arbeitsverträge gab es eh keine, das war im Jahr 1970 auch nicht unbedingt notwendig, ein Wort war ein Wort und bei einem Patron sowieso.

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Heinz Keller hatte seine Mutter Else zwischenzeitlich zu sich, seiner Frau und den drei Kindern ins Haus geholt. Else konnte nicht in der Wohnung allein gelassen werden mit ihrem Schmerz und ihrer ungewohnten Einsamkeit. Heinz bewohnte mit seiner Familie ein altes Bauernhaus in der Nähe von Mainz, Platz war genug vorhanden. Allmählich hatte Else Keller auch keine Tränen mehr. Es war Sommer und sie übernahm einige Arbeiten im Haus und Garten der Familie ihres Sohnes, um sich abzulenken. Hier war mehr zu tun als in ihrer kleinen Wohnung und schöner war es mitten in der Natur sowieso. Ganz davon abgesehen, dass sich die drei Enkelkinder riesig über die Anwesenheit ihrer Oma freuten. Heinz Keller war gerade angeboten worden, das Bauernhaus zu kaufen, es war preiswert - es gab viel zu reparieren - er war Handwerker und konnte das bewältigen. Nur wenn Else in ihre Wohnung zurück musste, um etwas abzuholen oder zu erledigen, weinte sie wieder bitterlich und ergoss sich in Erinnerungen. Wie sollte das nur weitergehen, wenn Werner nicht mehr zurückkehren würde? Über den möglichen Tod des Vaters, Großvaters und Ehemannes wurde selten gesprochen, niemand wollte, dass Else wieder zu weinen begann. Aber da Werners Zustand sich nicht verbesserte, konnte das Thema nicht ganz vermieden werden. »Mama, willst du nicht ganz zu uns ziehen?«, fragten Heinz und seine Frau eines abends nach dem Essen, »wir haben Platz genug und du fühlst dich doch hier wohl.« Else weinte wieder aber nickte zustimmend und meinte, sie könne sich das vorstellen und lächelte das erste Mal nach so langer Zeit.

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Ein paar Tage später wurde die finanzielle Seite dieses Schrittes auch besprochen. Else würde aus einer Lebensversicherung ihres Mannes Geld erhalten, das sie ihrem Sohn zur Finanzierung des Hauses geben konnte. Von ihrer Witwenrente würde sie dann auch lieber ihrem Sohn eine Miete zahlen, statt dies an den Chef zu tun. Finanziell wäre es also für die Familie ein kleiner Vorteil. Else liebte es auch, für die größere Familie zu kochen, statt nur für zwei Personen. Sie konnte sich mit den Enkeln und dem großen Garten beschäftigen, was ihr alles sehr gut tat. Sie hatte sich immer ein Haus mit Garten gewünscht, was sie sich aber zusammen mit ihrem Mann nie leisten konnte. Der Chef und selbstverständlich auch die Kollegen wurden in­ formiert, dass Else - falls Werner Keller sterben sollte - aus der Wohnung über der Firma ausziehen und bei ihrem Sohn wohnen würde. Erleichterung machte sich in der Sozialgemeinschaft breit, die Sorge um Elses Wohlergehen war allen von den Schultern genommen. Silvia Wagner war eine Büroangestellte in der kleinen Firma. Sie hatte vor einigen Monaten geheiratet und suchte mit ihrem Mann eine neue Wohnung. Sie fragte ihren Chef nach der Mög­ lichkeit, in die Wohnung der Kellers einzuziehen, falls halt eben, wie es aussieht, der Fall eintreten würde …, es wäre doch so praktisch, sie brauche dann nur die Treppen im Haus hinunter zu gehen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Der Chef war einverstanden, er war froh, dass sich die Neuver­ mietung seiner Wohnung so unbürokratisch und hausintern regeln ließ.

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Die zu Beginn täglichen Besuche der Familie und Kollegen im Krankenhaus wurden weniger. Werners Zustand verbesserte sich nicht, man gewöhnte sich langsam daran. Es wusste auch niemand so recht, wie man mit einem Todkranken umgehen sollte. Worüber konnte geredet werden. Werner war immer so schläfrig und schwach. Das Gespräch über Krankheit und Tod wurde vermieden, das war unangenehm, wurde beiseite gedrängt. »Das wird schon wieder. Halte durch. Bald bist du wieder zu Hause,« waren so die Worte, die die Besucher an Werner richteten. Jeder war froh, wenn er das Krankenhaus wieder verlassen konnte und nichts mehr von Krankheit und Tod in seiner Umgebung sah. Niemand sprach es konkret aus, aber um den heißen Brei herum fiel die ein und andere Bemerkung darüber, dass es für den armen Werner wohl besser wäre, wenn das Leiden endlich ein Ende hätte. Das Leben pendelte sich ohne Werner ein, er lag jetzt bereits 12 Wochen im Krankenhaus. Else fühlte sich bei ihrem Sohn wohl, der inzwischen den Kaufvertrag für das Bauernhaus unterschrieben hatte. Andreas Halverson erledigte seine Arbeit am Rührwerk II zu aller Zufriedenheit. Die neue Hilfskraft war emsig, zuverlässig und glücklich, so schnell einen neuen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Frau Wagner plante ihren Umzug. Die Stimmung in der kleinen Sozialgemeinschaft war erheblich besser geworden, die Veränderungen hatten für alle Betroffenen die Aussicht auf einen neuen und - möglicherweise schöneren Lebensabschnitt in Aussicht gestellt. Bis zu jenem Tag, als Erwin Lehmann seinen Kollegen Werner im Krankenhaus besuchte. Er kam zurück in die Firma und berichtete freudig: »Stellt Euch vor, Werner geht es besser. Er hat

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im Bett gesessen als ich kam, gelächelt und dann auch seine ersten Schritte versucht.« Die Stimmung in der kleinen Sozialgemeinschaft kippte ins leicht Unbehagliche. Die Gespräche in der Familie und unter den Kollegen verstummten, jeder ging in Gedanken versunken seiner Beschäftigung nach. Das Thema Werner, das fast schon erledigt war, schob sich wie eine dunkle Gewitterwolke vor alle sonnigen Pläne. Es kam noch schlimmer. Werner Keller erholte sich, wurde gesund und nahm seinen Platz im Leben bei der Arbeit, Frau und Wohnung wieder ein.

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Enjoy Digital Painting Digitales Malen mit GIMP Susanna Bur ISBN 978-3-944306-01-8 Preis: Print 24,90 € E-Book, Kindle Edition 4,74€

Dieses einzigartige Handbuch zeigt Ihnen anhand von 34 detaillierten Tutorials, wie Sie klassische Maltechniken am Computer umsetzen können. Das Spektrum ist groß: von der sehr einfachen Smudge-Technik über Zeichnung mit Bleistift, Buntstiften, Kohle und Pastell, bis hin zu Öl-, Acryl- und Aquarellmalerei sowie Mischtechniken. Lassen Sie Ihrem kreativen Drang, schöne Bilder zu malen, freien Lauf. Der Monitor Ihres Computers ist Ihr Fenster zum digitalen Reich und GIMP ist Ihr Werkzeug. Starten Sie die Reise durch Ihre Visionen, ob abstrakt oder realistisch, ob Ihre Reise Sie zu den Blumen im Garten führt, zu Fantasiewelten oder durch den Himmel ins Weltall, es gibt keine Grenzen. Lernen Sie, wie Sie in einfachen Schritten aus einer Fotografie ein Meisterwerk erstellen. Dieses Buch enthält auch viele praktische Tipps zum Einrichten des kostenlosen GIMP Bildbearbeitungsprogramms zu einem perfekten Werkzeug für die digitale Malerei. Selbstverständlich lassen sich die Techniken auch in vielen anderen Bildbearbeitungsprogrammen umsetzen.

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Projekt Selfpublishing Susanna Bur, Jörg Bur Veröffentlicht bei issuu Kostenlos Eine Kurzanleitung zum erstellen und optimieren von Büchern mithilfe von kostenlosen Anwenderprogrammen. Erfahren Sie, wie Sie Schritt für Schritt von der Definition des Zieles Ihr Buch für den Druck und Verkauf gestalten können. Sie finden Hilfen bei der Textverarbeitung, einfügen von Bild– und Grafikdateien und Gestaltung des Covers. Der zweite Teil behandelt das Thema E-Book. Gestalten und konvertieren Sie Ihr Buch für die unterschiedlichen E-Book-Reader.

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Frühlingsmorgen Susanna Bur

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litze zucken durch den nachtblauen Himmel, gefolgt von einem Donnergetöse, das die Luft vibrieren lässt.

Es ist frühmorgens im Mai nach einer schwülen Nacht. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, draußen tobt die Natur lautstark mit all ihrer Macht. Ich stehe auf und öffne die Balkontür, um den Himmel zu beobachten. Ich liebe Gewitter. Blitz und Donner folgen einander immer schneller und heftiger. Im Osten am Horizont ist ein heller Streifen zu sehen, der nahende Sonnenaufgang. Ich koche mir eine Tasse Kaffee und stehe in der offenen Balkontür, ich atme die gereinigte Luft, eine Befreiung nach dieser schwülen Nacht. Ein heftiger Platzregen setzt ein, dann fallen Hagelkörner, es wird kühl. Der Hagel türmt sich auf in den Balkonkästen, auf dem Tisch, auf den Stühlen. Ich genieße jeden Blitz, der durch den anbrechenden Tag zuckt, und jeden Donnerschlag, der ihm folgt. Eine unglaubliche Kraft steigt in mir hoch. Der Hagel geht wieder über in Regen, in eine Regenwand, die so dicht ist, dass ich über den Hof gerade noch die Konturen der anderen Häuser sehen kann. Ich atme durch und fühle mich wie eine Pflanze, die endlich von dem ersehnten Regen benetzt wird. Ich möchte raus, mitten rein in die Naturgewalt, mit ihr tanzen und fliegen und die Schönheit genießen. Es ist heller geworden, aber noch kämpft die Sonne gegen die dunklen Gewitterwolken. Ich sehe nach oben und bei jedem zu-

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ckenden Blitz, der den Himmel grell erhellt, scheint es mir, als würde ich den riesenhaften Thor sehen, der wütend seinen Hammer schwingt. Was hat ihn so verärgert, denke ich, will er die Sonne zertrümmern? Gab es wieder einmal Streit beim nächtlichen Saufgelage in Walhalla! Ich winke ihm zu, lächle und sage: »Beruhige dich, lass ab, du hast genug getobt. Ich möchte raus in den Regen, aber noch ist es mir zu gefährlich, du könntest mich mit deinem Hammer zertrümmern!« Und tatsächlich, er hält kurz inne, schaut mich an und lächelt. Wir verstehen uns, ich mag ihn. Und wirklich, das Zucken der Blitze wird schwächer, das Donnergetöse leiser. Er zieht sich zurück, der wilde Thor, aber es ist, als habe er die Schleusen zu allen Wassern des Himmels geöffnet, um seinen verkaterten Kopf abzukühlen und die Sonne zum Erlöschen zu bringen. Sie tut ihm sicher in den Augen weh. Ich ziehe mich an, um aus dem Haus zu gehen. Jetzt muss ich raus an die Saar. Am Staatstheater steige ich die Stufen runter zum Staden. Überall sind Pfützen, ich finde kaum ein Stück trockenen Weges. Ich spaziere den Fluss entlang, vorbei an den herrlichen großen Parkbäumen, die im frischen Maigrün strahlen. Nichts lässt die Farben der Natur so sehr leuchten wie Regen. Die Sträucher und Bäume lachen, sie genießen das Nass, leben auf, entfalten ihre Farben in allen Grüntönen, ich weiß nicht mehr, wo ich hinsehen soll, überall pralle, herrliche Natur. Meine Schuhe sind durchnässt ebenso meine Hose bis zu den Knien. Auch der Schirm hält nur wenig Regen von mir ab, er verteilt sich darauf und sprüht um mich herum. Ich bin wie berauscht, hüpfe wie ein Kind durch die Pfützen und spüre wie die Bäume mit mir sprechen.

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»He du Pflanze auf zwei Beinen, ist das Leben nicht herrlich?« Auf der Schlageterbrücke überquere ich die Saar, um auf der anderen Seite Richtung Güdingen zu laufen. Er ist angeschwollen, unser sonst so braver Fluss, er fließt schneller, seine Farbe hat sich in einen hellen Braunton gewandelt. Aber noch ist die Saar ein gutes Stück davon entfernt über die Ufer zu treten, ich kann weiterwandern, durch die Pfützen, durch den Regen. Ein Radfahrer kommt mir entgegen, er radelt mit ausgebreiteten Armen und lässt den Regen über sein Gesicht laufen. Er singt und ruft mir ein freundliches »Hallo« entgegen, »ist es nicht herrlich«. Es ist herrlich. Ich spüre ein Glücksgefühl durch meinen Körper rauf und runter laufen und wünsche mir, dass es nie mehr aufhört. Auf dem Rückweg grüße ich noch alle Bäume, die frisch geduscht und noch nicht abgetrocknet sind. Sie wollen das Wasser nicht loslassen. Es geht ihnen gut, sie sehen glücklich aus. Was für ein herrlicher Tag in meiner schönen Stadt!

Auszug aus dem Buch 'Glückstreffer – Momentaufnahmen entlang der Saar'

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Sie lieben die Saar, wir auch! Begleiten Sie uns auf einer außergewöhnlichen Reise durch das Land rechts und links der Saar. Emotionale Geschichten und Gedichte saarländischer sowie elsass-lothringischer Autorinnen und Autoren wurden zusammengetragen und mit persönlichen Fotografien umrahmt. Entstanden ist dabei dieses sehr unterhaltsame literarische Werk für alle Menschen, die sich dem Saarland und Elsass-Lothringen verbunden fühlen und alle, die es werden wollen. www.literarischerkreissaar.wordpress.com

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Männer und Frauen Andreas Hämer, Mai 2013

Die allermeisten Männer sind exzellente Kenner des weiblichen Geschlechts. Sie bringen Analyse ins weibliche Gemüse recht stark im Eifer des Gefechts. Die armen, armen Frauen die sich zu gar nichts trauen sind meistens selber schuld wenn Männer dominieren sie an der Nase führen herum, sie tragen's mit Geduld. Die allermeisten Männer sind übergroße Könner und haben gern Applaus. Sie wollen alles wissen und fühlen sich beschissen kommt mal das Gegenteil heraus. Es gibt wohl manche Frauen das sind die ganz, ganz schlauen sie wirken als der Hals wolln ihn das Haupt zwar nennen und ihm die Ehre gönnen - so drehen sie ihn jedenfalls.

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Die allermeisten Männer die brauchen selten Gönner sie gönnen sich's gern selbst den Auftritt, die Allüre den Vatertag, die Biere da wird gelacht und laut gerölpst. Die armen, armen Frauen die müssen viel verdauen was ihnen vorgekaut von wunderschönen Pfauen die fremde Federn klauen und reden oft nur dumm und laut. Die allermeisten Männer sind letztlich dumme Penner verpennen ihr Gefühl und unter ihrer Mütze ist oft nur wenig Grütze sie haben Angst und tun nur kühl. Fehlt's unsren lieben Frauen vielleicht an Selbstvertrauen? Sie kompensieren gern mit körperlichen Reizen woll‘n von den dümmsten Käuzen noch schöne Komplimente hörn. Und die modernen Männer die bringen's auf den Nenner sind leise, soft und glatt die großen Feministen

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als ob sie's gerade w체ssten was es mit Frauen auf sich hat. Doch gibt's auch andre Frauen und M채nner, die nicht hauen die sich durchaus bem체hn und Neues wagen wollen verlassen alte Rollen der wahre Mensch ist androgyn.

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Kleine Schwester Sheena Anne Adam

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anz plötzlich werde ich wach. Was riecht denn hier so komisch? Ich habe Durst, meine Zunge klebt am Gaumen. Als ich den Lichtschalter suche, fällt mir auf einen Schlag alles wieder ein. Ich wollte noch einen kleinen Abendspaziergang machen - der Boden schaukelt, mir ist schlecht. Mein Gott - wo bin ich? Ich bleibe still liegen, meine Angst wird immer größer. Nach Stunden, wie mir scheint, öffnet sich eine Tür, und ein Mann kommt, mit einer Kerze und einem Tablett in der Hand, eine Leiter herunter. Auf meine Fragen gibt er keine Antwort, er stellt mir etwas Wasser und ein Stück Brot hin, auch die Kerze lässt er mir da, dann geht er wieder. Jeden Tag, mein Zeitgefühl lässt mich im Stich, bringt er mir Wasser, etwas zu essen und eine neue Kerze. Meine Notdurft verrichte ich in einer Ecke, was die Luft noch stickiger macht, aber irgendwann gewöhne ich mich daran. Ich höre Motorengeräusch und es schwankt. Ich glaube, ich bin auf einem Schiff. Um nicht wahnsinnig zu werden, vertreibe ich mir die Zeit mit Singen und Gymnastik. Irgendwann, nach Tagen? Wochen? kommt er mit leeren Händen und bedeutet mir mitzukommen. Er schubst mich grob die Leiter hinauf, das Tageslicht blendet mich. Ich bin auf einem alten Kahn, der an irgendeinem Ufer festgemacht hat. Um mich herum grüner, undurchdringlicher Wald. Was willst du von mir? Wo bringst du mich hin? Er gibt mir keine Antwort.

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Als er sich am Ruder zu schaffen macht, springe ich flink über den Steg an Land und renne los. Äste peitschen mir ins Gesicht. Egal - nur weg! Ich höre meinen keuchenden Atem, das Blut pocht mir in den Ohren. Ich laufe, so wie ich noch nie in meinem Leben gelaufen bin. Ich kann nicht mehr. Ich lasse mich einfach auf den Boden fallen. Wo bin ich bloß? Um mich herum nur Grün. Schnell bricht die Nacht herein. Ich fürchte mich. Ich höre seltsame Laute von Tieren und mache mich ganz klein. Vor Erschöpfung schlafe ich ein. Cairns/Australien: Von der vor einer Woche verschwundenen jungen deutschen Urlauberin, fehlt noch immer jede Spur. Die Polizei schließt ein Gewaltverbrechen nicht mehr aus. Als ich wach werde ist es hell und heiß. Ich bin ganz zerstochen und ich habe Durst. Ich rappele mich hoch und marschiere los. Irgendwann werde ich ja wohl einen Menschen treffen. Auf den Blättern liegt noch der Morgentau, den ich gierig ablecke. Dabei bemerke ich die Spinne nicht, die genau so grün wie das Blatt ist auf dem sie sitzt. Plötzlich springt sie hoch und ich mache schreiend einen Satz zur Seite. Dabei scheuche ich einen Vogel auf, der wunderschön anzusehen ist. Seine Federn sind türkis bis blau, sein Schnabel ist rosa und er hat einen langen dünnen Schwanz. Eine Weile später stoße ich auf eine graubraune Schlange mit einer weißen Schwanzspitze, die aber glücklicherweise unter einem schwarzen Felsblock verschwindet. Ich passe besser auf, wo ich meine Füße hinsetze. Obwohl die Sonne am Himmel steht, ist es um mich herum ziemlich düster. Als schwarze

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Schatten sehe ich Vögel am Himmel kreisen und plötzlich umflattert mich ein Schwarm Schmetterlinge. Der Durst quält mich wieder und ich bin müde. Ich bleibe stehen und rufe um Hilfe, aber niemand hört mich. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Stiche jucken, mein Magen knurrt, und meine Kleidung klebt mir am Körper. Ich will nach Hause! Unter einem Baum will ich eine Weile rasten, bin aber gleich darauf eingeschlafen. Geweckt werde ich von Regentropfen. Es donnert und blitzt. Der Regen fällt in Kaskaden auf die Blätter, und ich kann endlich meinen Durst stillen. Ich kauere mich unter ein paar Blätter, die den Regen aber nicht wirklich abhalten können. Der Regen vermischt sich mit meinen Tränen. Erst als es dunkel wird, hört das Gewitter auf. Es dauert lange bis ich eingeschlafen bin und nach wenigen Stunden bin ich wieder wach. Mir ist kalt und es gibt keine trockene Stelle mehr an meinem Körper. Irgendwo quaken Frösche. Ich bin froh, als die Sonne aufgeht und will mich gerade erheben, da höre ich in meiner Nähe ein leises Rascheln und ich schaue hoch. Vor mir stehen drei Schwarze. Ich bin so erschrocken, dass ich zunächst aufspringe, mich dann aber vor lauter Angst nicht mehr bewege. Sie sind, bis auf eine Penishülle und über der Brust gekreuzten Gurten, nackt. Ihre Nasen sind von Hörnern durchbohrt. Sie sehen furchterregend aus. Da schiebt sich von hinten eine Frau durch. Sie scheint noch sehr jung. Um die Taille hat sie ein Band geschlungen, an dem Blätter festgemacht sind und um den Hals trägt sie

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eine Kette aus Muscheln. Sie streckt die Hand vor und streicht über meine Haare. Ich bin groß und blond und offensichtlich wirke ich auf sie ebenso fremd wie sie auf mich. Ich stehe ganz still, mir zittern die Beine. Dann winkt sie mir und dreht sich um. Bevor sie alle im Wald verschwinden, laufe ich hinterher. Ich muss mich ganz schön beeilen, um Schritt zu halten, und gerade als ich glaube nicht mehr weiter zu können, lichtet sich der Wald, und ich sehe vor mir ein Dorf. Die Häuser stehen alle auf Pfählen. Ein ganz großes und einige wenige kleine. Wir werden von mehreren Männern und Frauen begrüßt, auch eine Menge Kinder umspringen uns neugierig. Ich komme mir vor wie in einem Film. Die Frauen betasten schnatternd mein Haar und meinen Körper, während die Männer sich anderen Tätigkeiten widmen. Die junge Frau, die im Wald dabei war, bringt mir Essen und Trinken und ich schaue sie dankbar an. Die Frauen nehmen ihre Arbeit wieder auf, die ich mit meiner Ankunft unterbrochen habe und kümmern sich nicht weiter um mich. Nur die junge Frau aus dem Wald hockt sich neben mich auf den Boden. Anscheinend bin ich doch nichts so Besonderes, und ich hoffe, dass es in nicht allzu weiter Entfernung andere Weiße gibt. Ich zeige auf den Wald und frage: »Weißer Mann?« Und da ich nicht glaube, dass man hier deutsch spricht, frage ich gleich wieder: »White Man?« Die junge Frau lächelt, zeigt auf sich und sagt: »Sheena«.

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Plötzlich muss ich, ob dieser Situation lachen. >Ich Tarzan, du Jane< Sheena lacht mit, und auch die anderen finden es lustig. Ich zeige auf mich: „Rose“. Sheena wiederholt, aber bei ihr hört es sich an wie Wohs. Ich stehe auf und schaue interessiert, was die Frauen tun. Sheena nimmt mich an der Hand und führt mich herum. Sie zeigt mir das Innere des großen Hauses, das man über eine Leiter erreicht. Der Raum ist in verschiedene Bereiche unterteilt. Auf beiden Seiten sind Lagerstätten und am hinteren Ende befindet sich ein eigener Raum, der mit Schädeln, Kieferknochen von Tieren und Federn geschmückt ist, den ich allerdings nicht betreten darf. Auch gibt es Kochstellen, obwohl im Moment alle draußen an den Feuerstellen das Essen zubereiten. Vielleicht werden die hier im Haus nur bei Regen benutzt. Alles ist sehr sauber. Große Vögel, welche mich an australische Emus erinnern, nur dass sie schwarz sind mit einem blauen Hals, werden in Käfigen gehalten. Als wir zurück kommen, sitzen schon alle um das große Feuer, essen und unterhalten sich. Wir setzen uns dazu. Ich wage nicht daran zu denken, was ich da esse. Hoffentlich ist es eines der Schweine, die frei im Dorf herumlaufen. Auf jeden Fall ist das Fleisch sehr zart. Nach dem Essen wird gemeinsam gesungen. Meine Angst ist nun verschwunden, aber als der Mann, den ich als Häuptling erkenne, über einer großen Schlange beschwörende Handbewegungen macht, bekomme ich eine Gänsehaut. Sheena spürt mein

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Unbehagen, lächelt und zeigt auf den Häuptling: »Aira«. Ich kann nur hoffen, dass das alles nichts mit mir zu tun hat. Nach und nach stehen alle auf und ziehen sich in das große Haus zurück. Es ist nun auch schon dunkel geworden. Mehrere junge Frauen nehmen mich in ihre Mitte und ziehen mich die Leiter hoch. Man weist mir eine Lagerstatt auf einer Seite des Hauses zu. Frauen und Männer schlafen getrennt. Es wird nur noch wenig geredet, dann ist es still. Das erste Mal seit Tagen kann ich beruhigt schlafen. Ich fühle mich ziemlich sicher. Schon beim ersten Morgengrauen wird es unruhig, denn einer nach dem anderen steht auf. Ich würde zwar gerne noch etwas liegen bleiben, aber ich denke, das wäre unhöflich. Also schließe ich mich den Frauen an, die, wie überall auf der Welt, sich um Feuer, Essen und die Kinder kümmern. Sheena gibt mir einen großen Krug und zu fünft marschieren wir los. Die Männer haben sich uns mit Pfeil und Bogen angeschlossen. Nach einem kurzen Stück des Wegs biegen sie dann einfach nach rechts ab, schnell hat sie der Wald verschluckt. Es dauert nicht sehr lange, da kommen wir an einen kleinen Wasserfall, schon von weitem kann man das Geräusch des herabstürzenden Wassers hören. Wir füllen unsere mitgebrachten Krüge. Als ich mit dem Rücken zu Sheena stehe, trifft mich plötzlich ein Schwall kalten Wassers. Pitschnass drehe ich mich um, alle lachen und schnell ist eine Wasserschlacht im Gange. Als ich mein Kleid versuche auszuwringen, will Sheena es mir ausziehen. Zunächst weigere ich mich, aber dann frage ich mich, wer mich hier denn schon sehen soll und ziehe das Kleid über den Kopf.

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Darunter trage ich BH und Slip, was alle sehr lustig finden. Vor allem der BH hat es ihnen angetan. Ich ziehe ihn aus und reiche ihn an das Mädchen weiter, das sie Kinta nennen. Sie will ihn sich anziehen, aber nach mehreren vergeblichen Versuchen zeige ich ihr, wie sie es richtig machen muss. Stolz reckt sie ihre Brüste vor. Eine andere zieht meine Schuhe an, Sheena mein nasses Kleid, und so machen wir uns auf den Heimweg. Wir brauchen dafür etwas länger, weil Baina immer wieder meine Schuhe verliert, aber sie will sie nicht ausziehen. Unterwegs kommen wir an roten Hibiskussträuchern vorbei. Malima fädelt flink ein paar Blüten aneinander und legt mir den Kranz kichernd um den Hals. Als wir ins Dorf zurückkommen, sind auch die Männer wieder da. Sie waren auf ihrer Jagd erfolgreich und haben ein für mich etwas seltsames Tier mitgebracht. Es sieht aus wie ein Schnabeltier, ich bin mir da nicht sicher. Die Frauen haben mittlerweile Süßkartoffeln, Yams - und einige andere Knollen, die ich nicht kenne, gekocht. Auf Blättern liegen Bananen und anderes Obst. Jeder ist mit irgendetwas beschäftigt. Es sieht so aus, als gäbe es heute ein Fest. Und tatsächlich, die jungen Männer und Frauen haben sich prächtig herausgeputzt. Sie sind kunstvoll bemalt, ihre Körper glänzen und sie fangen an zu tanzen. Die restlichen Dorfbewohner setzten sich im Kreis um die Tanzenden und klatschen rhythmisch mit. Auch ich werde zum Mitmachen aufgefordert. Bis spät in die Nacht wird gefeiert, nur kann ich nicht herausfinden aus welchem Grund. Ich sehe aber, wie immer wieder Paare im Dschungel verschwinden.

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So werde ich denn in die Dorfgemeinschaft aufgenommen, als würde ich immer schon dazu gehören. Es sind so liebenswürdige Menschen. Sie sind stets gutgelaunt und lachen viel. Mit ihren Kindern gehen sie sehr liebevoll um. Auch wenn ich hier glücklich bin, sehne ich mich nach Hause. Wenn ich einmal traurig bin, heitert mich Sheena mit einem kleinen Spaß schnell wieder auf. So reiht sich ein Tag an den anderen, und als ich schon glaube, ich muss mein restliches Leben hier verbringen, taucht eines Tages ein einzelner Schwarzer auf, der westliche Kleidung trägt. Ich bin ganz aufgeregt. Kann er mir helfen? Ich spreche ihn auf Englisch an und er antwortet mir. Er sagt, dass er mich nach Balimo bringt, dort wohnen ein paar Weiße. Ich mache Sheena klar, dass ich mit dem Fremden mitgehen will. Sie ist sehr traurig, wird mich aber bis nach Balimo begleiten. Früh am nächsten Morgen nehme ich Abschied von den Menschen, die für eine lange Zeit meine Familie waren. Jeder will mich noch einmal berühren. Der Fremde drängt zum Aufbruch, er will weiter. Sheena und zwei junge Männer werden mit uns gehen. Wir brauchen etwas mehr als einen halben Tag, dann sind wir da. Es ist ein kleiner Ort, aber es gibt einen Gasthof und einen Store. Die Zivilisation war die ganze Zeit so nah. Trotzdem möchte ich die Wochen, die ich mit Sheena und den anderen verbracht habe, nicht missen. Dann ist es soweit, meine Freunde möchten noch vor Einbruch der Nacht in ihrem Dorf zurück sein. Sheena und ich fallen uns in die Arme. Wir weinen. Sie nimmt ihre Kette und legt sie mir um den Hals. Ich habe nichts, das ich ihr geben kann.

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Seit ein paar Wochen bin ich nun wieder zu Hause. Nachts wache ich manchmal auf und glaube mich wieder im Dschungel. Dann umfasse ich meine Kette und denke an meine kleine Schwester Sheena.

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REITER SPEKTRUM SAAR, das informative Magazin für Pferdesport an der Saar. Herausgeberin: Anne

Adam

REITER SPEKTRUM SAAR, mit Berichten über Dressur, Springen, Voltigieren, Vielseitigkeit und Kutschfahren, sowie Westernreiten, Islandpferde, Distanz- und Freizeitreiten; eben über alles, was man mit dem Partner Pferd machen kann. Darüber hinaus stellen wir auch Vereine und Persönlichkeiten vor und erzählen die eine oder andere Geschichte. REITER SPEKTRUM SAAR erscheint vierteljährlich im SAWA-Magazinverlag und liegt bei Reitvereinen, auf Turnieren, in Reitsportgeschäften, Tierarztpraxen und an vielen anderen Stellen zur kostenlosen Mitnahme aus. www.reiter-spektrum-saar.de

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Was bietet LeseKultur?

Bildung

Wissen

Freude am Lesen

Freude am Schreiben

Das Institut LeseKultur bietet Lektüreseminare zur deutschen Literaturgeschichte. Unsere Lektüreseminare dienen der Einführung in die deutsche Literaturgeschichte sowie auch der Vertiefung von bereits vorhandenem Wissen. Die Teilnahme an den Literaturseminaren setzt kein Vorwissen voraus. Ziel ist es vielmehr, gemeinsam den geschichtlichen Hintergrund sowie die typischen Merkmale der jeweiligen Epoche anhand von kurzen literarischen Texten aufzuspüren. Die Lektüreseminare bieten neben Lesevergnügen in ungezwungener Atmosphäre auch Allgemeinbildung sowie Basiswissen für (angehende) Autoren und stellen somit eine Bereicherung im privaten wie beruflichen Alltag dar.

Das Institut LeseKultur bietet Seminare zum produktiven Lesen. An 6 Abenden sprechen wir über Kurzprosa, diskutieren über den Inhalt und untersuchen deren Gestaltungselemente –so beispielsweise die Charaktere, Erzählperspektiven, Dialoge u.a.m. Wir lernen nicht nur, das Gelesene besser zu verstehen, sondern auch, selbst spannend zu schreiben. Am letzten Abend eines jeden Seminarzyklus haben die TeilnehmerInnen Gelegenheit, selbst verfasste Kurzgeschichten vorzustellen.

Das Institut LeseKultur bietet Kurse, um verbesserte Kenntnisse in der deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung zu erlangen. In unseren Kursen zur deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung pauken wir keine Regeln, sondern trainieren spielerisch durch zahlreiche Übungen, fehlerlose Texte zu schreiben. Wichtig und interessant im Berufsalltag, aber auch im Alltag gestresster Eltern von Schulkindern….

Seminar: Produktives Lesen „HAPPY END?“ Kurzprosa lesen - Kurzprosa schreiben 6 Abende Beginn der Seminarreihe in Saarbrücken: Oktober 2013 Seminarleiterin: Frau Dr. Christine Reiter

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Programm Lektüreseminare Von Dichtern und Denkern

Begegnungen mit den Großen der deutschen Literaturgeschichte Tagesseminar, Themen: 

Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe und der „Sturm und Drang“

Die Weimarer Klassik und ihre Autoren

Joseph v. Eichendorff, E.T.A. Hoffmann und die Romantik

Eduard Mörike, Heinrich Heine und die Restaurationszeit

Gottfried Keller, Theodor Storm und der Realismus

Theodor Fontane und Gerhart Hauptmann: Literatur im Realismus und Naturalismus

Thomas Mann, Hermann Hesse und die Gegenströmungen zum Naturalismus

Franz Kafka und der Expressionismus

Alfred Döblin, Erich Kästner, Bertolt Brecht: Autoren in der Weimarer Republik und im Dritten Reich

Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Günter Grass: Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1968

Deutsche Kurzprosa nach 1968

Beginn der Seminarreihe in Saarbrücken: Ende September 2013 Seminarleiterin: Frau Dr. Christine Reiter

Schulung Fit in der deutschen Rechtschreibung Ein Training für den Ausbildungs- und Berufsalltag Gern können Sie meine Schulung in der deutschen Rechtschreibung buchen. Kosten: 350,- Euro pro 5stündigem Kurs zzgl. Unkostenbeitrag. (Die Gesamtkosten werden auf die TeilnehmerInnen umgelegt.) Ort: in Ihrer Stadt; evtl. in Ihren Räumen Kursleiterin: Frau Dr. Christine Reiter

Information und Anmeldung: CTM LeseKultur Trierer Str. 44 66869 Kusel, Tel.: 06381 4256224, mobil: 0177 2518977, ctm@lese-kultur.com www.lese-kultur.com

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Schreiben Sie gerne? Wir auch! Und deshalb laden wir Sie ein, sich dem

Literarischen Kreis Saar anzuschließen. Wir treffen uns jeden Samstag von 17-19 Uhr im Raum 17 des alten Rathauses am Schloßplatz in Saarbrücken. Ausgenommen sind Feiertage. Mehr Information zum LKS finden Sie auf unserer Website www.literarischerkreissaar.wordpress.com

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