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ylinder auf dem Kopf, Bierkrug in der Hand und eine Leiter unter dem Arm: So ziehen alljährlich die Absolventen der Hochschule Esslingen durch die Stadt und feiern ihren Abschluss. Der Kandelmarsch hat eine lange Tradition. Entstanden ist er im Jahr 1922 nach einer Kneipentour. Einige angeheiterte Esslinger Studenten hatten den Einfall, eine zehn Meter lange Leiter von einem Grundstück in die Stadt zu tragen. Dort angekommen, verbot ein Polizist ihnen, mit der Leiter auf der Straße zu gehen, ein weiterer verscheuchte sie kurz darauf vom Gehweg. „Deswegen tragen die Absolventen heute noch ihre Leitern mit einem Fuß auf der Straße und dem anderen auf dem Bürgersteig“, erklärt Professor Hans Ruoß schmunzelnd. Der 71-Jährige war dreieinhalb Jahrzehnte lang an der Hochschule Esslingen tätig und hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit ihrer Geschichte beschäftigt. Denn der Hochschulstandort Esslingen feiert in diesem Jahr sein 100-Jahr-Jubiläum.

Wie es wohl war, vor 100 Jahren Student zu sein? Damals sprach man in Esslingen von Schülern. „Die hatten nicht so viel Freizeit“, weiß Professor Ruoß, „in der Anstalt herrschte Zucht und Ordnung.“ Wer fehlte oder sich im Unterricht nicht benahm, musste mit einer Strafe rechnen. So lässig wie heute war das Studentenleben also nicht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es lockerer zu. Den Lehrern gefiel das weniger. „Die Sitten verrohen, und die Moral lässt nach“, sollen sie sich beschwert haben. Was würden sie da erst über die oft geschwätzigen oder gar abwesenden Studenten von heute sagen? Den Studentenverbindungen hingegen waren die Lehrer sicher wohlgesonnen. Natürlich spielten Geselligkeit und Zusammenhalt für die Bundesbrüder eine wichtige Rolle, aber die meisten Gruppen unterstützten auch die fachliche Diskussion an der Hochschule. Die Mitgliedschaft in einer Verbindung war unter den Schülern begehrt. Im Schulgebäude besaß jede Burschenschaft ihre eigene Ecke – trotzdem gab es keine Rivalitäten. Bis heute arbeiten sie lieber zusammen als gegeneinander.

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