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In die Stille Der leise hohe Ton in meinem Ohr. Darunter das dumpfe Rauschen des Blutes, regelmäßiger Herzschlag. Wenn ich mich konzentrierte und für einen Moment die Augen schloss, war ich in der Lage, den Lärm um mich herum auszublenden. Das Hupen der Taxi- und Busfahrer, die Essgeräusche der Kunden am Fastfood-Imbiss, das Trommeln der Regentropfen auf Asphalt. Dann gab es nur noch den Rhythmus meines Körpers und die Stille in ihrer Samenhülle, gut verwahrt in der Hosentasche. Wenn ich mit der Fingerkuppe darüberstrich, konnte ich schon die Risse auf der Oberfläche spüren, die Wölbung, wo erste Triebe von innen gegen die Schale drückten. Nur einen Augenblick später allerdings fing in der Nähe wieder ein Kind an zu schreien und das Klackern der roten Ampeln verwandelte sich in ein maschinengewehrähnliches Rattern. Meine Konzentration war auf und davon. Dabei hätte ich inzwischen wissen müssen, dass eine Metropole nicht der beste Ort war, um Geräusche ignorieren zu lernen. Als ich mich schließlich dazu aufraffte, den Kopf zu heben und in den Regen zu blinzeln, war Matteo bereits auf halbem Weg über die Straße. Er trug wieder den schwarzen Filzmantel, dessen Fasern sich mittlerweile bestimmt mit Wasser vollgesogen hatten. Manchmal war ich mit Matteo in die Bibliotheken und Kunsthallen hier gegangen, hatte für ihn den Eintritt bezahlt und ihn durch die hohen Räume geführt. Langsam, stets in der Hoffnung, er würde verstehen, was das Schweigen an diesen Orten so besonders machte. Das Signalgeräusch verlangsamte sich, als die Ampel von Grün auf Rot sprang. Matteo hatte die nächste Insel erreicht, warf einen Blick über die Schulter und strich sich die nassen Strähnen aus der Stirn. Er hatte nicht auf mich hören wollen und schon beim Hinaustreten auf den Bahnsteig die Kapuze wieder abgenommen. Ich solle ihm nicht dauernd Vorschriften machen, hatte er mich getadelt. So gut würde ich ihn jetzt auch wieder nicht kennen. Und das stimmte natürlich, ich wusste fast nichts von ihm. Gerade einmal seine Hausnummer hatte ich mir gemerkt, 23, und die Briefmarken und Kastanien in den Manteltaschen, mit denen er mich einmal hatte bezahlen wollen, um mich dazu zu bringen, meine morgendlichen Spaziergänge in ein anderes Viertel zu verlegen. Der Ring an seinem linken Daumen, das dämmerige Licht im Flur und der glasige Blick an manchen Tagen. An all das erinnerte ich mich und an das Moos, das über sein hölzernes Balkongeländer wuchs.