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Schwindel

101 Schwindel

Sie steht mir zugewandt, so, dass mein Oberkörper sie vom Rest der Menschen abschirmt. Eine Haarsträhne klebt an ihrer verschwitzten Stirn. Ihre Augen hält sie geschlossen. Es ist zu voll. Was früher normal war, ist heute eine Katastrophe. Ihr Körper glüht, so wie er es immer tut.

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Unter meiner Maske sammelt sich Schweiß auf meiner Oberlippe. Ein leichter Schwindel hat sich über meinen Körper gelegt. Meine Lungen bitten allmählich, aber bestimmt, um mehr Luft. Schweiß läuft meine Wirbelsäule entlang.

Es ist ein schlimmer Sommer. Ich weiß, sie leidet. Ihre und die Hitze von außen vertragen sich nicht. Ich habe Angst, sie könnte auf die ein oder andere Weise verbrennen.

Die Bahn setzt sich ruckelnd in Bewegung. Maskenlose Körper taumeln. Auf ihnen lastet ein anderer Schwindel. Für sie ist alles vorbei. Sie müssen keine Angst haben, dass die Luft, die sie einatmen, sie verbrennt.

Ein Mann steht dicht bei uns. Er atmet gut hörbar. Eigentlich keucht er. Ich ziehe sie näher an mich heran. Versperre ihm zumindest die Sicht auf ihren schwachen Körper. Sie würde das Feuer nicht überstehen. Nicht ohne Folgen.

Wir stehen in der Bahn. Es ist eine der viel zu vollen Sorte. Wir tragen Maske. Eine Frau starrt und tuschelt mit ihrem Mann. Ein Kind zeigt auf uns, der Vater zuckt mit den Achseln, kann seinen Blick aber auch nicht abwenden.

Und da nimmt sie auch noch meine Hand. Einfach so. Obwohl sie meine Wärme nicht auch noch stemmen kann. Ihre Finger fahren zwischen meine. Klammern sich fest. Wir halten uns. Stehen das zusammen durch. Diese Bahnfahrt. Die jetzt angeekelten Blicke. Diese Zeit des Schwindels. Wir haben einander. Wir machen weiter. Für einen Moment ist alles gut.

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