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Milica Mandic
„JEDE MEDAILLE HAT IHRE GESCHICHTE.“
Milica Mandic
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von Helena Stanek
Eine der erfolgreichsten Taekwondo-Sportlerinnen aller Zeiten, Milica Mandić aus Serbien, treffe ich bei der EM in Manchester gegen meine Erwartung auf der Tribüne statt auf der Wettkampffläche. Der Gewinn ihrer ersten EM-Goldmedaille war ihr nicht möglich. Wir sprachen miteinander über Medaillen, ihren energiegeladenen Trainer Dragan und den enormen Druck, der in Tokio auf ihr gelastet hatte.
Es sind für mich stets diese besonderen Momente in meinem Job: Wenn ich ehemalige Trainingspartnerinnen zum Interview treffe. In meiner Vorbereitung auf das Interview mit Milica habe ich die letzten Details über sie recherchiert. Dank der unfassbar wertvollen Datenbank Taekwondo Data finde ich alle nützlichen Infos zur Vorbereitung von Interviews, für Kommentatoren-Aufgaben und die eigene Berichterstattung. So konnte ich über Milica erfahren, dass sie es bislang noch nicht geschafft hat, den EM-Titel zu gewinnen. Ich war sicher, dass ihr dies in Manchester gelingen würde.
Spontan, ohne Terminabsprache begegnen wir uns bei der EM. Ich hatte sie auf der Fläche erwartet, doch sie sagte kurz und knapp: „Nein. Nach Tokio habe ich meine Karriere beendet.“ Wir kennen uns sehr lange, haben damals, vor den Olympischen Spielen in London, gemeinsam in Sonthofen trainiert. Mein Trainer Carlos meinte damals: „Ein guter Freund aus Serbien kommt mit seiner Sportlerin auch zum Training.“ Serbien? Das wunderte mich damals, ohne zu wissen, welch herausragende Sportlerin mit mir trainierte.
Direkt in meiner ersten Frage an Milica erfuhr ich, dass sie ihre Karriere beendet hatte und schon lange vorher wusste, dass Tokio ihr letzter Wettkampf sein würde. Genau deshalb sei in Tokio vieles anders gewesen als in London und Rio de Janeiro: „Tokio war besonders hart. Der Druck war enorm, denn ich wusste, dass ich meine Karriere nach den Spielen beenden werde. Ich weiß, wie sehr Erfolg und Misserfolg das Leben beeinflussen. Von daher waren diese Spiele für mich etwas ganz Besonderes.“
Kann man die Erfolge werten? Sprich, ist ein Olympiasieg wichtiger als ein WM-Titel? Milica hat beides erlebt und antwortet:
„Es ist immer hart, diese Frage zu beantworten. Jeder Wettkampf hat seine Geschichte und jede Geschichte ist anders. 2012 war ich sehr jung und es waren meine ersten Olympischen Spiele. 2017 hatte ich viele familiäre Herausforderungen zu meistern. 2021 dann Tokio: Da hatte ich den größten Druck überhaupt, denn ich wusste, alles, was hier passiert, wird mein Leben beeinflussen. Aber insgesamt denke ich, dass die Olympischen Spiele immer das Schwierigste und auch das Schönste sind.“
Die EM sei immer ihr Schwachpunkt in der Karriere gewesen. Sechsmal stand sie in einem Finale der Europa meisterschaft. Sechs mal sollte es mit dem Titel gewinn nicht klappen. 2021 habe sie sich für die EM topfit gefühlt. Alles habe gepasst und sie sei mit großen Ambitionen in die Mission GOLD gegan-

gen. Doch dann infizierte sie sich kurz vor der EM mit dem Corona-Virus; damit war ihr auch bei ihrer letzten EM der Titelgewinn verwehrt.
Wenn man heute weiß, dass die Reise mit dem Gewinn der Goldmedaille in Tokio weiterging, denkt man sich vielleicht: „… Ach ja, dafür gab es eben Olympiagold.“ Was macht den Unterschied zwischen Titelgewinn bei einer EM und Titelgewinn bei Olympia aus?
Milica begründet ihre Stärke bei Großereignissen wie den Olympischen Spielen mit ihrer mentalen Vorbereitung. „Jeder fährt fit zu den Olympischen Spielen. Aber wer mental auf diesen Druck vorbereitet ist, der wird erfolgreich sein.“ Vor allem die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro waren eine schmerzhafte, aber wichtige Lehre für sie: „Ich habe vor allem in Rio gespürt, wie mich der Druck belastet hat. Danach habe ich gemerkt, dass ich mehr tun muss. Ich dachte, nach meinem Erfolg in London geht es immer so weiter. Aber mein Kopf war nicht bereit für den Erfolg in Rio. Darum war ich sicher, dass wir für Tokio mehr arbeiten müssen.“
Seit langem schon arbeitet sie mit einem Mentaltrainer zusammen. Er hat ihr stets geholfen, mental an diesem einen wichtigen Tag topfit zu sein. Die ganzen Wettkämpfe vor den Olympischen Spielen nennt sie nur „Stationen“, aus denen man lerne könne. Man könne hier erkennen, wo man stehe und was man verbessern müsse, um dann bei Olympia 100 Prozent Leistung zeigen zu können. Die Vorbereitung auf die Olympischen Spielen in Tokio waren komplett anders, als sie es vor 2012 und 2016 erlebt hat. Die Coronapandemie habe viel dazu beigetragen. Die Verschiebung der Spiele habe ihre Familienplanung sehr durcheinandergeworfen, denn sie hatte fest eingeplant, dass 2020 ihr letztes Wettkampfjahr sein würde. Auch der familiäre Druck sei in dieser Zeit groß gewesen.
„Wenn du schon 30 Jahre alt bist, die Familie einige private Dinge von dir erwartet und du ständig persönliche Fragen gestellt bekommst, ist das nicht leicht. Dann kamen Corona und die Olympiaverschiebung. Das waren wirklich schwierige Momente für mich und meine Familie. Aber ich wusste, was ich wollte, und ich habe bekommen, was ich wollte, weil ich zuvor mit so vielen Schwierigkeiten klargekommen bin.“ Darum nennt sie den Gewinn der Goldmedaille in Tokio definitiv ihren „proudest moment“.
Wie lief diese Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Tokio ab? Wie schafft man es, Doppelolympiasiegerin zu werden? Nur einmal Gold oder überhaupt eine Medaille bei Olympia zu gewinnen, ist der Traum von vielen TaekwondoSportlerinnen und -Sportlern. Sie hat es gleich zweimal ganz nach oben geschafft. Die Vorbereitung auf Tokio sei schwierig gewesen, sagt sie. Stets schwebte die Angst mit, positiv getestet zu werden. Auch der Turnierkalender war eine Herausforderung. Es habe ja nur wenige Turniere gegeben, wo man seinen Leistungsstand prüfen konnte. „Es waren eigentlich nur Sofia Open und die EM.“ Nach der EM habe Milica festgestellt, dass sie




bei etwa 70 Prozent Leistungsfähigkeit gewesen sei, und danach sei es erst richtig losgegangen. Vor allem das Konditionstraining sei besonders hart gewesen. Frische, ausgeruhte Trainingspartnerinnen aus der ganzen Welt hätten sie oft an ihre körperliche und mentale Grenze gebracht. Sie habe fast wöchentlich Testwettkämpfe mit internationalen Sparringspartnerinnen absolviert. „Die Gäste kamen stets frisch in das Training und die Kämpfe. Hier trotzdem weiter zu trainieren, macht dich mental enorm stark.“
Ich kann ihre Gedanken gut nachvollziehen. Zum einen, weil ich selbst viele harte Vorbereitungen auf Großereignisse absolviert habe, und zum anderen, weil mein Trainer Carlos ähnliche Charakterzüge hat wie Milicas Trainer Dragan. Carlos sagte mir damals oft: „Wenn du im Training so viel meisterst, wird dich an dem Tag auf der Fläche nichts mehr überraschen können.“ Es zeigt also, dass der hohe Trainingsumfang ein wichtiges Puzzleteil für den Erfolg ist. Dass man hier auch mal Umfänge fährt, die man selbst nicht versteht, sondern einfach nur macht, weil der Trainer es verlangt, ist anscheinend also normal.
„Ich bin wie eine Soldatin. Was mein Coach sagt, mache ich! Ich denke nicht darüber nach, ich mache es einfach.“
Das Erfolgsduo Dragan und Milica hat die TaekwondoWelt in Tokio zum Staunen gebracht und einige vielleicht auch zu Tränen gerührt. Ich selbst habe in Tokio live miterlebt, wie dieses vertraute Team den Sieg auf der Fläche einfach nur genossen hat. Ein schöner Moment, besonders, wenn man sich so lange kennt.
Was hat dieses Team so erfolgreich gemacht?
„Er ist Teil meiner Familie. Ich habe enormen Respekt vor ihm und natürlich vertraue ich ihm. Vertrauen ist für jede Beziehung wichtig. Wenn ich in meinen Kampf gehe und habe meinen Coach bei mir, mache ich genau das, was er mir sagt. Sagt er: Tritt links, dann trete ich mit dem linken Bein.“
Auch Ehrlichkeit sei ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg gewesen und sie hätten stets für das gleiche Ziel gearbeitet. Dragan habe sie nie nur als Kämpferin gesehen, sondern eher als eines seiner Kinder. Was bei aller Motivation der Athletinnen ebenfalls von Bedeutung sei, sei die Energie der Trainer: „Dragan hat eine verrückte Energie. Jedes Turnier ist schon nah dran und man muss sofort hart weiterarbeiten.“ Das Verhandeln um Pausen oder gar Urlaub sei stets eine Herausforderung gewesen.
„Seine Definition von einem day off ist witzig. Er sagt zum Beispiel: Freitag ist um zehn Uhr morgens Training und Samstag trainieren wir erst um sechs Uhr abends. Da sind ja mehr als 24 Stunden Pause dazwischen, es ist also ein day off ...“
Eine Verhandlung mit ihm wegen Urlaub sei noch schwieriger gewesen. Ein zweiwöchiger Urlaub habe stets bedeutet, dass dieser spätestens in der zweiten Woche aktiv gestaltet werden sollte.
Rückblickend sei dies natürlich alles der richtige Weg gewesen.
„Ich schaue mit einem großen Lächeln auf alles zurück, weil ich nichts ändern wollen würde.“ Mit zwei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen und einem WM-Titel im Gepäck würde ich auch mit einem Lächeln auf meine Karriere zurückblicken. Und was kommt nun?
Diese Frage kann Milica noch nicht genau beantworten. Die Zeit nach dem Leistungssport sei bisher sehr schwierig gewesen. Es fehlen ihr die tägliche Routine, der Rhythmus und natürlich der Sport: „Mein Leben


war bisher mit der Hingabe und Liebe für den Sport gefüllt. Es ist wirklich hart, dass von einem auf den anderen Moment alles stoppt. Für mich fühlt es sich fast so an, als ob ein Teil aus mir herausgerissen wurde.“
Doch so zielstrebig und verantwortungsvoll wir Milica als Sportlerin kennengelernt haben, so erfolgreich wird sie auch nach ihrer Karriere in einer neuen Funktion sein. Vielleicht als Mama, vielleicht als Funktionärin, doch gewiss nicht als Trainerin. Das wäre ihr zu anstrengend!
Ich kenne Milica seit Beginn ihrer Karriere und bin nach unserem Interview stolz darauf. Eine zweifache Olympiasiegerin in unserer Sportart, die noch dazu so nett und sympathisch ist, kann man an einer Hand abzählen.
Und dann denke ich noch einmal darüber nach, was Milica zu Beginn unseres Interviews gesagt hat: „Jede Medaille hat ihre Geschichte.“ Vielleicht sollte man aufhören, darüber nachzudenken, welche Medaille die wichtigste im Leben eines Sportlers ist. Für die einen ist es Gold bei Olympia, für die anderen Bronze bei einer EM. Und für wieder andere ist der Gewinn eines G-Turnieres etwas ganz Besonderes, weil … ja, weil eben jeder seine eigene Geschichte hinter diesem Erfolg hat, nicht der Gewinn diesen Erfolg zu etwas Besonderem macht, sondern die Geschichte dahinter. Hier erinnere ich mich an das Interview mit Servet Tazegül, der mir sagte, dass er 2015 unbedingt Weltmeister werden wollte, weil er allen zeigen wollte, dass man auch mit dem „alten System ohne Vorderbeinballett“ Weltmeister werden könne. Diese Aussage fand ich damals total interessant und je mehr man mit den Sportlerinnen und Sportlern über ihre großartigen Erfolge spricht, desto mehr schöne, spannende Geschichten kommen ans Licht.
Und was ist eure Geschichte hinter einem besonderen Erfolg?
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