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Zwischen Guidelines und Real World

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Vorhofflimmern – ein genauerer Blick auf den klinischen Alltag

Das Risiko eines Schlaganfalls bei unbehandelten Patienten mit Vorhofflimmern steigt dramatisch mit dem Alter. Die Abbildung (Seite 28) zeigt den Zusammenhang zwischen der Insultprävalenz und dem Alter der Patientinnen und Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern, also VHF in Abwesenheit einer Mitralstenose. Bei den über 80-jährigen Betroffenen liegt die Prävalenz des Schlaganfalls bei ca. 30 Prozent, während sie bei den unter 40-jährigen lediglich fünf Prozent beträgt.

„Etwa 30 Prozent der Personen mit Vorhofflimmern und einer Indikation zur Gerinnungshemmung sind nicht adäquat antikoaguliert.“

Diagnostik in der Ordination

Die neuen Guidelines der ESC1 haben versucht, mit einem plakativen Akronym – „CC to ABC“ – eine Eselsbrücke für die Diagnose und Therapie bei Patienten mit Vorhofflimmern zu bauen. Das erste C steht für „confirm AF“ , also die Diagnose stellen. Dies ist im klinischen Alltag oft eine Herausforderung, da in der allgemeinmedizinischen oder internistischen Praxis viele Personen mit Palpitationen vorstellig werden. Hilfreich ist hier die Frage nach der Häufigkeit und Dauer der Palpitationen. Handelt es sich um „Einzelschläge“ oder „Aussetzer“ , ist am ehesten an Extrasystolen zu denken. Kommt

© privat es zu Palpitationen, die etwas länger – nämlich zumindest einige Sekunden – anhalten, sollte der Patient als Nächstes gefragt werden, wie häufig diese auftreten. Werden sie täglich wahrgenommen, lohnt sich die Überweisung zu einem 24-Stunden-EKG. Treten die Palpitationen jedoch selten auf, also z. B. alle 14 Tage, dann ist der Versuch einer Dokumentation der Arrhythmie mit einem Eventrecorder oder mithilfe einer Smartwatch mit EKG-Funktion sinnvoll. Während komplexe Arrhythmien in der 1-Kanal-Ableitung der meisten Devices nicht darstellbar sind, lässt sich Vorhofflimmern aufgrund der absoluten Arrhythmie auch im 1-Kanal-EKG oft gut erkennen. Wichtig ist, dass die Dokumentation zumindest 30 Sekunden dauert, um den Diagnosekriterien für Vorhofflimmern gerecht zu werden. Das zweite C des Akronyms stellt die Charakterisierung des Vorhofflimmerns in den Vordergrund. Diese Charakterisierung geht meines Erachtens im Detail zu weit, um für den klinischen Alltag in der Niederlassung geeignet zu sein. Sie sollte teilweise den Spezialambulanzen bzw. der Facharztordination überlassen werden, da weder die Zeit noch das Equipment (Echokardiographie, CT, MRT) in jeder Ordination zur Verfügung steht. Wichtige Punkte aus der Charakterisierung, die es jedenfalls zu beachten gilt, sind das vom CHA2DS2-VASc-Score abgeleitete Schlaganfallrisiko, der individuelle Leidensdruck – von asymptomatisch bis hämodynamisch relevant reichend – sowie die Dauer (paroxysmal/permanent).

„ABC“ des Managements

Hier kommt der zweite Teil des Akronyms, nämlich ABC, zum Tragen. A steht für Antikoagulation (bzw. „avoid stroke“), B für bessere Symptomkontrolle und C für „comorbidities and cardiovaskular risk“ . Bezüglich der Antikoagulation gilt es, mithilfe des CHA2DS2-VASc-Scores das Schlaganfallrisiko individuell zu beurteilen. Je nach Komorbiditäten, Alter und Geschlecht des Patienten ist die Entscheidung bezüglich des Beginns einer Antikoagulation zu treffen. Wichtig: Die meisten Personen mit hohem Blutungsrisiko haben auch ein hohes Ischämierisiko und profitieren besonders von einer Antikoagulation. Alle Patientinnen mit einem CHA2DS2 VASc-Score von ≥ 3 und alle Patienten mit einem Wert von ≥ 2 sollten jedenfalls antikoaguliert werden. Was den individuellen Leidensdruck betrifft, also das Ziel der Symptomkontrolle („B“), ist jede The-

rapiemöglichkeit mit dem Patienten zu besprechen und eine gemeinsame – auf ausreichend Aufklärung und Information basierte – Entscheidung zu treffen. Die Strategien reichen von Frequenzkontrolle mittels bradykardisierender Medikamente über Rhythmisierung mittels Antiarrhythmika (wobei der Stellenwert von Sedacoron in den rezenten Guidelines wieder etwas höher wurde) bis hin zu der immer häufiger verfügbaren Ablation. Beim letzten Buchstaben im Akronym „ABC“ geht es um Komorbiditäten, die Reduktion des kardiovaskulären Risikos und eine etwaige Modifikation des GASTAUTOR: Lebensstils. Entscheidend für die ProgUniv.-Prof. Dr. Thomas Weiss, PhD, FESC nose des Patienten sind, neben der adSigmund Freud äquaten Antikoagulation, die Diagnose Privatuniversität Wien und Karl Landsteiner und ggf. die Therapie der Hypertonie, Institut für Kardio- der Hyperlipoproteinämie und des Diametabolik, St. Pölten, Ordination: 1040 Wien betes – zudem eine absolute und sofortige Nikotinkarenz, die Aufnahme von moderatem Ausdauer- und Krafttraining von zumindest 2,5 Stunden in der

„Der Vorteil von Real-WorldDaten: Patient:innen, die in RCT meist nicht zu sehen bzw. unterrepräsentiert sind, werden eingeschlossen.“

SCHLAGANFALLRISIKO NACH ALTER

Insultprävalenz bei Patient:innen mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern

30

Prävalenz (%)

25

20

15

10

5

0

< 40 40–49 50–59 60–69 70–79

Alter in Jahren

Quelle: Hu D et al., Chin J Intern Med, 2003; 42(3):157-161. ≥ 80

Woche sowie das Vermeiden von Triggern der Arrhythmieepisoden, beispielsweise von Alkoholkonsum.

Antikoagulation – RCT versus Praxis

In einer rezenten Publikation2 über die 2-Jahres-Follow-up-Daten der ETNAStudie (Edoxaban in der „Real World“) konnte ich gemeinsam mit Kollegen aus Europa zeigen, dass die Anwendung von Edoxaban auch im klinischen Alltag sicher ist und gerade bei älteren Personen – also genau bei jenen, die das höchste absolute Risiko haben und das Gros unserer Patienten in der Praxis ausmachen – ein besonders gutes Nutzen-Risiko-Profil hat. Der Vorteil von Real-World-Daten (RWD) besteht darin, dass Patienten eingeschlossen werden, die in RCT meist nicht zu sehen bzw. jedenfalls unterrepräsentiert sind. Die bei jener Gruppe vorliegenden Faktoren beinhalten beispielsweise Frailty, Sturzneigung, St. p. Blutungsereignis, St. p. Koronarintervention, hohes Lebensalter, mangelhafte Adhärenz, Off-Label-Use (falsche Dosierung) oder aktive onkologische Erkrankungen. Diese Information können wir aus RWD beziehen, insbesondere wenn es sich wie bei ETNA um ein prospektives Register mit individuellen Patientendaten und adjudizierten Ereignissen handelt. Einer sehr gute im Jahr 2022 publizierte Metaanalyse3 von Real-World-Daten kam zu dem Schluss, dass NOAK im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten eine ähnliche Wirksamkeit in Bezug auf die Verhinderung eines ischämischen Schlaganfalls aufweisen – in puncto Reduktion von Blutungsereignissen zeitigten insbesondere Apixaban, Dabigatran und Edoxaban hervorragende Ergebnisse.

Ein Appell

Noch wichtiger als die akademisch interessante Frage nach der richtigen Wahl des NOAK ist der Hinweis, dass weiterhin ca. 30 Prozent der Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern und einer Indikation zur Gerinnungshemmung nicht adäquat antikoaguliert sind. Diese erhalten zumeist entweder einen Plättchenaggregationshemmer oder gar keine antithrombotische Therapie. Daher erlaube ich mir, mit dem Appell zu schließen, bei Patienten, die über Palpitationen berichten, mit einem adäquaten diagnostischen Mittel nach Vorhofflimmern zu suchen und – neben den oben beschriebenen Maßnahmen – bei einem CHA2DS2-VAScScore von ≥ 2 bei Männern bzw. von ≥ 3 bei Frauen eine Antikoagulation mit einem NOAK einzuleiten. <

Literatur: 1 Hindricks G et al., Eur Heart J. 2021 Feb 1;42(5):373498. 2 de Groot JR et al., Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother. 2021 Apr 9;7(FI1):f30-f39. 3 Deitelzweig S et al., Future Cardiol. (2022) 18(5), 393–405.

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