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Versorgungslücken
Trotz einer verhältnismäßig hohen Dichte praktizierender Ärztinnen und Ärzte – 5,2 auf 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner – existiert in Österreich eine Schieflage im Gesundheitssystem: Zu wenige Allgemeinmediziner, Ärzte wandern ab, und viele Kassenplätze bleiben unbesetzt. Gründe dafür gibt es viele – sie erstrecken sich von den Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen bis hin zu geografischen und finanziellen Aspekten. Auf Einladung der RegionalMedien Austria und des Fachmagazins Hausärzt:in diskutierten namhafte Expertinnen und Experten die größten Herausforderungen im österreichischen Gesundheitswesen im Rahmen einer „Runde der Regionen“ am 14. Juni in Wien.
Attraktivierung der Allgemeinmedizin
Ein Problemfeld wird in der Allgemeinmedizin geortet, die unter angehenden Ärzten nicht unbedingt das beste Image hat. Eine geografische Dysbalance und damit ein regionaler Mangel sind die Folgen. Die Attraktivierung der Allgemeinmedizin ist deshalb bereits seit Jahren ein Thema. Dr.in Katharina Reich, Sektionsleiterin für Öffentliche Gesundheit, versichert: „Uns ist bewusst, dass wir ein bisschen moderner, breiter und regional diverser werden müssen. Wir müssen attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. “ Für junge Allgemeinmediziner stehe die Verbesserung der Qualität der Ausbildung an oberster Stelle, wie Dr. Richard Brodnig, BSc, Obmann der Jungen Allgemeinmedizin (JAMÖ), betont. „Viele Turnusärzte, die sich zunächst für Allgemeinmedizin entschieden haben, wechseln im Laufe der Ausbildung das Fach. Wir verlieren diese jungen Ärzte in der Ausbildung“ , so der Jungmediziner. Aber auch die Arbeitsbedingungen seien ein wichtiges Thema. Vor allem die Betreuungszeit pro Patient sei für junge Ärzte wesentlich. Diese würden sich gerne mehr Zeit nehmen, das derzeitige Entlohnungssystem lasse das allerdings nicht zu.
Unbesetzte Kassenplätze
Mit Imageproblemen haben in Österreich auch Kassenstellen generell zu kämpfen, was sich in vielen unbesetzten Kassenplätzen äußert. In der Kinderheilkunde sind das derzeit rund 15 Prozent der Stellen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. „Es gibt Dinge im niedergelassenen Bereich, die einfach ärgerlich sind“ , bedauert Prim. DDr. Peter Voitl, MBA, Leiter des ersten Wiener Kindergesundheitszentrums Donaustadt. So sei zum Beispiel das Nebenbeschäftigungsverbot im Kassenbereich ein großes Problem. Viele Mediziner wollten sowohl im Spital als auch nebenbei in einer Ordination arbeiten. Das derzeitige System verbiete eine solche Beschäftigungsform allerdings, weswegen Kassenstellen für viele nicht in Frage kämen. Als bedenklich erachtet Prim. Voitl auch das Honorarsystem im Kassenbereich. So seien beispielsweise die MutterKind-Pass-Honorare seit 30 Jahren nicht mehr an die Inflation angepasst worden. „Da geht es nicht nur um das Geld, da geht es auch um Wertschätzung“ , betont er. Zudem gebe es große regionale Unterschiede. So verdiene beispielsweise ein Kassenkinderarzt in Wien im Durchschnitt 360.000 Euro

im Jahr, in Niederösterreich hingegen nur 240.000 Euro –„ein Überbleibsel aus der historischen Zeit der Gebietskrankenkassen“ . „Ich halte das Honorarsystem, wie wir es in Österreich haben, für höchst ‚überarbeitungswürdig‘“ , sagt auch ÖGKArbeitnehmerobmann Andreas Huss. Die Frage nach dem Einkommen sei allerdings eine schwierige. Hier gehe es vor allem um die Relationen zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen. Aufholbedarf gebe es beispielsweise in der Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde sowie bei Psychiatern und generell überall, wo es um die Hinwendung zu Patienten gehe. Unterbezahlt seien diese aber keineswegs: „Mit 6.000 Euro netto ist man in Österreich nicht unterbezahlt.“

Teilnehmer:innen der Runde der Regionen (v.l.n.r.): Obmann Huss (ÖGK), Dr. Brodnig (JAMÖ), Mag.a Jelenko-Benedikt und Mag.a Martin (RegionalMedien), Dr.in Reich (Gesundheitsministerium), Dr. Voitl (ÖÄK).
Wahlarztsystem abschaffen
Ein Problem der Kassenstellen liege auch darin, dass sich viele Mediziner stattdessen für eine Privat- oder Wahlarztpraxis entschieden. Huss ist allerdings davon überzeugt, dass das Kassensystem mit den anderen Formen mithalten könne. Am Einkommen könne es jedenfalls nicht liegen. Das Wahlarztsystem sei für Mediziner aber insofern interessant, als sie dort ihr Honorar selbst festlegen und so mit weniger Arbeitszeit >
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das Gleiche verdienen könnten. Während ein Wahlarzt einen Patienten behandle, müsse der Kassenarzt also unter Umständen drei behandeln, rechnet Huss vor. Der ÖGK-Obmann fragt sich allerdings, wie viele der Wahlärzte tatsächlich versorgungsrelevant seien. Man habe sich bei der Krankenkasse zuletzt intensiv mit Wahlarztrechnungen beschäftigt und festgestellt, dass hier teilweise obskure Behandlungen angeführt würden, die mit dem Kassensystem eigentlich nichts zu tun hätten: „Man kommt sich dann – wenn man diese Rechnungen sieht – vor, als wäre man eher bei einem mittelalterlichen Schamanen als bei einem modernen Mediziner. “ Eigenurintherapien oder Eigenbluttransfusionen seien an der Tagesordnung. Geht es nach Huss, sollte das Wahlarztsystem abgeschafft werden: „Diese intransparente Vermischung der beiden Systeme – der privaten und öffentlichen Gesundheitsversorgung – gibt es sonst nirgends in Europa und jene muss man zumindest infrage stellen.“
NACHGEFRAGT: REFORMBEDARF
Dr. Richard Brodnig, BSc, Obmann der Jungen Allgemeinmedizin (JAMÖ)
© SGKK „Diese intransparente Vermischung der beiden Systeme – privater und öffentlicher Gesundheitsversorgung – gibt es in ganz Europa nicht und jene muss man zumindest infrage stellen.“
Andreas Huss, ÖGK-Obmann
© Florian Schrötter/BKA
Dr.in Katharina Reich, Sektionsleiterin für Öffentliche Gesundheit, Gesundheitsministerium
© kinderarzt.at „Das Nebenbeschäftigungsverbot im Kassenbereich ist ein großes Problem. Viele Mediziner wollen sowohl im Spital als auch in einer Ordination arbeiten.“
Prim. DDr. Peter Voitl, MBA, Kinderarzt in Wien, ÖÄK-Referent
Spitäler im Wandel der Zeit
Ein weiteres Grundproblem des österreichischen Gesundheitssystems liege in einem veralteten Denken aus der Zeit des Ärzteüberschusses, als es auf eine freie Stelle zehn Bewerber gab, so Prim. Voitl. „Das ist aber nicht mehr so und jetzt ist man plötzlich erstaunt, dass es anders läuft. Neu ist, dass die Spitäler als Arbeitgeber plötzlich attraktiv und konkurrenzfähig für die Angestellten werden müssen, und daran sind sie nicht gewöhnt. “ Auch Dr.in Reich betont, dass sich Krankenhäuser an die neuen Gegebenheiten anpassen müssten: „Schön langsam bekommen alle Spitäler mit, dass es um den Wettbewerb der besten Köpfe geht. “ Ein wichtiges Thema sieht sie zudem im Austausch zwischen dem Krankenhaus- und dem niedergelassenen Bereich. Immerhin seien die Patienten auf diesen angewiesen: „Wir brauchen ein Netzwerk, in dem der Spitalsbereich mit dem niedergelassenen in einem strukturierten Miteinander arbeitet. Das sind wir den Patienten schuldig.“
Gesundheitssystem im Umbruch
Das duale System in der Medizin löst sich zusehends auf. Mediziner haben aktualisierte Anforderungen an ihren Job, und auch Patienten kommen zum Teil mit neuen Erwartungen und einem anderen Selbstverständnis in Praxen und Spitäler als noch vor einigen Jahren. Auf all das muss sich das Gesundheitssystem künftig einstellen, um attraktiv und modern zu bleiben respektive zu werden. Prim. Voitl stellte eine markante Bemerkung in den Raum, die alle anderen Teilnehmer bestätigten: „Ich glaube, das medizinische System steht vor dem größten Umbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. “ An vielen Verbesserungen werde bereits gearbeitet, betont Dr.in Reich. Nun sei es erstmals wichtig, die Dinge zum Abschluss zu bringen, die beinahe fertig und tatsächlich unterschriftsreif seien. Als Beispiel führt sie an, dass Allgemeinmediziner schon in Bälde als Fachärzte anerkannt würden. Auch eine Überarbeitung der Regelungen zu Primärversorgungseinheiten stehe kurz bevor. Daneben seien die Telemedizin sowie die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens wichtige Themen der Zukunft.