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Belastende Verhältnisse

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©shutterstock.com/ New Africa

Österreich ist weit davon entfernt, eine umfassende Gesundheitsversorgung von Kindern zu garantieren*

Der beste Sozialstaat bietet allen die beste gesundheitliche Versorgung – doch im Bereich Kindergesundheit ist Österreich kein Vorbild. Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der EU-Kindergarantie bietet die Chance, die Versorgungslücken zu schließen. Im Juni 2021 hat der EU-Rat die „Europäische Garantie für Kinder“ beschlossen, die unter anderem den kostenlosen Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung beinhaltet. Der Nationale Aktionsplan, den Österreich zur >

Umsetzung vorlegen wird, muss dem Problem begegnen, dass Österreich weit davon entfernt ist, eine umfassende Gesundheitsversorgung von Kindern zu garantieren.

„Jetzt ‚ersparte‘ Kosten treffen später – um ein Vielfaches vermehrt – die gesamte Gesellschaft.“

„Die Nichtzulassung pädiatrischer Primärversorgungszentren durch den Gesetzgeber ist Unsinn.“

Neue Therapieformen erforderlich

Beim Behandlungsbedarf von Kindern hat sich ein Wandel vom Zeitalter der Infektionserkrankungen hin zu einer Zunahme von Entwicklungsstörungen, psychischen und Lebensstilerkrankungen vollzogen. Durch Belastungen der Familiensysteme aufgrund von Armut, Migration, psychischen Erkrankungen der Eltern und vielem mehr steigt die Komplexität zusätzlich. Hier sind die sozialpädiatrischen Ambulatorien mit multiprofessionellen Teams oft das ideale Behandlungssetting. Dort wird die Versorgung unter einem Dach geboten und reicht von pädiatrischer Diagnostik und Behandlung über die bei Entwicklungsstörungen – etwa der Motorik oder der Sprache – wesentlichen funktionellen Therapien (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie) bis hin zu Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie. Da die Ambulatorien in manchen Regionen nur spärlich vorhanden sind und rasch an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, sind viele Familien mit Aufnahmesperren oder Wartezeiten von einem Jahr und mehr konfrontiert – mit der Folge, dass Zeitfenster in der kindlichen Entwicklung, zum Beispiel die Sprache betreffend, unwiederbringlich versäumt werden. Multidisziplinarität ließe sich auch im klassischen niedergelassenen Bereich umsetzen, indem Kinderärztinnen und -ärzte ein PVZ betreiben. Jedoch: Ohne erkennbaren Grund schließt der Gesetzgeber diese von der Gründung von Primärversorgungszentren aus.

GASTAUTOR: Hon.-Prof. Dr. Christoph Klein

ehem. Direktor der AK Wien und der Bundesarbeitskammer

Sachleistungen – nur solange der Vorrat reicht

Seit kurzem gibt es immerhin Gesamtverträge für die funktionellen Therapien, sodass logopädische, physio- und ergotherapeutische Behandlungen auf e-card über ärztliche Anordnung zumindest in der Einzelpraxis möglich sind. Freilich nur „solange der Vorrat reicht“ . Gibt es zu wenige Therapiestellen im Stellenplan des Gesamtvertrages oder finden sich nicht genug Therapeutinnen und Therapeuten dafür, müssen die Eltern auf „Wahltherapeuten“ ausweichen. Sie zahlen also das verlangte Honorar und bekommen 80 Prozent des Tarifs laut Gesamtvertrag erstattet. Die Leistung vorauszuzahlen und auf einem beträchtlichen Teil der Kosten sitzenzubleiben sind leider für Kinder aus sozial belasteten Verhältnissen, welche die Versorgung am nötigsten bräuchten, oft unüberwindliche Hürden. Wenn dann ein oder zwei Jahre auf den Sachleistungsplatz beispielsweise bei einer Logopädin gewartet werden muss, sind Phasen der Sprachentwicklung versäumt, die nicht mehr nachgeholt werden können.

(Spärliche) Datenlage belegt Unterversorgung

Für eine solide Planung fehlen allerdings Daten. Ein Aspekt des Versorgungsproblems besteht darin, dass Österreich bei den Zahlen über Prävalenzen und die Versorgung im Blindflug unterwegs ist. Die engagierten Pädiaterinnen und Pädiater der Initiative „Politische Kindermedizin“ belegen das Versorgungsproblem aber deutlich mit einem Vergleich des Anteils von Kindern und Jugendlichen mit funktionellen Therapien, die über die Sozialversicherung abgerechnet werden, sowie den dabei erhaltenen Therapieeinheiten zwischen Österreich und Deutschland. Der Anteil der in Österreich logopädisch bzw. physiotherapeutisch behandelten Kinder und Jugendlichen macht weniger als die Hälfte und bei der Ergotherapie sogar weniger als ein Viertel aus. Dass deutsche Patienten mehr als doppelt so viele Ergotherapie- und fast dreimal so viele Logopädieeinheiten erhalten, ist auf Stundenlimitationen und die abschreckenden Selbstbehalte bei den Wahltherapeuten zurückzuführen. Deutschland zahlt die volle Sachleistung! Alarmierend ist – trotz der neuen Gesamtverträge – das Verhältnis zwischen kassenfinanzierten Planstellen und Wahltherapeuten: Für nur drei Prozent aller freiberuflich tätigen Physiotherapeuten gibt es eine Kassenstelle, bei den Ergotherapeuten für einen von zehn und bei den Logopäden für zwei von zehn.

Fehlende Ressourcen in der Psychotherapie

In der Psychotherapie gibt es anstelle von Gesamtverträgen „Poolverträge“ zwischen ÖGK und regionalen psychotherapeutischen „Versorgungsvereinen“ , welche Sachleistungskontingente zur Verfügung stellen. Wer keine solche Sachleistung erhält, weil das Kontingent des Therapeutenpools erschöpft ist, muss sich mit 28 Euro Kostenzuschuss pro Stunde beim Privattherapeuten begnügen.

Kassenpädiater:innen dringend gesucht

Sogar in einem Bereich, der eigentlich über Jahrzehnte für gute Versorgung stand, ist mittlerweile Feuer am Dach: Immer weniger Kinderärztinnen und -ärzte sind bereit, einen Kassenvertrag anzunehmen – damit finden immer weniger Eltern eine kostenlose pädiatrische Betreuung ihrer Kinder. Bundesweit ist ein Viertel der kinderärztlichen Vertragsstellen unbe-

setzt, in Niederösterreich und Wien ein Drittel oder mehr! Große Wiener Bezirke wie Brigittenau oder Penzing, mit jeweils fast 100.000 Einwohnern, haben gerade noch einen Kassenkinderarzt; Städte wie Purkersdorf oder Bad Ischl keinen einzigen mehr. Da die Berufsgruppe ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Wichtigkeit der multiprofessionellen Zusammenarbeit hat und ein Primärversorgungszentrum insofern gerade für viele Junge ein attraktiverer Arbeitsplatz wäre als die klassische Einzelpraxis: auch hier der Hinweis, dass die Nichtzulassung pädiatrischer Primärversorgungszentren durch den Gesetzgeber Unsinn ist. Eine weitere Möglichkeit der Attraktivierung kassenärztlicher Mangelfächer könnten bezahlte Lehrpraxen bieten. Das konkrete Kennenlernen der Arbeit in der Kassenpraxis sollte dazu beitragen, junge Kolleginnen und Kollegen dafür zu gewinnen. Und das wäre wahrlich leistbar:

• Anzahl jährlich approbierter

Fachärztinnen und -ärzte: ca. 70 • davon ca. 50 % mit Interesse für niedergelassene Tätigkeit +

Lehrpraxis: ca. 35 • monatliche Kosten pro

Lehrpraktikant:in im

Vollkostenmodell: ca. 4.000 € • durchschnittliche Ausbildungszeit in der Lehrpraxis: 6 Monate

Gesamtkosten somit 35 x 4.000 € x 6 = 840.000 €

Um die inakzeptable Situation kurzfristig zu mildern, wird auch zu überlegen sein, wie die zahlreichen Wahlkinderärztinnen und -ärzte, die mehr als die Hälfte der niedergelassenen Pädiatrie ausmachen, stärker in die Versorgung der weniger finanzstarken Bevölkerung einbezogen werden können.

Hilfsmittel: Hindernislauf für Eltern und Kinder

Ein weiterer Schandfleck der österreichischen Gesundheitspolitik: die (unzureichende) Finanzierung von Hilfsmitteln für Kinder mit Behinderung, welche häufig beispielsweise auf Steh- und Gehhilfen, individuell angefertigte orthopädische Schuhe, Rollstühle usw. angewiesen sind, um am normalen Leben teilhaben bzw. sich überhaupt bewegen zu können. Die Krankenversicherung leistet nach derzeitiger Rechtslage zum Teil nur bescheidene Zuschüsse. Die Folge: Weniger vermögende Eltern werden monatelang im Kreis geschickt, um bei Behörden und Wohltätigkeitsorganisationen eine möglichst vollständige Finanzierung zu erreichen.

... auch wirtschaftlich dumm

Die beschriebene Unterversorgung nimmt nicht nur Kindern Lebensqualität und verbaut Entwicklungsmöglichkeiten, sondern kommt uns auch teuer zu stehen. Jetzt „ersparte“ Kosten treffen später, um ein Vielfaches vermehrt, die gesamte Gesellschaft – in Form chronifizierter Krankheiten das Gesundheitssystem, in Form nicht genutzter geistiger und physischer Entwicklungsmöglichkeiten das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft, des Weiteren den Sozialstaat in Form von Kosten über den ganzen Lebenszyklus der Betroffenen, durch institutionelle Betreuung, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Invaliditätspensionen, Ausgleichszulagen usw.

„Bundesweit ist ein Viertel der kinderärztlichen Vertragsstellen unbesetzt, in Niederösterreich und Wien ein Drittel oder mehr.“

Fazit

Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der EU-Kindergarantie muss daher einen strukturierten mehrjährigen Prozess vorlegen, in dem die Lücken in der Gesundheitsversorgung der Kinder systematisch geschlossen werden. Dafür werden – neben brauchbaren Daten – zusätzliche Mittel des Bundes erforderlich sein, die sich über einen mehrjährigen Betrachtungszeitraum freilich mehr als rechnen. Zur Sicherstellung der kostenfreien Behandlung bei niedergelassenen Kinderärztinnen und -ärzten müssen pädiatrische Primärversorgungszentren und Lehrpraxen ermöglicht sowie systematische Lösungen zur Einbindung der Wahlärzteschaft erarbeitet werden. <

* Der Gastautor war Vortragender bei den 7. Praevenire

Gesundheitstagen 2022 von 18. bis 20. Mai in Seitenstetten.

Literatur beim Verfasser.

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