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Wir müssen handeln um nicht von einer Pandemie in die andere zu schlittern“
Prof. Dr. Hans-Peter Hutter über die Zusammenhänge zwischen der Umweltkrise und neuen Erkrankungen
OA Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. Hans-Peter Hutter ist stv. Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health der MedUni Wien.
Haben wir uns die COVID-19-Pandemie selbst zu verdanken? Dem Hintergrund dieser Fragestellung auf der Spur war die Hausärzt:in im Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner am Zentrum für Public Health der MedUni Wien. Der Experte erklärt, wie Globalisierung, Umwelt- und Klimakrise die Entstehung neuer Erkrankungen begünstigen und was getan werden kann, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.
„Bis zu 800.000 in der Tierwelt zirkulierende Virenspezies könnten das Potenzial haben, Menschen zu infizieren.“
HAUSÄRZT:IN: Expert:innen gehen davon aus, dass SARS-CoV-2 vom Tierreich auf den Menschen übertragen wurde. Können Sie uns weitere Beispiele für Zoonosen/„Emerging Diseases“ geben?
Prof. HUTTER: Zoonosen sind durch Viren, Bakterien, Parasiten oder Prionen verursachte Infektionskrankheiten, die vom Tier – direkt oder über einen Vektor – auf den Menschen übertragen werden und vice versa. Derzeit sind global mehr als 200 Zoonosen bekannt. Diese reichen von altbekannten Erkrankungen wie Pest, Tuberkulose, Tollwut bis hin zu AIDS und Ebola und – nicht zu vergessen – der jährlich wiederkehrenden Influenza. Als typische „Emerging Diseases“ können SARS, MERS und natürlich COVID-19 bezeichnet werden, aber auch die in den letzten Wochen aufgetretenen Affenpocken. Viele neu auftretende humanpathogene Erreger stammen ursprünglich von tierischen Reservoirs.
Was hat zur Entstehung dieser Erkrankungen geführt?
Neue Krankheitserreger und damit neue Krankheiten entstehen immer wieder. Die Kräfte der Evolution sind dafür verantwortlich, dass Viren und Bakterien pausenlos neue genetische Varianten entwickeln. Manchmal überspringen sie die biologischen Artgrenzen und infizieren plötzlich Menschen anstelle von ihren bisherigen tierischen Wirten. Das bereitet dem menschlichen Immunsystem Probleme, da es auf diese neuartigen Erreger nicht vorbereitet ist. So eine Situation kann völlig harmlos sein oder auch fatal enden. Die menschliche Geschichte ist bekanntlich begleitet von Seuchengeschehen – bis heute. In all diesen Fällen waren zwei Bedingungen anzutreffen: eine hohe Bevölkerungsdichte und eine enge Nachbarschaft von Mensch und Tier in Zusammenhang mit Domestizierung oder mit Zerstörung der tierischen Habitate.
Welchen Einfluss haben die Umwelt- und Klimakrise sowie die Globalisierung?
Man kann verkürzt sagen: Dieselben Faktoren, welche Klimakrise und Biodiversitätsverlust vorantreiben, begünstigen auch die Entstehung von Zoonosen. Also ungebremster Raubbau an unseren natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere auch die Abholzung tropischer Regenwälder, Jagd und Wildtierhandel sowie ein generell immer tieferes Vordringen von Mensch und Landwirtschaft in natürliche Lebensräume – wo eine Vielzahl noch unbekannter potenzieller Krankheitserreger schlummert – fördern ein Überspringen auf Mensch und Nutztiere. Furchtbare Bedingungen, unter denen Tiere gehalten und gehandelt werden, aber auch unter denen Menschen arbeiten müssen, kommen dazu. Mit der Globalisierung, die Handel und Reisen zu Wasser, Land und Luft überallhin binnen kürzester Zeit ermöglicht, wird schließlich der globalen Ausbreitung eines Krankheitserregers Tür und Tor geöffnet, wie die Coronapandemie eindrücklich gezeigt hat.
Wie hoch ist das Risiko einzuschätzen, dass es erneut zu Pandemien zoonotischer Infektionskrankheiten kommt?
Man muss sich nur eines vorstellen: Das „Global Virome Project“ (eine internationale Initiative zur Erforschung von Viren) geht derzeit von einem Pool von
rund 1,6 Millionen Viren aus, die in der Tierwelt zirkulieren. Davon könnten bis zu 800.000 Spezies das Potenzial haben, Menschen zu infizieren. Ein glasklarer Aufruf zu handeln, möchten wir nicht von einer Pandemie in die andere schlittern. Für die Verbreitung zoonotischer Infektionskrankheiten sind wir ja selbst mit unserem Verhalten verantwortlich, es begünstigt im großen Ausmaß die Entstehung neuer Varianten von Pathogenen und erhöht damit auch das Risiko neuer Epidemien.
Abweichend von der WHO-Definition von 1958, werden heute auch Krankheiten zu den Zoonosen gezählt, die von belebten Vektoren wie Stechmücken, Zecken etc. übertragen werden ...
Ein erheblicher Teil von Infektionskrankheiten ist vektorvermittelt, ja. Dabei spielen Arthropoden eine besondere Rolle. Bekanntlich wird die Pest, die wohl die bisher folgenreichsten Seuchen der Menschheitsgeschichte hervorgerufen hat, primär vom Floh übertragen. Aber auch viele andere – ebenso endemische – Krankheitserreger wie die FSME werden von Arthropoden übertragen. Die globale Vernetzung beschleunigt die Einschleppung und Verbreitung von gebietsfremden Arten, u. a. eben auch von Vektoren wie Stechmücken und damit von möglichen Krankheitserregern.
Welche Bedeutung haben vektorvermittelte Erkrankungen im Kontext der Klimakrise und der Globalisierung?
Durch den Klimawandel, insbesondere höhere Temperaturen und mildere Winter, steigt das Risiko, dass Krankheiten und ihre potenziellen Überträger, beispielsweise aus tropischen bzw. wärmeren Regionen, in neue Gebiete vordringen, die vormals für die Ausbreitung von Vektoren oder das primäre Wirtsreservoir ungünstig waren. Ein bekanntes Beispiel, auch in Österreich, ist die Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus), die sich zunehmend in Europa ausbreitet und etabliert. Aber auch heimische Vektoren verändern ihre Verbreitungsgebiete. So wird etwa seit Jahren beobachtet, dass der Gemeine Holzbock (Ixodes ricinus) – die bei uns häufigste Zeckenart und bekanntlich der Überträger von FSME, Lyme-Borreliose etc. – im Zuge des Temperaturanstiegs vermehrt in höheren Lagen auftritt.
Welche anderen Umwelt- und Klimafaktoren können dazu führen, dass neue Erkrankungsbilder entstehen?
Aus meiner Sicht sind es nicht in erster Linie neue Erkrankungsbilder, auf die wir uns vorbereiten müssen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass bestimmte Erkrankungen aufgrund klimatischer Veränderungen in Gebieten auftreten, wo sie früher nicht vorgekommen sind, oder dass bekannte Krankheiten gravierendere Folgen haben. Weiters ist auch mit einer Verstärkung von bestehenden Beeinträchtigungen zu rechnen, basierend auf Mechanismen, die erst vor einigen Jahren entdeckt wurden. So kann das Aufeinandertreffen von Klimafaktoren, z. B. einer erhöhten UV-Strahlung und einer verstärkten Bildung sekundärer Luftschadstoffe, das Allergiepotenzial von bestimmten Pflanzen steigern. Ozon verstärkt die Allergenexpression und erhöht damit die Allergenwirkung. Wir müssen daher auf überraschende Effekte gefasst sein.
Was sollte getan werden, um der erläuterten Problematik entgegenzuwirken?
Das Zusammenspiel von menschlichem Verhalten, Lebensräumen von Tieren, Krankheitsüberträgern und der Umwelt muss nicht nur verstanden, sondern vor allem respektiert werden. Es sind nicht nur internationale Abkommen, etwa zu nachhaltigen und transparenten Lieferketten, gefragt, sondern auch das Engagement von uns allen. Aber davon sind wir meiner Meinung nach noch weit entfernt. Wirksame Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität sorgen für den Erhalt elementarer Ökosystemleistungen, auf die wir angewiesen sind: Klimaregulierung, Filterung von Luft und Wasser, Ernährungssicherheit, Vorbeugung von Pandemien und vieles mehr ... Dazu braucht es speziell auch eine konsequente (gesetzliche) Weichenstellung in der Landwirtschaft hin zu mehr Natur- und Tierverträglichkeit. Der Ausweg aus diesen menschengemachten Krisen erfordert eine grundlegend neue Herangehensweise in der Art, wie wir produzieren und konsumieren sowie hinsichtlich der Werte, die wir in unserer Gesellschaft priorisieren. Was es braucht, sind politisches Rückgrat bei der Umsetzung und breites gesellschaftliches „commitment“ für das gemeinsame Ziel, diese Krisen zu bewältigen.
Was möchten Sie den Leser:innen abschließend noch mit auf den Weg geben?
Der Klimawandel trägt – in Zusammenspiel mit anderen Treibern wie Übernutzung, Intensivierung der Landwirtschaft etc. – maßgeblich zum Biodiversitätsverlust bei. Nicht nur zur Verhinderung neuer Infektionserkrankungen, sondern auch zur Erhaltung der globalen Wirtschaft und des Friedens ist und bleibt der Schutz von biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen der Schlüssel. Der Kampf gegen den Temperaturanstieg – und gegen das damit in Zusammenhang stehende Artensterben sowie den Verlust intakter Ökosysteme – ist auch eine ärztliche Aufgabe, wie die WHO bereits 1986 in der „Ottawa Charta“ festgestellt hat.
„Der Kampf gegen den globalen Temperaturanstieg ist auch eine ärztliche Aufgabe, wie die WHO bereits 1986 in der ‚Ottawa Charta‘ festgestellt hat.“
Das Interview führte Anna Schuster, BSc.
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Sind wir noch zu retten?
Von Hans-Peter Hutter und Judith Langasch Orac Verlag 2021
