
4 minute read
Realistische Wege statt „Quit or Die“
Harm-Reduction im Sinne der ganzheitlichen Betreuung von Raucher:innen
Rauchen und Tabak sind in der medizinischen Betreuung immer wieder ein bedeutendes Thema. Zweifelsfrei stellen sie die Ursache für viele pulmonale und kardiovaskuläre Erkrankungen dar, etwa für Karzinome – nicht nur betreffend Lungenkrebs –, für COPD oder Infektanfälligkeit. Auch als Auslöser von persönlichem Leid können sie fungieren. Jeder, der sich mit dem Thema Rauchen und wieder Nichtrauchen aus unterschiedlichster Sicht und mit individueller Betroffenheit auseinandergesetzt hat, kennt die Probleme, die durch Nikotinabhängigkeit entstehen. Die komplette Raucherentwöhnung steht in zahlreichen Fällen wie der Gipfel eines hohen Berges vor Augen. Vergleichbar mit der Spitze des Himalajas, bleibt dieses Ziel für viele Betroffene unerreichbar. Daher hat das Thema „Harm-Reduction“ in die Pulmologie – ebenso wie in weitere medizinische Gebiete – Einzug gehalten, und zwar in Anlehnung an andere Themen der Suchtbetreuung. HarmReduction oder Schadensreduktion ist ein alltägliches Thema. Sie besteht zu einem gewissen Teil aus Risikoreduktion und aus der realistischen Inkaufnahme eines möglichen – wenngleich „kleineren“ oder seltener auftretenden – Schadens. Einige Beispiele aus dem täglichen Leben: Schifahren – aber mit Sturzhelm; Autofahren – aber mit Sicherheitsgurt; Sonnenexposition – aber unter Verwendung von Sonnencremen. Das gesamte Suchtprogramm mit der ganzheitlichen Betreuung von Drogenkranken, ohne den apodiktischen Ansatz der „Heilung“ , ist eine Erfolgsgeschichte.
Autor: Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Popp
Facharzt für Pneumologie im Ordinationszentrum Döbling, Wien
Strategien der Sekundär- und Tertiärprävention
Die WHO setzte zuletzt auf eine fast kategorische Verbannung von Tabak sowie Nikotin und verfolgte damit eine Strategie, die ein „Quit or Die“ propagiert. Durch seine prohibitorischen Züge ist dieses Konzept für viele Forscher und Suchtbetreuer unrealistisch geworden. Deswegen haben über hundert Forscherinnen und Forscher einen wirklichkeitsnahen und stärker patientenbezogenen Weg der Risiko- und Schadensreduktion vorgeschlagen. Harm-Reduction ist ein signifikantes Thema bei Tabak- und Nikotinabhängigkeit geworden. Weltweit gibt es Bemühungen, den Rauch- und Nikotinkonsum durch weniger schädliche Substanzen oder Darreichungsformen zu verringern. Harm-Reduction versteht sich im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprävention. Es geht nicht nur um die Nikotinabhängigkeit, welche kaum organische Schäden hervorruft, sondern auch um die toxischen Tabakeffekte vor allem von Verbrennungszigaretten. Die TabakHarm-Reduction-Strategien bei Raucherinnen und Rauchern setzen auf die Verwendung alternativer, weniger schädlicher Möglichkeiten der Nikotinzufuhr. Diese gibt es in Form von Nikotinpflastern, Nikotin-Pouches, Snus (Tabakbeutel zur oralen Anwendung), Elektrozigaretten oder Tabakerhitzern.
E-Zigaretten als Möglichkeit des Rauchausstiegs
Nikotinersatztherapien stellen ein wichtiges Mittel zur Behandlung der Nikotin-
X Abbildung: Harm-Reduction-Konzepte bei Raucher:innen
Erkrankungsrisiko
Modell der gesundheitlichen Auswirkungen von RRP
- Die Kurven sind krankheitsspezifisch - Hier abgebildet: Lungenkrebs
Interventionsbeginn Rauchen Rauchstopp Umstieg auf RRP Infektionsrate Exazerbationsrate undProgression bei COPD
Zeit (Alter)
Quelle: Baker G et al., srtn annual meeting florence, march 2017, poster.
Das Erkrankungsrisiko für Lungenkrebs bei Raucherinnen und Rauchern kann durch Verwendung eines Produkts mit reduziertem Risiko (RRP) vermindert werden. Der stärkste Effekt wäre durch einen Rauchstopp zu erzielen, ähnliche Effekte sind bei COPD und Infekten zu erwarten.
abhängigkeit dar. Bekannt sind Depotpflaster, Kaugummis, Lutschtabletten, Sublingualtabletten, sogenannte „Inhalatoren“ oder Nasensprays sowie E-Zigaretten als relativ neue Alternative des Rauchens. Letztere hatten teilweise den Ruf eines Lifestyle-Produktes – mit nur geringer behördlicher Regelung. Heute sind die vielen Einflussfaktoren – die Inhaltsstoffe von E-Zigaretten, der Effekt auf die Sucht, die Chance einer Zigarettenreduktion, Gesundheitsschäden etc. – wissenschaftlich gut erforscht. So können EZigaretten auch als Möglichkeit des Rauchausstiegs gesehen werden. Seit circa zehn Jahren wird dieser Aspekt untersucht und es mehren sich Studien, die zeigen, dass E-Zigaretten mindestens so effizient sind wie andere Nikotinersatztherapien oder alternative Behandlungsmöglichkeiten. Ein Cochrane-Review bestätigt die Wirksamkeit von Therapieansätzen mit der E-Zigarette.1 Dass E-Zigaretten immer häufiger zum Rauchausstieg genutzt werden, zeigen Studien ebenfalls. Faktoren, die mitberücksichtigt werden müssen, sind die Dosierung von Nikotin, die Häufigkeit des „Dampfens“ und die dadurch bedingte Belastung mit verdampfenden Substanzen. Insgesamt liegt die Schadstoffbelastung bei E-Zigaretten im einstelligen Prozentbereich, verglichen mit der Verbrennungszigarette.
Tabakerhitzer sind keine Einstiegsmedien
Einen neuen Ansatz stellen auch die Tabakerhitzer dar. In der Wahrnehmung des Users sind solche Produkte dem Rauchen am ähnlichsten und werden daher gut akzeptiert. Sie sind für Personen, die stark an der Verbrennungszigarette hängen und keinen kompletten Rauchstopp umsetzen können oder wollen, als sinnvolle Alternative mit reduzierter Schadstoffbelastung gedacht. Tabakerhitzer verwenden zwar Tabak, jedoch wird dieser mit nur ca. 300° C erhitzt und nicht verbrannt. Dadurch entsteht kein CO wie auch deutlich weniger schädliche Substanzen. Einzelne Kanzerogene werden um 80 bis 99 Prozent vermindert.2 Ein neuer Aspekt ist mit der Zulassung eines Tabakerhitzers als „Modified Risk Tobacco Product“ (MRTP) durch die FDA hinzugekommen. Da viele Raucher gerne weniger schädliche Produkte benutzen würden, erscheint dieses Produkt für sie ebenfalls interessant. Denn: Die kumulative Exposition gegenüber Karzinogenen ist beim Tabakerhitzer zehn bis 25 Mal niedriger als beim Zigarettenrauchen mit dem Verbrennungsprozess. Verbraucheranalysen von E-Zigaretten sowie von Tabakerhitzern haben gezeigt, dass beide nicht als Einstiegsmedien zu sehen sind, sondern in der Personengruppe bisheriger Zigarettenraucher als Alternative verwendet werden. Ein wesentlicher Aspekt bleibt, dass die genannten Produkte zur Schadensreduktion und als eventuelle Hilfe beim Ausstieg aus dem Rauchen eingesetzt werden können und sollen. <
Literatur (auszugsweise): 1 McRobbie H et al., Cochrane Database of Systematic Reviews, 2014: doi.org/10.1002/14651858.CD010216.pub2 2 Pieper E et al., Bundesgesundheitsbl 61, 1422–1428 (2018).
Phillips B et al., Food and Chemical Toxicology, Volume 126, April 2019, Pages 113-141. Slob W et al., Risk Anal. 2020 Jul;40(7):1355-1366.