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Genesen, aber noch nicht gesund

Komplementärmedizinische Ansätze bei Long COVID

Long COVID ist für Mediziner und andere Gesundheitsexperten ein neues Phänomen und Krankheitsbild. Eine Infektion mit dem Coronavirus/SARS-CoV-2 kann bei Patienten vielfältige Beschwerden über einen längeren Zeitraum hervorrufen. Aktuell spricht man von Long COVID – ausgelöst durch eine COVID19-Erkrankung – meist bei folgenden Beschwerdebildern und Symptomen: beim postviralen Müdigkeitssyndrom (PVMS) sowie beim chronischen Fatigue-Syndrom (CFS), auch als Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bezeichnet. Die häufigsten Symptome bei voll ausgeprägtem PVMS/ME/CFS sind: • Schwäche, Kraftlosigkeit und Erschöpfung durch geringe körperliche, geistige oder emotionale Belastungen, • Instabilität des vegetativen Nervensystems mit starkem Pulsanstieg bei geringen Belastungen, des Weiteren

Schwindel und Kreislaufbeschwerden im Stehen, • Beeinträchtigung von Gedächtnis,

Konzentration, Denken und Wahrnehmung, Gefühl der Benommenheit im Kopf, • Schlafstörungen, • anhaltendes oder wiederkehrendes Gefühl einer Grippe (Gelenk-, Muskel-,

Halsschmerzen, erhöhte Temperatur), • starke Muskelschwäche und -schmerzen. Zentrales Merkmal ist jedenfalls ein extremer Energiemangel. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die energiegenerierende Funktion der Mitochondrien beeinträchtigt ist. Die Komplementärmedizin und das Konzept der integrativen Ernährung bauen die Ursachenforschung betreffend Long COVID interaktiv auf zwei Säulen auf: auf der westlichmedizinischen Sicht und der Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).

Westlich-medizinische Sicht

Die Ursachen für Long COVID sind aus wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig geklärt. In der Mehrzahl der Fälle steht eine Infektionskrankheit am Beginn der Erkrankung. Diese wird vom Immunsystem nicht richtig ausgeheilt und kann dann in einen chronischen Entzündungsprozess übergehen, der das Gehirn und

das Nervensystem betrifft. Folgende Mechanismen kommen dafür in Frage: 1. Viren können im Körper bleiben und weiterhin Entzündungen anfachen. 2. Es kann anschließend zu einer Autoimmunerkrankung kommen. 3. Das Immunsystem kann in einem hyperaktiven Zustand bleiben und zu anhaltenden Entzündungen führen. Die Diagnose ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte, den typischen Beschwerden und aus dem Ausschluss anderer Ursachen. Die Therapie erachtet die Vermeidung von Überanstrengung als wichtigste Maßnahme. In schweren Fällen erfolgt eine Kontrolle der Pulsfrequenz mittels einer Pulsuhr.

Blickwinkel der TCM

Die Traditionelle Chinesische Medizin spricht in puncto Ursachen von einer „schwachen Mitte“ . Gemeint ist eine Schwäche des Organpaars Milz und Magen, welches dem Erd-Element zugeordnet wird, und somit eine geschwächte Verdauungsfunktion. Diese führt zu einem Energie- bzw. einem Qi-Mangel, wodurch sich im Körper Feuchtigkeit, Nässe, Schleim und Hitze ansammeln. Die Ursachen und diagnostischen Zuordnungen sehen laut TCM wie folgt aus: 1. Eindringen von äußerer Wind-Kälte/

Hitze in den Körper: Dieser pathogene Faktor kann nicht beseitigt, aber reduziert werden, 2. eine vorab im Inneren vorhandene

Hitze, die viele verschiedene Ursachen haben kann, 3. vorbestehende Schwächen im Lungen- und Nieren-Qi – das Immunsystem ist beeinträchtigt, 4. eine Schwäche von Milz und Magen sowie der Verdauungsfunktion – chronische Ernährungsfehler sind als Risikofaktor zu werten. Eine ausgewogene, abwechslungsreiche, bunte Ernährung mit viel Gemüse, Eiweiß und hochwertigen Kohlenhydraten fördert eine gute Verdauung und schenkt wieder Energie. Junkfood, zu viel Rohkost, frittiertes oder spätes Essen verlangen der Verdauung viel ab, machen sie träge und versorgen den Körper nicht ausreichend mit Nährstoffen. Auch Überanstrengung, Überarbeitung und das Nichtbeachten der Belastungsgrenzen können den Zustand von Long-COVID-Patienten verschlechtern. So wird mitunter aus einem akuten Infekt eine verzögerte Genesung oder es kommt sogar zu einer Chronifizierung der Beschwerden. Es ist wichtig, die aktuellen individuellen Belastungsgrenzen auszuloten

„Die TCM spricht in puncto Ursachen von einer ,schwachen Milz‘. Gemeint ist eine Schwäche des Organpaars Milz und Magen und somit eine geschwächte Verdauungsfunktion.“

Autorin: Dr.in Claudia Nichterl

Ernährungswissenschafterin, Gründerin der Akademie für integrative Ernährung, integrative-ernaehrung.com

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und strikt zu beachten, auch wenn dies eine Herausforderung im Alltag darstellt.

Integrative Ernährungstherapie

Ein seriöses Fundament individueller Empfehlungen, die praxisnah und nachhaltig sind, bietet die integrative Ernährung. Sie kombiniert die Ernährungswissenschaft mit traditionellen medizinischen Systemen und der Psychologie. Die integrative Ernährungstherapie ist ein ganzheitliches Konzept für die Prävention und Gesunderhaltung, sie bietet aber auch komplementäre Unterstützung bei der Behandlung von diversen Krankheiten und Leiden (siehe Infobox 1).

Immunsystemstärkende Maßnahmen der TEM

X Infobox 1: Ansätze der integrativen Ernährungstherapie

„ Bei starker Schleim-/Nässe- oder Feuchtigkeitsbelastung kann eine Detox-Kur, eine Getreidekur nach TCM (mit viel Gemüse!) oder eine Basenkur für fünf bis zwölf Tage unterstützen. „ Einfache, schnelle Rezepte, um einer Überforderung vorzubeugen („Meal Prep“). „ Regelmäßige, ausgewogene Ernährung mit drei – idealerweise frisch gekochten – Mahlzeiten:

Als Frühstück eignen sich z. B. ein Getreidebrei (Congee, Kraftbrei mit Obst/Gemüse, Leinöl/

Hanföl und Nüssen) oder Kraftsuppen mit Gemüse und Kräutern. Für das Mittag- und Abendessen empfehlen sich einfache Mahlzeiten, z. B. Ofengemüse mit Fisch und Kartoffeln, Eintöpfe mit Hülsenfrüchten, Kraftsuppen. „ Kraftsuppen aus Rind/Fisch/Huhn mit Gemüse tragen dazu bei, die Beschwerden zu lindern und das Immunsystem zu stärken. „ Bei vielen Patienten macht eine histaminarme Ernährung Sinn, vor allem, wenn ein Mastzellenaktivierungssyndrom vermutet wird. „ Eine vitalstoffreiche Ernährung mit Gemüse, Eiweiß (täglicher Mindestbedarf: 0,8 g pro kg

Körpergewicht), hochwertigen Ölen und Lebensmitteln, die reich an Spermidin sind (biogenes

Polyamin z. B. in Brokkoli, Blumenkohl, Pilzen, Erdnüssen, Haselnüssen, Sojabohnen und anderen Hülsenfrüchten). „ Einsatz von Qi-tonisierenden Kräutern, die als Tee oder in Suppen verwendet werden können: von Ginseng, chinesischen Datteln, Wermut, Salbei, Schafgarbe, Süßholz.

Hilfreiche Hinweise für die Stärkung des Immunsystems finden sich im Buch der TEM-Expertin Michaela Hauptmann*:„Jetzt im Herbst, wenn die Tage kürzer und die Nächte kälter werden, bedeutet das für die Traditionelle Europäische Medizin: ‚Etwas Warmes braucht der Mensch‘. Alle Kräfte ziehen sich in die Erde zurück. Die Wurzeln der Pflanzen und der Boden werden zum Speicher. Ähnliches passiert im Körper. Je kühler es wird, je herbstlicher, umso trockener wird die Haut, die Haut der Hände, Arme, Beine und Füße und auch die Schleimhäute in Darm, Mund und Nase. (…) Die Atemwege sind besonders vor Austrocknung, aber auch vor zähem Schleim zu bewahren. Es gilt das Prinzip der Fließfähigkeit. Die bunte Vielfalt der Herbstküche unterstützt dabei. Sauer, süß und bitter sind die Geschmäcker des Herbstes. “ Weitere konkrete immunsystemstärkende Maßnahmen der TEM: • Wärmende Wintergewürze verwenden, z. B. Zimt, Nelke, Sternanis,

Vanille, Ingwer, Muskat. • Senf und Kren unterstützen das Immunsystem – gekochte Speisen damit würzen. • Ruhe und Entspannung integrieren – z. B. abends mit Melissentee und

Kerzenlicht. • Gut gegarte Speisen unterstützen die

Verdauungskraft, z. B. Gemüsecremesuppen, lang geschmorte Eintöpfe, süße Aufläufe mit Birnen- oder Apfelkompott. • Auf Haut und Schleimhaut wirken sich Aufenthalte im Freien vorteilhaft aus.

X Infobox 2: Unterstützende Teemischungen**

Eine Rezeptur, die Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Druck- und Völlegefühl im Bauch, Reflux, Übelkeit und Erbrechen verringert:

„ Herba Millefolii, Schafgarbe (Kaiserkraut, das wichtigste Kraut der Rezeptur): 9 g „ Pericarpium Citri reticulatae, Mandarinenschalen: 6 g „ Herba Menthae piperitae, Pfefferminze: 6 g „ Fructus Cardamomi, Kardamom: 3 g „ Fructus Carvi, gerösteter Kümmel: 3 g „ Radix Glycyrrhizae, geröstetes Süßholz: 2 g „ Crategus Monogyma, Weißdorn: 6 g „ Zingiber officinalis, frischer Ingwer: 6 g

Eine Rezeptur, um das Qi der Milz und der Niere zu tonisieren und Nässe auszuleiten; sie wird bei Appetitlosigkeit, allgemeiner Müdigkeit und Kraftlosigkeit angewendet:

„ Radix Ginseng, Ginseng: 3–6 g „ Herba Absinthii, Wermut: 1–3 g „ Fructus Juniperi, Wacholderfrüchte: 3 g „ Pericarpium Citri reticulatae, Mandarinenschalen: 6 g „ Radix Glycyrrhizae, Süßholz: 3 g „ Rubus ideaeus, Himbeerblätter: 3–6 g „ Thymus Vulgaris, Thymian: 3 g „ Angelica archangelica, Engelwurz: 6 g

**erstellt von der dipl. TCM-Ernährungsberaterin Adele Narath * „Temperamentvoll essen – Ernährung nach der

Traditionellen Europäischen Medizin“, von Michaela

Hauptmann, Ennsthaler-Verlag, 2020.

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