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Schmerzhaftes Kapitel

Warum Frauen und Männer unterschiedlich empfindlich und empfindsam sind

Vielleicht stellen Sie das in diesen Wochen in Ihrer Praxis auch immer häufiger fest: Menschen, die vor kurzem an COVID-19 erkrankt waren, aber als genesen galten und sich möglicherweise erst auf Nachfrage an ihre Erkrankung erinnern, stellen sich mit diffusen Beschwerden vor – mit nachlassender Belastbarkeit, Geruchs- und Geschmacksbeeinträchtigungen, übermäßiger Müdigkeit, Haarausfall, Schmerzen (vor allem Kopf, Muskeln und Gelenke). Auffällig auch: Nicht wenige jüngere Frauen sind betroffen. Ganz abgesehen davon, dass nicht nur mit Corona selbst, sondern auch mit den Folgen einer Corona-Infektion ganz neue Herausforderungen für die medizinische Forschung, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation entstanden sind – die Pandemie hat wieder einmal und auf drastische Weise gezeigt, dass Männer und Frauen sehr unterschiedlich erkranken und behandelt werden müssen. Somit spielt das Phänomen Schmerz, nun unter aktuellen Aspekten, wieder einmal eine unübersehbare Rolle, auch mit Blick auf Geschlechterunterschiede. Die Zahl der Menschen, die wegen langanhaltender oder gar chronischer Schmerzen eine Arztpraxis aufsuchen, ist – auf ganz Europa bezogen – sehr hoch. Man spricht von rund 100 Millionen, rund 350.000 sollen es laut einer aktuellen Statistik der Österreichischen Schmerzgesellschaft in der Alpenrepublik sein. In Deutschland spricht die Schmerzliga sogar von bis zu 15 Millionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Frauen, das belegen inzwischen zahlreiche Studien.

Serie SCHMERZ

Autorin: Annegret Hofmann

Sprecherin Netzwerk „Gendermedizin & Öffentlichkeit“, Bernau bei Berlin, Gendermed.info

Aber warum? Was folgt daraus für die Diagnostik und die Therapie? Und wenn diese Patientinnen und Patienten, nicht zuletzt aus ganz praktischen Gründen, zuerst ihren Hausarzt, ihre Hausärztin aufsuchen: Was müssen diese wissen, um eine erfolgreiche Therapie zu beginnen?

Einfluss der Sexualhormone

Bis in die jüngere Vergangenheit glaubte man, die unterschiedliche Wahrnehmung von Schmerzen hänge vor allem mit dem sozialen Rollenbild der Frau zusammen: mit Schmerzen gebären, die Schmerzensreiche, über Schmerzen klagen, empfindlich und empfindsam sein. Gar nicht so selten wurden Schmerzen deshalb nicht ernst genug genommen. Anders stellt sich die soziale Komponente bei Männern dar, beginnend im Kindesalter: Ein Indianer kennt keinen Schmerz, ein Junge heult nicht, ein Mann lässt sich doch von ein paar Kopfschmerzen nicht krankschreiben … Dass solche Erklärungen lange Zeit unwidersprochen blieben, hat – wir wissen es – verschiedene Ursachen. Zum einen >

passte es ins Weltbild, zum anderen fehlten überzeugende Ideen hinsichtlich der Entstehung von Schmerzen – waren sie doch kaum mess- und vergleichbar, mehr eine Sache der Wahrnehmung, ganz anders als ein gebrochener Knochen, der sich bei Frauen und Männern erst einmal gleich darstellt. Sieht man, was Ursachen und Heilung betrifft, genauer hin, kommen allerdings auch hier die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zutage. Wenngleich der Gelehrtenstreit über die Ursachen der unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung noch andauert, so scheint ein wesentlicher Grund inzwischen unbestritten: Die Sexualhormone Östrogen und Testosteron haben einen wesentlichen Einfluss auf die Schmerzempfindlichkeit und Schmerzverarbeitung. Östrogen macht schmerzempfindlicher, Testosteron lässt Schmerzen in den Hintergrund treten. Hormonale Veränderungen in der Schwangerschaft bewirken wiederum, dass Schwangerschaft und Geburt „gemeistert“ werden. Eine Tatsache, welche die weit verbreitete Annahme, dass Männer derlei Schmerzen gar nicht ertragen würden, relativiert.

Auch Gene und Genvarianten spielen hinein

Neben Hormonen sind es Gene und Genvarianten, die quasi als Laune der Natur beispielsweise Rothaarige (und hier vor allem Frauen) auf Schmerzmittel besser reagieren lassen als andere. Apropos Schmerzmittel: Medikamente werden vorrangig schon im Tierexperiment an männlichen Mäusen getestet – das ist inzwischen häufig beklagt, aber noch zu wenig geändert worden. Vorklinische Studien machen kaum und klinische Studien nur wenige Aussagen über unterschiedliche Wirkweisen von Arzneimitteln bei Frauen und Männern. Hier gibt es trotz verschärfter Vorgaben noch viel zu tun. Nicht zuletzt bei Medikamenten, die schon vor längerer Zeit zugelassen wurden. Die Nebenwirkungen und Folgen von ungeeigneten Medikamenten und, daraus oft folgend, Medikamentenmissbrauch sind hinlänglich bekannt. Insbesondere Frauen befinden sich unter den Betroffenen.

Zusammenspiel mit psychosozialen Faktoren

Das immer noch sehr weite und relativ unbeackerte Feld der „Gendermedizin“ mit seinem Teilgebiet Schmerzunterschiedlichkeit bei Männern und Frauen lässt sich, neben der biologischen Unterschiedlichkeit zwischen den Geschlechtern, letztlich nur vollständig im Zusammenspiel mit psycho-sozialen Faktoren erklären. Frauen im ständigen stressigen Rollenwechsel zwischen Beruf und Familie: Kann es verwundern, dass es zu häufigen, vielleicht sogar chronischen Darmbeschwerden mit starken Schmerzen kommt? Männer entwickeln unter permanentem Leistungsdruck oder auch bei gefühlter Unterforderung im Beruf Rückenschmerzen, gegen die es scheinbar keine Therapie gibt. Eine gute ärztliche Versorgung hat den biopsychosozialen Blick, was heißt: Man muss auch das Umfeld erfragen, in dem Menschen – Männer wie Frauen – leben. Eigentlich ist das unabdingbar für eine erfolgreiche Therapie. X HAUSÄRZT:IN-Buchtipp

Frauenmedizin – Männermedizin. Der kleine Unterschied ist größer als gedacht.

Von Annegret & Rolf Hofmann Goldegg Verlag 2021

Weiterbildung in Gendermedizin

Der Landarzt – der Hausarzt vergangener Zeiten – hatte diese Kenntnis – nicht immer, aber oft. Er hatte schon den Großvater behandelt und kannte dessen Veranlagung zur Arthritis, er wusste, dass es schon mehrmals Brustkrebs in der Familie gegeben hatte oder dass man nicht nur an Feiertagen zu üppig aß … Das kann der Hausarzt heute so oft nicht mehr leisten. Allerdings gibt ihm die Wissenschaft mit der Gendermedizin neue Erkenntnisse an die Hand, um der Patientin/dem Patienten gerecht zu werden. Diesbezüglich hat sich in letzten Jahren viel getan – in Österreich gibt es mehrere Universitäten – Wien, Innsbruck, Salzburg, Graz –, die solch einen Schwerpunkt haben bzw. Veranstaltungen anbieten. Auch für die ärztliche Weiterbildung gilt: Eine wachsende Nachfrage bestimmt das Angebot. Ihre Patientinnen und Patienten werden es Ihnen danken!

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