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Vertrauensärzt:innen über Jahrzehnte

Alter(n) aus Sicht der Allgemeinmedizin*

„Unter dem Alter versteht man den Lebensabschnitt rund um die mittlere Lebenserwartung des Menschen, also das Lebensalter zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod. Das Altern in diesem Lebensabschnitt ist meist mit einem Nachlassen der Aktivität und einem allgemeinen körperlichen Niedergang (Seneszenz) verbunden. “ (Wikipedia)

Unser Umgang mit dem Alter(n) ist kulturell geprägt und steht im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung. Wie sich das Altern und das Bild des Alters durch die Digitalisierung dieser Generationen, durch neue Kommunikationsmittel und -wege sowie das geänderte Sozialverhalten wandeln werden, wissen wir noch nicht. Ebenso wenig ist abzusehen, welche Auswirkungen die COVID19-Pandemie auf unsere Wahrnehmung des Alters haben wird. Noch nie wurden Alterskategorien (85 +, 80, 65 etc.) medial so stark betont und mit einer erhöhten Vulnerabilität in Zusammenhang gebracht wie in dieser Pandemie.

Mehrdimensionale Problemstellungen

Alter als „Risikofaktor“ bedeutet aus Sicht der hausärztlichen Primärversorgung neben einer höheren Wahrscheinlichkeit für Multimorbidität und altersassoziierte Erkrankungen – im Wesentlichen sämtliche degenerativen Erkrankungen von der Demenz über die Arteriosklerose bis hin zu degenerativen Veränderungen des Skelettapparates u. v. m. – auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Alterssyndrome. Diese umfassen einerseits die „Giganten der Geriatrie“: Immobilität, Instabilität, Sturzneigung, Gebrechlichkeit, Inkontinenz, Isolation, Intelligenzabbau und Nachlassen der Sinnesleistungen; andererseits iatrogene Störungen wie die Polypharmazie. Durch das Wesen unseres Faches und durch unseren hermeneutischen, patientenorientierten Ansatz sind wir gerade beim Altern nicht mit rein medizinischen Problemstellungen, sondern mit komplexen, mehrdimensionalen Herausforderungen konfrontiert. Beispielsweise geht es darum, einen bestehenden Betreuungsbedarf aufgrund gesundheitlicher Verschlechterungen einzuschätzen und eine Hilfestellung bei der Organisation der richtigen Versorgungsnetzwerke rund um Betroffene zu geben.

Autorin: Dr.in Maria Wendler

Allgemeinmedizinerin in Graz, Geriatriediplom der ÖÄK, ÖGAM (Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin)

Vom Heilen zum Helfen

Einer der wesentlichen Faktoren der hausärztlichen Primärversorgung ist die Kontinuität und Begleitung unserer Patientinnen und Patienten über Jahre und Jahrzehnte. Hausärztinnen und Hausärzte werden Vertrauensärzte, weil eine Person die Ordination betritt und uns für ihre Betreuung wählt. Das geschieht oft, weil die Ordination in der Nähe oder am Weg liegt, weil Angehörige oder Freunde uns empfehlen oder aufgrund von „banalen“ Fragestellungen, die rasch gelöst sind – etwa akuten Erkrankungen, Impfungen, Bagatelltraumen u. ä. Oder aber wegen gezielter Fragestellungen, oftmals schon im jüngeren Alter. Die Zeitspanne des „Alterns“ beläuft sich auf 25 bis 35 Jahre. Nicht selten sind wir als Hausärztinnen und -ärzte mehr als 20 Jahre in unseren Ordinationen am selben Standort tätig. Begleitung ist somit über Jahre und Jahrzehnte möglich. Die Kenntnis unserer Patienten entsteht kumulativ über die Zeit, durch die Begleitung bei vielen >

„Die hausärztliche Begleitung endet nicht mit der Lösung eines Problems, sondern setzt sich fort – bedarfs und bedürfnisorientiert.“

Problemstellungen, durch Beratungen, Maßnahmen und Therapien, Krisensituationen oder auch erfreuliche Momente. Die Begleitung endet auch nicht mit der Lösung eines Problems, sondern setzt sich fort, bedarfs- und bedürfnisorientiert – in Häufigkeit, Niederschwelligkeit und Wohnortnähe. Bedürfnisorientiertheit bedeutet im Alter bzw. fallindividuell auch den Übergang „vom Heilen zum Helfen“ . Selbst bei unheilbaren Erkrankungen ist es eine unserer Aufgaben, weiterhin zu begleiten und zu helfen. Natürlich arbeiten wir in Netzwerken und mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen zusammen. Aufgrund unseres personenzentrierten Ansatzes und unseres niederschwelligen Zugangs sind wir jedoch prädisponiert dafür, erste Anlaufstelle bei verschiedensten Problemen zu werden, die das Wohlbefinden der Betroffenen einschränken. Und diese Probleme haben immer mehrere Ebenen. Gerade im kassenärztlichen System sollte die Ausübung unserer Kernkompetenzen zu einer Chancengleichheit für alle, also auch alternde Menschen führen. Wir ermöglichen den Zugang zum Gesundheitssystem wo sonst Barrieren bestehen, zum Beispiel durch den Hausbesuch. Die Unterstützung bei der Organisation und Optimierung der Versorgung bedarf nicht selten unseres „Leaderships“ in komplexen organisatorischen und familiären Strukturen.

Dem „Risikofaktor Alter“ gegensteuern

Barbara Starfield († 2011, John Hopkins University, Master of Public Health) war Advokatin für Chancengleichheit und Stärkung der Primärversorgung. Die von ihr beschriebenen Säulen des Erstkontakts, der umfassenden Betreuung, der Kontinuität, der koordinativen Betreuung und der Mehrdimensionalität (Complexity of Care) sind die effektivsten Werkzeuge der Allgemein- und Familienmedizin, um dem „Risikofaktor Alter“ gegenzusteuern. Starfields Säulen der Primärversorgung ermöglichen es, gesundheitliche Probleme, drohende Erkrankungen oder deren Verschlechterung zu erkennen, ein möglichst „gutes“ Altwerden (in puncto Lebensqualität) zu gewährleisten und in unserer Funktion als begleitende Ärztinnen und Ärzte Über-, Fehl- und Unterversorgungen bzw. -therapien zu vermeiden. Speziell bei Multimorbidität – welche mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher wird – spielt die hausärztliche Primärversorgung zudem eine wesentliche Rolle dabei, sicherzustellen, dass weitere Versorgungsebenen verantwortungsvoll und rational in Anspruch genommen werden. Damit wird auch eine höhere Effektivität der nachfolgenden Versorgungsebenen mit den spezialisierten Kollegen erreicht.1 <

* Die Autorin war Vortragende beim JAM(Junge Allgemeinmedizin)-Kongress der

JAMÖ (Junge Allgemeinmedizin Österreich), 15.–17.10.2021, Medizinische Universität Graz, jungeallgemeinmedizin.at

Quelle: 1 Starfield, WONCA Cancun 2010: slideshare.net/MiguelPizzanelli/barbarastarfield-presentation-cancun-wonca-may-05-2710

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