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Polyvalente Wirkung nutzen

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Medikamentöse Therapie bei neuropathischen Schmerzen

© Fotodienst Pressetext Die meisten Patienten mit chronischen Schmerzen leiden an multimodalen Schmerzen. Univ.-Prof. Dr. Wilfried Ilias von der Wiener Privat Klinik plädierte im Rahmen des 28. Kongresses der Österreichischen Schmerzgesellschaft* nicht nur für eine subtile Diagnostik in dieser therapeutisch herausfordernden Entität, sondern auch für Medikamente mit polyvalenter Wirkung.

„Der neuropathische Schmerz ist die Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems. Die Schmerzen können spontan – ohne peripheren Stimulus – oder evoziert – durch Berührung, Druck, Hitze oder Kälte – auftreten“ , erklärt Prof. Ilias. „Die meisten Patienten mit chronischen Schmerzen haben einen sogenannten ‚mixed pain‘ – dabei handelt es sich um multimodale Schmerzen und das ist die therapeutische Herausforderung, der wir uns entsprechend stellen müssen“ , betont er und zitiert einen rezenten Algorithmus von Bates et al.1 „Demzufolge ist zunächst subtile Diagnostik erforderlich, da viele Patienten nicht korrekt abgeklärt sind“ , so der Experte. „Anschließend durchlaufen die Patienten Therapieebenen mit einer Behandlungsdauer von jeweils vier bis sechs Wochen. “ Das sieht Prof. Ilias kritisch: „Kommt man bei Ebene sechs an, dann ist der Patient fast schon ein Jahr in Behandlung und davon wahrscheinlich fünfmal unzureichend. “ Im Detail umfasst die erste Therapieebene trizyklische Antidepressiva (TZA), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Gabapentinoide und topische Therapien. Auf der zweiten Stufe steht ein Opioid (Tramadol) oder eine Kombination von Medikamenten aus der ersten Linie. Auf der dritten Therapiestufe – spätestens hier sollte eine Überweisung zum Spezialisten erfolgen – stehen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Antikonvulsiva, NMDA-Rezeptorantagonisten sowie eine interventionelle Therapie. Auf der vierten Stufe schlägt Bates die Neuromodulation vor und auf der fünften niedrigdosierte Opioide. Prof. Ilias: „Wir wissen, dass Opioide sehr gut wirken, und ich sehe in den Opioiden nichts Problematisches, wenn sie ordentlich verschrieben und kontrolliert werden. “ Auf der sechsten Stufe steht eine „gezielte Pharmakotherapie“ . „Was waren also die Stufen davor?“ , so Prof. Ilias kritisch.

EXPERTE: Univ.-Prof. Dr. Wilfried Ilias

FA für Anästhesiologie und Intensivmedizin Wiener Privat Klinik

Antikonvulsiva/Gabapentinoide

Sowohl Gabapentin als auch Pregabalin greifen nicht am GABA-Rezeptor an, sondern an der Alpha-2-delta-Einheit von Kalziumkanälen an. „Gabapentinoide wirken bei Arthritis, wenn eine sekundäre Hyperalgesie auftritt, aber auch bei einer zentralen Sensibilisierung mit Hyperalgesie sowie bei Vermehrung und Modifikation von WDR-Neuronen, welche z. B. auf Druck reagieren“ , weiß Prof. Ilias. Wobei die Wirksamkeit bei mechanischer Allodynie (sekundär) besser ist als bei Hitze-Allodynie (primär). Bei Arthritis ohne sekundäre Hyperalgesie wirken Gabapentinoide dagegen nicht.

Natriumkanalblocker

Ein traditioneller Vertreter, der bei Trigeminusneuralgie gegeben wird, ist Carbamazepin. Von den I.-v.-Lokalanästhetika >

wird vorzugsweise Lidocain verabreicht. „Mexiletin gilt als orales Lokalanästhetikum; wenn Lidocain-Infusionen wirksam sind, kann auch hier ein guter Therapieerfolg erwartet werden“ , so Prof. Ilias. Die Number Needed to Treat (NNT) liegt bei 10 (vgl. Statine: NNT = 68!). Valproinsäure blockt präsynaptische Natriumkanäle und postsynaptische Kalziumkanäle. Sie verhindert GABAWiederaufnahme und -abbau in GBA-ergen Neuronen und wirkt zudem NMDA-antagonistisch“ , informiert

„Wir wissen, dass Opioide sehr gut wirken, und ich sehe in den Opioiden nichts Problematisches, wenn sie ordentlich verschrieben und kontrolliert werden.“

Prof. Dr. Wilfried Ilias

der Experte. Mit Phenytoin i. v. könne innerhalb von fünf Tagen eine Schmerzerleichterung erzielt werden und bis sieben Tage ließen sich einschießende Schmerzen hemmen, so Prof. Ilias. Phenytoin ist auch topisch als Creme verfügbar. CAVE: Kumulation mit Carbamazepin, Tolperison, Topiramat, Antidepressiva oder Conazolen!

Topische Analgetika

An topischen Analgetika stehen beispielsweise CapsaicinPflaster (mit 4,8 mg/Pflaster oder mit 179 mg/Pflaster) oder Natriumkanalblocker (Lidocainpflaster, Lidocainsalben, Phenytoinsalbe 10% und 5 %) zur Verfügung.

Antidepressiva

TZA wirken auf mehrere Rezeptorklassen (alpha-, NMDA-, H1- und mACH-Rezeptoren). „Daher ist ihr Wirkspektrum breiter, wodurch bei dem nicht nur auf einem Mechanismus beruhenden neuropathischen Schmerz ein besserer Erfolg erzielt werden kann – denn der klassische Schmerzpatient hat mindestens drei Schmerzarten“ , unterstreicht Prof. Ilias. Beispielsweise wirkt Orphenadrin – es wurde primär als Anti-Parkinson-Mittel entwickelt – als mACH-Kanal-Antagonist, H1-Rezeptor-Antagonist, NMDA-Rezeptorantagonist, Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer sowie Natriumkanalblocker. Der einzige Nachteil ist seine Eigenschaft als HERG-Kaliumkanalblocker (CAVE: EKG-Kontrolle). Zu SNRI und SSRI sagt Prof. Ilias: „Häufig kann man anhand der Befindlichkeit der Patienten bereits abschätzen, was ihnen wirklich fehlt.“

Opioide

Reine µ-Antagonisten (Morphin, Fentanyl, Hydromorphon) sind bei neuropathischen Schmerzen weniger gut wirksam.

Werden dagegen von einer Substanz mehrere Rezeptoren gehemmt – etwa bei Oxycodon, Methadon, Tramadol, Tapentadol, Buprenorphin, Cebranopadol oder Levorphanol –, so steigt die Wirksamkeit und damit auch der Behandlungserfolg. Prof. Ilias: „Bei Schmerzzuständen scheint Buprenorphin anderen Opioiden überlegen zu sein.“

NMDA-Rezeptor-Antagonisten

Riluzol wurde primär für die symptomatische Therapie der amyotrophen Lateralsklerose entwickelt und wirkt als NMDA-Rezeptor-Antagonist, Natriumkanal-blocker sowie TREK-1-Kaliumkanalblocker. Und es reguliert P2X7R herab, eine Schlüsselkomponente der inflammatorischen Kaskade. „Bei Knochenschmerzen – z. B. im Zusammenhang mit Osteoporose oder Tumoren – und bei Rückenmarksverletzungen wirkt Riluzol sehr gut und ist daher das Mittel der Wahl in diesen Indikationen“ , betont Prof. Ilias. Amantadin, das erste Virustatikum und derzeit bei M. Parkinson eingesetzt, wirkt gut bei Postmastektomie- und Tumorschmerzen. Memantin (primär für die Alzheimertherapie entwickelt) wird bei Phantomschmerz und zur Vorbeugung eines Post-Surgery-Syndroms eingesetzt. Nicht wirksam ist es laut dem Experten jedoch bei diabetischer Neuropathie. Dextromethophan (in Österreich nur als Hustensaft verfügbar; es wurde ursprünglich gegen Hustenreiz entwickelt) wirkt auch bei diabetischer und chemotherapeutischer Neuropathie. Die Wirksamkeit von Ketamin (S-Ketamin) wird kontrovers diskutiert. „Eine I.-v.-Testung bei Neuropathien wird empfohlen, da im Falle einer Wirksamkeit auf Memantin oder Dextromethorphan umgestiegen werden kann“ , so Prof. Ilias.

Cannabinoide

Durch die Zugabe von Cannabinoiden kann die Schmerzkontrolle gesteigert werden. Cannabinoide wirken als Add-on-Therapie, aber nicht alleine2 .

Botulinumtoxin

Botulinumtoxin wirkt bei zentralem neuropathischem Schmerz3, postherpetischer Neuropathie4, nicht odontogenem Gesichtsschmerz5 und Narbenschmerz6 . Neben der direkten Hemmung der Acetylcholinfreisetzung hemmt Botulinumtoxin direkt und indirekt die Freisetzung von Glutamat, Substanz P und Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP). Abschließend hebt Prof. Ilias hervor: „Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass jene Medikamente, die auf mehrere Schmerzsysteme zielen, insgesamt wesentlich besser wirken als gezielte Schmerzmedikamente. Daher sind Medikamente mit polyvalenter Wirkung vorzuziehen.“

Mag.a Nicole Bachler

* 28. Wissenschaftlicher Hybrid-Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft, 23.–25. September 2021, Villach.

Referenzen: 1 Bates et al., Pain Medicine 2019; 20(Suppl 1):S2-S12. 2 Nurmikko et al., Pain 2007; 133(1-3):210-220. 3 Park & Chung, Toxins (Basel) 2018; 10(6); 224. 4 Jain et al., J Assoc Physicians India 2018; 66(7):48-49. 5 Kim et al., Maxillofac Plast Reconstr Surg 2018; 40(1):21. 6 Schuler A et al., J Drugs Dermatol 2019; 18(9):937-938.

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