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Alles, was zählt

Alles, was zählt Die Schweizer Filmemacherin Nathalie Oestreicher verknüpft in ihrem filmischen Essay „Apfel und Vulkan“ die Geschichte ihrer an Brustkrebs verstorbenen Freundin Fabienne Roth mit ihrer eigenen Biografie. Als Nathalie Oestreicher ein Kind war, starb ihr Vater. Fabienne lässt zwei kleine Mädchen zurück.

Am Schluss richtet sich der Blick in Baumkronen, durch die sanft der Wind rauscht. Ein wogendes Blättermeer vor der himmelblauen Ewigkeit, ein tröstlicher Blick auf die Unendlichkeit im Endlichen. Dann wird alles schwarz.

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„Es stresst mich, dass ich nicht weiß, wie viel Zeit ich noch habe. Einerseits möchte ich mich ausruhen, aber sobald ich mich ausruhe, denke ich: Du hast keine Zeit zu verlieren. Es ist schwierig diese ruhigen Momente zuzulassen mit dem Gefühl: Na los, bereite die Dinge vor!“

Was ist, was bleibt von einem zu kurzen Leben?

Was ist jetzt noch wichtig, was wird bald wichtig sein?

Nathalie Oestreicher sucht in ihrem Film „Apfel und Vulkan“ Antworten auf universelle Fragen, die sich im Angesicht des nahen Todes stellen. Sie kennt Fabienne Roth erst ein paar Monate, da erkrankt die Freundin an Brustkrebs. Gerade noch hatten die beiden einen Film über Mutterschaft geplant, beide Frauen haben zwei kleine Kinder und erleben das Mutter-Sein ganz unterschiedlich. Dann kommt der Krebs, und es

wird klar, dass es zwar einen Film geben, dass aber sein Focus ein ganz anderer sein wird. „Wir haben auf einmal nur noch über essenzielle Dinge gespro chen. Wir haben gemerkt, dass wir von denselben Dingen sprechen, nur ich aus der Perspektive derjenigen, die den Tod des Elternteils erlebt hat, und sie aus der Perspektive derjenigen, die gehen muss.“

Fabienne Roth weiß, dass sie sterben wird, als sie mit ruhiger Heiterkeit in die Kamera spricht. Sie ist gerade 39 Jahre alt geworden, sie hat Brustkrebs, 36 Jahre alt war sie bei der Diagnose. Erst sah es gut aus. „Wir dachten alle, es kann nicht sein, dass sie an dieser Krankheit stirbt.“ Dann ist klar, dass sie es nicht schaffen wird. Alle dachten, sie hätte mehr Zeit, würde das Frühjahr, den Sommer noch erleben. Hat sie aber nicht.

„Das Leben geht nie die Wege, die man geplant hat. Sobald man das begriffen hat, akzeptiert man die schlechten Sachen eher und freut sich über die guten Dinge. Das Leben lässt sich nicht regeln, das wäre zu einfach.“

Neun Jahre ist Nathalie Oestreicher alt, als ihr alkoholkranker Vater an einem Herzinfarkt stirbt, wenige Jahre älter beim Selbstmord ihres depressiven Bruders. So einfach gesagt, so schwer auszusprechen. Die zwei verdrängten Kapitel ihrer

eigenen Biografie bekommen im Sterben der engen Freundin plötzlich ungeheure und ungeplante Relevanz.

Drei Mal Tod: schwere Rahmenbedingungen für einen Film. Doch Nathalie Oestreicher nutzt die Form des filmischen Essays sich nicht in unangenehm intimen Details zu verlieren, sondern um dem Zuschauer Räume zu eröffnen seine eigenen

Regisseurin Nathalie Oestreicher (Mitte) aus der Schweiz beschäftigt sich in ihrem filmischen Essay „Apfel und Vulkan“ mit essenziellen Fragen des Lebens. (Alle Fotos: „Apfel und Vulkan“)

Info ZUR PERSON: NATHALIE OESTREICHER

Nathalie Oestreicher (46) ist eine Filmemacherin mit Schweizer und französischem Pass. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Luzern und arbeitet dort an der „Hochschule Luzern – Design und Kunst“ in der Studienrichtung Video. Dort hat sie selbst studiert, wie auch Fabienne Roth. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen über eine Bekannte; Nathalie Oestreicher hatte eine Mutter gesucht, die wie sie selbst mit ihren Kindern französisch sprach. Das ist im deutschsprachigen Teil der Schweiz keine Selbstverständlichkeit.

Ihr Film „Apfel und Vulkan. Auf der Suche nach dem, was bleibt“ (Kamera: Séverine Barde, Milivoj Ivkovic) erschien im Jahr 2017 und ist heute unter anderem als DVD erhältlich auf

https://cineworx.ch/movie/apfelundvulkan/

Greifbare Erinnerungen: das wollte Fabienne Roth ihren Töchtern hinterlassen.

Erfahrungen auf die erzählte Geschichte zu projizieren. Was auf der Leinwand passiert, darf als Beispiel, als Spiegel gesehen werden; wenn die Kamera Szenen unscharf stellt, eröffnen sich neue Interpretationsräume.

„Du bist meine erwachsen gewordene Tochter. Auch wenn das nicht dieselbe Geschichte ist. Ihr habt euren Vater nicht sterben sehen. Es geht nicht darum einen Vergleich zu ziehen. Auf Dich projiziere ich meine Mädchen als Erwachsene. Und das gefällt mir sehr.“

Nathalie Oestreicher filmt zwei Gespräche mit Fabienne Roth. Sie sind das Herzstück von „Apfel und Vulkan“, um die herum die Filmemacherin ihre Suche nach Antworten auf lange nicht gestellte Fragen zu ihrer eigenen Biografie anordnet. „Ich musste sehen, wie ich ihnen gerecht werden kann.“ Die Lösung hat Fabienne in einem der Gespräche vorgezeichnet. Die beiden Todesfälle, die waren, und der Tod, der kommen wird: Zwischen diesen Endgültigkeiten bewegt sich der Film und sucht nach Chancen zu begreifen und einen neuen Sinn, eine Vision fürs Leben zu entwickeln. Das Leben, das unweigerlich fortschreitet.

Nathalie Oestreicher erlebt und filmt das schmerzlich. Während ihre Freundin dem Tod entgegensieht, startet sie in einen neuen Lebensabschnitt. Sie wird 40 Jahre alt, zieht um, mit Mann und Kindern in ein Haus mit Garten, alles liegt vor ihr, will neu und aufregend gestaltet werden. „Diese Gleichzeitigkeit der Dinge war fast nicht zu ertragen für mich“, sagt die Filmemacherin. Auch Fabienne Roth weiß darum – aus der gegensätzlichen Perspektive. Sie ist traurig, verletzlich, voller Angst. Einmal steht sie mitten im Gespräch auf und geht weg, weil sie weinen muss.

„Ich will mich nicht fertig machen und denken: Wenn sie traurig sind, werde ich nicht da sein. Wenn sie sich verlieben, wenn sie heruntergemacht werden, werde ich nicht da sein. All die Situationen, in denen man sagen möchte: Los, meine Große. Du schaffst das. Von Frau zu Frau. Ich werde nicht da sein, um ihnen meine Werte zu vermitteln. Ich kann nur hoffen, dass andere Menschen dies für mich tun. Die Vorstellung nicht da sein zu können, das ist fast unerträglich.“

Fabienne Roth findet darauf eine eigene Antwort.

„Vieles nehme ich auf mich. Ich lasse vieles durchgehen. Ich versuche mich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen. Und trotzdem auf mich zu hören. Das beeinflusst auch die Beziehung zu meinen Töchtern. Ich bin weniger nervig. Ich versuche, bis zu meinem Tod mein Bestes zu geben. Ich versuche meinem Umfeld mitzuteilen, was ich wünsche.“

Sie wendet sich konsequent dem Leben zu, um sich und ihren Mädchen so viel Leben und Erinnerung wie möglich zu geben.

„Bevor ich sterbe, möchte ich mit meiner Familie ans Meer fahren. Es ist kitschig, aber mir liegt viel daran. Sie sollen sich wohlfühlen. Sie sollen körperliche und sinnliche Erinnerungen mitnehmen. Es geht darum Erinnerungen zu sammeln. Ich habe sehr konkrete, sinnliche Erinnerungen ans Meer. Ich möchte meinen Töchtern dasselbe schenken. Ich habe das geliebt. Der Sand zwischen den Zehen. Morgens baden gehen, wenn die Sonne noch nicht brennt. Das haben meine Eltern mir mitgegeben. Das sind wunderbare Erinnerungen.“

Eine Woche nach dem zweiten Dreh verliert Fabienne Roth ihre Haare und möchte nicht mehr vor der Kamera sprechen. „Für Fabienne war es sehr wichtig, dass sie im Film nicht krank aussieht“, erinnert sich Nathalie Oestreicher. „Nicht, weil sie ihre Erkrankung verheimlichen wollte, sondern weil die Gespräche zu einer Erinnerung verarbeitet werden. Sie wollte ihren Kindern

MADAME TOUT LE MONDE Info

Um ihren Töchtern besser zu erklären, wie sich ihr Körper durch den Krebs und die Therapien verändert, entwarf die Illustratorin Fabienne Roth die Anziehpuppe „Madame Tout le Monde“. Mit der Puppe konnte sie zeigen, wie sie jetzt aussieht und wie sie nach dem Krankenhaus aussehen wird. Eine Stiftung kümmert sich heute darum, die Puppe bei Frauen und Müttern mit Krebs bekannt zu machen. „Sie ist nicht nur geeignet für junge Mütter, sondern auch für Großmütter, Tanten, Freundinnen.“

www.madame-tout-le-monde.ch

Ok, einen Bergsee haben wir nicht. Aber dafür liefern wir auch nach Hause.

Breunig, mehr als ein Getränkefachhandel.

nicht krank in Erinnerung bleiben.“ Weite Teile des Films entstehen, als Fabienne Roth schon tot ist, sie stirbt drei Monate nach dem Dreh der beiden Gespräche. Drei Jahre später ist der Film fertig.

Als Fabienne Roth stirbt, sind ihre Mädchen vier und sieben Jahre alt; die jüngere kann sich aktiv kaum an ihre Mutter erinnern. Den Film haben sie noch nicht gesehen.

„Ich möchte ihnen Wesentliches hinterlassen. Nicht viel, aber Wesentliches. Sie sollen vergessen dürfen. Ich möchte nicht ständig präsent sein. Ich bin ihnen schuldig, dass sie mich vergessen dürfen. Nicht vollständig, aber ich will ihnen nicht meine Präsenz aufzwingen. Sie sollen sie finden, wenn sie das Bedürfnis haben. Aber ich will keine Heilige Mutter sein.“

Nathalie Oestreicher hat ihren Vater und ihren Bruder gefunden, als sie das Bedürfnis hatte, und manches Bild neu gezeichnet. Statt an einem Zuviel an verspeisten Apfelkernen zu sterben, wie es der Vater suggeriert hat, sät sie mit ihren eigenen Kindern Apfelkerne, damit Neues entstehen kann.

Trotzdem: Der Film kostet Nathalie Oestreicher viel Kraft. Kraft, die sie findet, weil sie diesen Film über ihre Freundin unbedingt machen will. „Wann ist ein solches Thema universell, wann ist es eine Nabel schau? Das liegt natürlich im Auge des Betrachters, aber für mich war es sehr wichtig, dass es keine Nabelschau wird“, sagt sie. „Solche Filme drehen eher Männer. Man musste mich schon zwingen so weit zu gehen.“

Ohne den Tod, ohne die schwere Vergangenheit würde es „Apfel und Vulkan“ nicht geben. Und so sehr man sich einen anderen Ausgang wünscht, so wichtig ist doch, dass Tod und Krebs zwar das Drehbuch begonnen haben, aber nicht die Hauptrolle spielen. Es geht um Wichtigeres: um Erin nerungen, um Freundschaft, um Mutter-Sein, darüber, wie heilsam die Konfrontation mit verdrängten Wahrheiten sein kann. Statt Leid, Kummer und Trauer schwingt eine heiter-melancholische, nachdenklich-ruhige Gelassenheit in den Szenen mit.

Fa bienne Roth hat es mit ihrer Familie nicht ans Meer geschafft. Trotzdem:

„Ich will nicht, dass meine Familie bemitleidet wird. Dass es nach meinem Tod unanständig wird glücklich zu sein, zu lachen. Aber genau das ist, was ich möchte. Nach meinem Tod soll es weitergehen. Leute in Trauer und Leid sehen die Schönheit der Dinge nicht mehr. Ich wünsche mir genau das Gegenteil. Vergnügt euch, schon ab morgen! Man muss im Leben eine Vision haben und mit allen Mitteln versuchen sie zu realisieren. Darum muss es gehen. Wohin soll man leben ohne Ziele? Dieses Gefühl hatte ich schon vor meiner Krankheit, es hat sich vervielfacht.

Lebt, lebt intensiv!“

(Zitate von Fabienne Roth, Apfel und Vulkan.)

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Zwei Gespräche hat Filmemacherin Nathalie Oestreicher mit ihrer sterbenskranken Freundin Fabienne Roth gefilmt. Sie sind das Herzstück von „Apfel und Vulkan“, in dem sich die Schweizerin auch entscheidenden Erlebnissen ihrer eigenen Biografie neu nähert.

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