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Alles, was bleibt
Alles, was bleibt Audiobiografin Judith Grümmer lässt lebensverkürzt erkrankte junge Eltern ihr Leben im Hörbuch erzählen
Die Kölner Radiojournalistin nimmt mit lebensverkürzt erkrankten Eltern Familienhörbücher auf: als Zukunftsgeschenk an deren Kinder. (Fotos: Joachim Rieger)
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ielleicht werden Jutta H.s Kinder das Hörbuch ihrer Mutter irgendwann auswendig wissen. Vielleicht werden sie ihre Erzählungen jeden Tag hören wollen, oder nur zu besonderen Anlässen. Jutta H. wird es nicht erfahren, doch die Gewissheit, dass ihr Sohn und ihre Tochter ihre Stimme hören können, wann immer sie möchten, ist ihr ein großer Trost. Seit die 40-Jährige mit der Kölner Audiobiografin Judith Grümmer ein Familienhörbuch mit ihrer Lebensgeschichte aufgenommen hat, ist die Vorstellung ihre Kinder nicht aufwachsen zu sehen immer noch unerträglich. Hirnmetastasen bedeuten keine gute Prognose. Doch Jutta H. weiß auch, dass die beiden nun etwas von ihrer Mama haben, das für immer bleibt. „Ich bin sehr froh, dass ich das Hörbuch machen konnte.“ V
Judith Grümmer hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Stimme von lebensverkürzt erkrankten jungen Eltern wie Jutta H. zu bewahren, ihr Leben im gesprochenen Wort als Zukunftsgeschenk für deren Kinder aufzuheben. Dafür hat die Radiojournalistin – sie hat bis vor einigen Jahren als feste freie Mitarbeiterin für den Deutschlandfunk gearbeitet – im Jahr 2017 das bundesweit einmalige Projekt Familienhörbuch gestartet. Ihr Herzensanliegen: Sponsoren, Stiftungen, Fördertöpfe sollen es jungen, schwerstkranken Eltern ermöglichen, kostenfrei ihre Geschichte im gesprochenen Wort für die weiterlebenden Kinder zu hinterlassen. Die Klinik für Palliativmedizin an der Universitätsklinik Bonn hat die ersten drei Jahre auf Initiative von Judith Grümmer wissenschaftlich begleitet, die RheinEnergieStiftung Familie sie finanziert.
Das Familienhörbuch ist im Stil eines Features gestaltet. Judith Grümmer lässt die Patienten ihre Lebensgeschichte erzählen, recherchiert zusätzliches Material und gestaltet daraus ein Tondokument. Im Mittelpunkt stehen die Erinnerungen und Erlebnisse, eingebettet in gesungene Lieder, Musik und zeitgeschichtliche Tondokumente. Das macht das Familienhörbuch zum individuellen, intimen Zeugnis eines Lebens, das zu früh zu Ende gehen wird. Für die Kinder, die ohne ihre Mutter, ohne ihren Vater weiterle ben werden, soll es ein Anker sein. Jutta H. ist davon überzeugt, dass ihre Kinder ihn irgendwann brauchen werden. „Ich bin mir sicher, dass sie später Fragen stellen werden. Ich wollte deshalb Dinge erzählen, die den Kindern Trost und Hoffnung spenden, und dass das Hörbuch ihnen hilft, sich an mich zu erinnern. Ich spreche sie immer wieder direkt an: „Vielleicht fragst Du Dich irgendwann …“, „vielleicht möchtest Du wissen …“
48 Kapitel ist Jutta H.s Hörbuch lang geworden, mehrere Stunden hat sie gesprochen. „Vieles, was ich erzähle, werden die Kinder erst später verstehen“, sagt die 40-Jährige. „Sie müssen es nicht am Stück anhören, sie können sich immer die Kapitel heraussuchen, die für diesen speziellen Moment wichtig sind. Es sind Geschichten, die nur ich auf diese Weise erzählen kann, obwohl auch mein Mann sehr viel über mich weiß.“
36 Hörbücher hat Judith Grümmer bis März 2020 aufgenommen, weitere Männer und Frauen haben bereits ihre Zusage. Die COVID-19-Pandemie, die Anfang 2020 auch Deutschland erreichte, hätte der Audiobiografin fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch sie weiß, „dass die Patienten keine Zeit haben, das Ende der Corona-Krise abzuwarten“ und hat deshalb ein online-Setting aufgebaut, um die Lebensgeschichten trotzdem aufnehmen zu können. Ungehindert von derartigen Umständen stößt das Projekt bei lebensverkürzt erkrankten Eltern auf großes Interesse, ist es doch eine „Möglichkeit sich mit seiner eigenen Biografie, der Lebens- und Krankheitsgeschichte, außerhalb des medizinischen Umfelds auseinanderzusetzen“, so formuliert es die Uniklinik Bonn in einer Mitteilung. „Sich selbst nicht nur als unheilbar kranken Menschen wahrzunehmen, sondern sich den positiven Seiten des eigenen Lebens zuzuwenden“ könne für manchen Patienten ein großer Gewinn sein.

Judith Grümmer ist es wichtig, und das ist auch der Herzenswunsch „ihrer“ Patienten, insbesondere den weiterlebenden Kindern ein unverwechselbares Stück Identität zu lassen. Keine Stimme gleicht der anderen, jede einzelne ist so indi viduell wie ein Fingerabdruck. Schon im Mutterleib hören Babies die Stimme ihrer Mutter, Neugeborene erkennen sie am Klang. Die Stimme der Mutter, des Vaters ist so vertraut wie deren Geruch, ihre Gesten. Ein ele mentares Stück Geborgenheit. Stirbt ein Mensch, verstummt auch seine Stimme, und oft hat man sie schnell nicht mehr im Ohr. Bilder und Szenen bleiben im Gedächtnis, die Stimme eher nicht. Judith Grümmer hält sie lebendig. Bis zum Start ihres Projekts hatte die Medizinjournalistin regelmäßig über Palliativmedizin berichtet, auch Biografiearbeit mit Seni oren gemacht. Für diese ist diese Form der Erinnerungsarbeit
Mehr Informationen unter www.familienhoerbuch.de
Info
Gofundme-Kampagnen für das Familienhörbuch unter www.gofundme.com Stichwortsuche unter Gofundme „Familienhörbuch“ (15 Prozent pro Spende gehen für die Betriebskosten von Gufundme ab)
Direktes Spendenkonto: Volksbank Köln Bonn eG Stichwort Familienhörbuch gGmbH DE52 3806 0186 4906 5620 10 BIC: GENODED1BRS Steuernummer 214/5855/2466
schon lange etabliert. Es erschien Judith Grümmer jedoch noch sinnvoller, jüngeren lebensverkürzt erkrankten Eltern die Möglichkeit zu geben, ihr Leben in ein Familienhörbuch zu fassen.
In ihrem zweiten Zuhause in der Eifel hat sie das Equipment für die Interviews stehen, je nach Situation fährt sie aber auch zu Patienten auf Palliativstationen, ins Krankenhaus oder nach Hause. Jutta H. war fit genug, von Bottrop aus für ihre Aufnahmen in die Eifel zu kommen. Drei Tage lang hätten sie „konzentriert gearbeitet“, erinnert sich die 40-Jährige. Vorbereitet habe sie sich nicht, doch im Sprechen ist Jutta H. Profi. Als Richterin hat sie jahrelang diktiert. Die 40-Jährige ist es gewohnt strukturiert zu denken, das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Judith Grümmer stellt als erfahrene Interviewerin offene Fragen, gibt Stichworte. Die Erinnerungsreise lässt sie bei den Großeltern beginnen, den Eltern, frühesten Kindheitserinnerungen und bis in die Gegenwart gehen. Auch die Erkrankung ist ein Thema. „Ich erzähle zum Beispiel davon, wie sich meine Sichtweise auf das Leben seitdem verändert hat“, sagt Jutta H..

Im Oktober 2017 bekam sie die Diagnose Brustkrebs, fünf Tage vor dem ersten Geburtstag ihrer Tochter. Die Therapie schien erfolgreich, doch ein Jahr später wurden Metastasen in der Leber, dann im Gehirn festgestellt. Sie bekommt Chemotherapie, doch „niemand weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt“. Um ihren Kindern – ihr Junge ist nun fünf, ihr Mädchen drei Jahre alt – mehr als Fotos zu lassen, hat sie Judith Grümmer um das

Judith Grümmer interviewt die Patienten mit professionellem Equipment.
Hörbuch gebeten. „Ich habe alles eingesprochen, was für die Kinder vielleicht einmal wichtig sein könnte. Ich möchte ihnen selbst vermitteln, wer ich bin, wo ich stehe, was meine Werte sind, was mir wichtig war im Leben, für die Kinder und auch als Mutter.“
Jutta H. ist eine der letzten Patienten, deren Familienhörbuch noch von der RheinEnergieStiftung Familie finanziert worden ist. Die nächsten Monate sind über zwei GoFundMe-Kampagnen abgedeckt, die die Angehörigen von an Krebs erkrankten Familienmitgliedern gestartet haben und die zusammen Stand Anfang April fast 70.000 Euro an Spenden von Privatpersonen erbracht haben. Eine langfristige, sichere Finanzierung wäre Judith Grümmer gleichwohl wichtig – und dass die Hörbücher für die Familien kostenfrei bleiben. „Ich möchte das Projekt nicht als gutes Geschäftsmodell aufziehen, bei dem nur jene ihren Kindern ein Hörbuch hinterlassen können, die die entsprechenden Mittel oder einkommensstarke Freundeskreise haben.“
Um die erforderlichen Strukturen für eine langfristige Arbeit mit den Familien aufzubauen und weitere Audiobiografen mit ins Boot zu holen, hat Judith Grümmer das studienbegleitete Pro jekt im Herbst 2019 in eine gemeinnützige GmbH umgewandelt. Ergebnisse der Studie, die Dr. Michaela Hesse von der Uniklinik Bonn geleitet hat, stehen noch aus. Die Corona-Krise und die damit verbundene Mehrarbeit im Krankenhaus verzögere die Auswertung der Daten, sagt die Medizinerin. Die Studie sollte diese Form von Biografiearbeit für Palliativpatienten fundiert begleiten, erforschen und potenziellen Geldgebern wissenschaftliche Belege für eine mögliche Wirkung an die Hand geben.
Die neuen Audiobiografen sind zum Teil bereits im Einsatz. Denn der Bedarf für weitere Familienhörbücher ist da. Mehrmals im Monat erreichen die Audiobiografin Bitten von lebensverkürzt erkrankten Eltern wie Jutta H., die ihr Fami lienhörbuch aufnehmen wollen. Oft haben die Patienten kaum mehr Zeit, manche sind verstorben, bevor ein Treffen mit den Audiobiografen zustande kommen konnte. Nicht selten warten sie lange, bis sie sich an die Audiobiografin wenden. „Ich hatte von der Möglichkeit des Fami lienhörbuchs schon gehört, aber immer gedacht, ich sei noch nicht so weit, weil ich immer recht optimistisch bin. Aber als die Hirnmetastasen festgestellt wurden, habe ich Angst bekommen, dass mir die Zeit davonläuft“, sagt Jutta H.. „Man be kommt in meinem Fall keine Prognose. Ich weiß also nicht, wie lange es noch gut geht.“ Kurzfristig hatte Judith Grümmer Kapazitäten für sie frei. Auch deshalb ist der Audiobiografin eine sichere langfristige Finanzierung so wichtig. Die 61 -Jäh
rige erzählt von einer jungen Mutter, die mit letzter Kraft schon im Sterbeprozess eine Stunde für ihre Tochter, ihren Mann und ihre Eltern aufgenommen hat, die im Flugzeug auf dem Weg zu ihrer sterbenden Tochter saßen. „Diese Frau hat noch einmal in ihrer Muttersprache persisch gespro chen. Für die Tochter wird das zu hören später einmal unschätzbar wichtig sein“, ist sich Judith Grümmer sicher.
Sie hofft, eine neue Stiftung zu finden, die ihr Projekt langfristig auf sichere Beine stellt, oder dass die Krankenkassen das Familienhörbuch als Präventionsmaßnahme für die Kinder mitfinanzieren. Gut 3.000 Euro kostet die Aufnahme eines Familienhörbuchs mindestens, 70 Stunden Arbeit und mehr stecken darin, je nach Länge des Hörbuchs. Das längste war 15 Stunden lang – 70 Arbeits stunden reichen da bei weitem nicht aus. „Bei 5.000 Euro Kosten pro Hörbuch setze ich die Obergrenze, das sind 100 Arbeitsstunden plus Unkosten“, sagt Judith Grümmer. In diesen Kosten inkludiert sind die Tage der Aufnahme des Hörbuchs – drei in der Regel –, die Recherche nach zusätzlichem Material – Lieder oder historische Radioaufnahmen z um Beispiel – und die Stunden im Schnitt. Die zusätzliche Arbeit ist in diesen Stunden nicht enthalten: Pressegespräche und Drehtermine, um das große mediale Interesse zu bedienen, Sponsorensuche, Homepagepflege, Terminvereinbarungen, Buchhaltung, Supervision, Fortbildungen.

➔ Die 15 Audiobiografen zum Beispiel hat Judith Grümmer in Zusammenarbeit mit der Akademie für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Seliger Gehard Bonn/Rhein-Sieg, an der sie selbst eine Fortbildung in Palliativpflege gemacht hat, ausgebildet. Das sei Voraussetzung gewesen, denn ein solches Hörbuch lässt sich nicht angehen wie ein beliebiges journalistisches Thema. „Man muss die Geschichten, die Situationen aushalten können,“ sagt Judith Grümmer. Das müsse man ebenso lernen wie den richtigen Ton zu finden, behutsam zu fragen, mit psychischen und physischen
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Schöne Erlebnisse bleiben mit Hilfe von Fotos im Gedächtnis, die Stimme nicht. Deshalb nimmt Judith Grümmer mit jungen lebensverkürzt erkrankten Eltern Familienhörbücher auf. Sie sollen selbst von ihrem Leben erzählen können.
Krisen während der Gespräche umgehen zu können. „Es ist ganz wichtig, mit dem Gespräch keinen Schaden beim Patienten anzurichten“, sagt sie. „Und es ist wichtig, keinen Schaden bei denjenigen anzurichten, die das Hörbuch später einmal anhören werden.“ Deshalb sei es wichtig, dass die Mütter und Väter offen erzählten, dass sie aber gute Gedanken hinterließen, keine Bürden, keine Wünsche für eine Zukunft, die die Kinder vielleicht gar nicht möchten. „Einmal hat sie mich unterbrochen, weil meine Kinder mich mit den Worten, die ich gefunden hatte, vielleicht missverstehen könnten und mich ermuntert, eine andere Formulierung zu finden“, erinnert sich Jutta H., „das fand ich sehr wichtig.“

Judith Grümmer und ihre Audiobiografen können mit Tränen, mit Schweigen, mit Wut, mit Trauer umgehen, mit körperlichen Reaktionen auf Erinnerungs- und Trauerprozesse, die unweigerlich kommen, wenn Menschen tief eintauchen in ihr eigenes Leben. Judith Grümmer weiß, wann eine Pause wichtig ist, und dass Manches ungesagt bleiben darf. Manchmal nimmt sie sich über die drei Tage hinaus ein zweites Mal Zeit, wenn die Geschichte doch nicht zu Ende erzählt ist, wenn ein einschneidendes Erlebnis das bisher Gesagte neu justiert – wie bei der krebskranken Mutter, deren Partner sie kurz nach der Hochzeit verlassen hatte. Sie weiß aber auch, dass irgendwann ein Punkt gesetzt werden muss. Manche Patienten freuen sich, dass sie es noch geschafft haben das Hörbuch aufzunehmen. „Ich habe mich mit Frau Grümmer sehr intensiv mit meinem Leben beschäftigt. Das hat mich unheimlich beglückt“, sagt Jutta H. Andere haben Angst, dass sie nun endgültig sterben werden und können schwer loslassen.
An diesem Punkt muss Judith Grümmer auf ihrer Funktion, in der sie sich selbst in diesem Prozess sieht, bestehen. Sie sei wie eine Reisebegleitung, die ein Stück des Wegs mitgehe, der man alles erzählen könne. „Aber dann bin ich auch wieder weg.“ Die Biografien dürfen ihr nicht zu nahe gehen. Sie ist empathisch, aber sie leidet nicht; um ihre professionelle Distanz zu bewahren, dürfen die Patienten nicht bei ihr übernachten, ihr nicht zu viele Fragen stellen, sie bleibt konse
quent beim „Sie“ und sie hält anschließend nur Kontakt, soweit es für das Familienhörbuch relevant ist. Judith Grümmer steuert ein Familienhörbuch zur Lebensgeschichte bei, aber sie ist keine Therapeutin, erteilt auch Angehörigen keine weiteren Auskünfte. Sie vergisst die Geschichten ihrer Patienten nicht, aber sie merkt sich nicht alle Details.
„Ich stecke viel Zeit in dieses Projekt“, sagt Judith Grümmer. Es ist ihre Art sich dem Leben zuzuwenden, auch und nicht zuletzt, seitdem ihr Mann vor zwei Jahren an einem metas tasierten Zwölffingerdarmkarzinom gestorben ist. Seine Stimme hat sie nicht aufgenommen, er sei ein wortkarger Westfale gewesen und habe das nicht gewollt. Nicht für jeden Patienten ist jede Intervention die pas sende; für manche aber ist das Familienhörbuch ein Segen. „Schöner sterben mit Judith“ habe ihr Mann gewitzelt, erinnert sich Judith Grümmer, und im makabren Witz steckt ein wahrer Kern. Es ist grausam jung sterben und kleine Kinder zurücklassen zu müssen. Doch es ist tröstlich, etwas so Unnachahmliches hinterlassen zu dürfen wie die eigene Stimme.
Jutta H. ist froh, dass sie bei der Studie mitmachen konnte. „Ich hatte ein schönes Leben“, sagt die 40-Jährige. Dass ihre Zeit begrenzt ist, hat sie gelernt zu akzeptieren. „Es geht mir nicht um mich. Es geht mir um meine Kinder.“ Die Zeit, die ihr noch bleibt, will sie positiv gestalten. „Es führte kein Weg daran vorbei, meine Situation zu akzeptie ren.“ Mit der aktuellen Chemotherapie hofft sie auf viel Zeit, bleibende Erinnerungen an schöne Momente erschaffen. Sie will das Leben mit ihrer Familie so schön wie möglich machen. Begleitend zum Familienhörbuch plant sie ein Fotoalbum als Begleitbuch. Sie hat noch etwas vor.

➔ Es sind Geschichten wie diese, die Judith Grümmer an ihr Projekt glauben lassen. „Wie lange willst Du das noch weitermachen?“, hat unlängst eine Freundin gefragt. Die Audiobiografin überlegte nicht. „Bis ich pleite bin.“ n
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Anika B.: „Ich bin froh, dass ich das Hörbuch habe“
ls ich mit meinem dritten Kind schwanger wurde, hatte ich schon seit Monaten schlimme Schmerzen im Unterleib. Die Ärzte schoben die Beschwerden auf einen Bandscheibenvorfall, die schlechten Blutwerte dann auf die Schwangerschaft. Wer denkt schon bei einer 33-Jährigen an Krebs. Doch in der 17. Schwangerschaftswoche entdeckte man einen Tumor im Becken. In der 22. Schwangerschaftswoche wurde er entfernt, allerdings nicht vollständig. Mein Sohn wurde neun Wochen vor dem errechneten Geburtstermin geholt. Es stellt sich heraus, dass der Tumor so selten ist, dass man ihn nicht genau diagnostizieren kann. Die „Arbeitsdiagnose“ ist ein malignes Myoepitheliom, ein Karzinom, das eigentlich im KopfHals-Bereich auftritt, aber bei mir wohl eben im Becken. Da man den Tumor nicht genau klassifizieren konnte, sagte mir A
(Foto: Karl-Heinz Letz, Pixabay)
der behandelnde Professor, er könne die Chemotherapie nur anhand seines Wissens und seiner Erfahrung auswählen. Ich habe zunächst eine Hochdosis-Chemotherapie bekommen, die den Tumor geschrumpft hat. Das war aber nicht so ungewöhnlich, weil alles, was schnell wächst, auch schnell kleingekriegt werden kann. Danach hat man mich operiert, ich war zwei Monate tumorfrei, und dann war der Tumor schon wieder da. Noch während der Bestrahlung hatte ich ein Rezidiv, dann die nächste Chemotherapie. Ich hatte vier schwere Operationen. Seit September 2019 bekomme ich eine Chemotherapie in Tablettenform, die mindestens zwei Jahre dauern soll. Wenn sie funktioniert. Diese Form der Chemo ist bei weitem nicht so belastend. Damit geht es mir ganz gut, und im Moment wächst nichts Neues.
Im Frühjahr 2019 hatte ich eine schwere Operation, bei der vier Tumore entfernt wurden. Ich habe lange auf der Intensivstation gelegen, und dachte zum ersten Mal, ich schaffe das nicht, ich komme hier nicht mehr raus. Also habe ich eine Bucket List geschrieben mit Dingen, die ich noch machen möchte in meinem Leben. Auf dieser Liste stand unter anderem, für meine Kinder und meinen Mann eine CD aufzunehmen. Als ich wieder zu Hause war, habe ich einen Fernsehbeitrag gesehen, in dem das Projekt Familienhörbuch von Judith Grümmer vorgestellt wurde. Ich habe sie kontaktiert, und dann ging es ganz zügig. Ich sehe es als riesiges Glück, dass ich einen Platz bekommen habe.
Im August 2019 war ich bei ihr in der Eifel. Ich habe mich an diesen drei Tagen total wohlgefühlt. Es ist sehr heimelig dort, warm und freundlich, sehr offen. So erzählt man gerne, es ist wirklich toll. Mein Familienhörbuch ist zehn Stunden lang geworden, angefangen bei meinen Großeltern, meinen Eltern, Geschwistern, frühen Kindheitserinnerungen und so fort. Es ist eine komplette Audiobiografie meines Lebens. Frau Grümmer begleitet diesen Prozess sehr gut, stellt Fragen, hakt nach.
Ich bin so froh, dass ich dieses Projekt zu Ende gebracht habe. Es gibt mir eine Art von Genugtuung und Erleichterung. Viele Menschen wollen alles perfekt haben. Mir sind im Nachhinein auch noch Dinge eingefallen, die ich hätte erzählen können, aber man muss aufpassen, dass man nicht übereifrig wird. Ich bin sehr zufrieden und glücklich, dass ich das Hörbuch jetzt hier habe.
Darüber hinaus mache ich viel mehr Fotos und Videos als früher, halte Momente fest. Das gewinnt für mich immer mehr an Bedeutung. Wir als Familie versuchen, die Zeit, die wir haben, mit schönen Erinnerungen zu füllen. Meine beiden Kleinen sind vier und eineinhalb, die werden sich wohl nur schlecht oder gar nicht an mich erinnern können. Ich weiß selbst ja auch nicht mehr viel von der Zeit, als ich im Kindergarten war.
Mein Familienhörbuch habe ich bisher nur in Sequenzen angehört. Einerseits möchte ich nicht, dass meine Kinder es jetzt schon komplett hören. Bei meinem Mann habe ich nichts dagegen, aber auch er ist noch nicht dazu gekommen. In einem Alltag mit drei Kindern ist es nicht so leicht, Zeit zu finden, ein solches Hörbuch zu genießen. Ich persönlich muss es aber auch nicht hören, denn es ist ja für meine Familie gedacht und nicht für mich. Ich bin froh, dass ich es in der Schublade lassen kann, weil das bedeutet, dass ich noch hier bin. Und im Moment hoffen wir alle, dass ich noch lange da bin. n ➔
Anika B. vor ihrer Erkrankung. „Ich hatte ein ganz normales Leben“, sagt sie im Gespräch mit Hummer statt Krebs.

Anika B. hat einen aggressiven seltenen Tumor im Unterleib. Die dreifache Mutter wurde mehrfach operiert und bekommt Chemotherapie. Für ihre Kinder hat sie ein Familienhörbuch aufgenommen. (Fotos: privat)
