Familie Rockt! #08

Page 49

49

Die eigene Mutter entmündigen? Den Vater auf der Psychiatrie besuchen? Viele Tabus gibt es in der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Doch es gibt Dinge, über die man immer noch nicht gerne spricht: Psychische Erkrankungen. Belastend sind psychiatrische Diagnosen schon bei Eltern für minderjährige Kinder. Doch auch erwachsene Kinder können noch davon überrascht werden, dass sich die Eltern plötzlich verändern.

Viele ältere Menschen nehmen ihre Medikamente falsch ein, vergessen, dass sie sie noch nicht oder bereits genommen haben und sind so nicht optimal behandelt.

Die Krankheit kommt, wenn man frei dafür ist

Theresia H. war 25 Jahre lang Eigentümerin eines kleinen Feinkostgeschäftes und daher beruflich immer sehr eingespannt. Als sie mit Anfang 60 in Pension ging, war sie voller Hoffnung, dass sie nun mehr Zeit für ihre Tochter Helene und ihre Enkelkinder haben Was tun, wenn Papa anfängt, das hart ersparte Geld beim Fenster würde und sich wieder ihren Hobbies widmen könnte. Die erste rauszuwerfen, oder Mama glaubt, der Nachbar wolle sie Zeit nach der Pensionierung genoss Frau H. ihre Freiheit. Sie entumbringen? Dass ältere Menschen wunderlich werden, kommt deckte neue Interessen und nahm Kontakte zu alten FreundInnen vor. Aber wie reagieren, wenn Oma oder Opa sich plötzlich so und Bekannte wieder auf. Sie engagierte sich ehrenamtlich und seltsam benehmen, dass es fraglich ist, ob man sie mit den unterstützte hilfsbedürftige Angehörige. Helene beobachtete die Enkelkindern alleine lassen kann? Aktivitäten ihrer Mutter mit Begeisterung und freute sich, dass sie sich nun endlich entfalten konnte. Schwieriger Lebensabend Doch nach etwa zwei Jahren bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Ihre Mutter monologisierte plötzlich, redete ohne Punkt Selten erkranken Menschen im dritten Lebensdrittel erstmals an und Komma und nahm ihr Gegenüber kaum noch wahr. Sie begann, Depressionen, Schizophrenie oder bipolarer Störung (dem sog. Verwandte und FreundInnen vor den Kopf zu stoßen und zu beManisch-Depressiv-Sein). Meist gibt es bereits in jungen Jahren schimpfen. Sie stürzte sich in so viele Aktivitäten, dass sie sie kaum erste Anzeichen, die auch wieder verschwinden können. Oft werden noch alle unter einen Hut bekam. die Krankheiten nicht als solche erkannt, und einschneidende Sie begann Anschaffungen zu machen, die ihr Budget sprengten, Lebensereignisse dieser Phase, wie die Pensionierung oder der Aus- ging Verpflichtungen ein, die sie nur unter größter Anstrengung zug der eigenen Kinder, können Symptome wieder neu auslösen. einhalten konnte. Theresia selbst hatte keinerlei Wahrnehmung In der medizinischen Fachliteratur werden Demenz und Depres- dafür, dass sie sich überforderte. Helene versuchte mit ihr zu sionen als häufigste psychische Störungen im Alter genannt. Inter- sprechen, aber es kamen nur Ablehnung und weitere Beschimpnationalen Daten zufolge leidet etwa jeder fünfte Mensch über 75 fungen zurück. Sie bekam Bedenken, ihre Kinder während ihrer an depressiven Erkrankungen unterschiedlichen Schweregrades. Berufstätigkeit zweimal die Woche der Oma anzuvertrauen. Die Etwa jeder vierte über 80-Jährige hat eine demenzielle Erkrankung. Kinder wurden bei allen Aktivitäten mitgeschleppt, ohne groß Depressive alte Menschen somatisieren ihre Symptome, das heißt gefragt zu werden, und Helene sorgte sich um ihre Sicherheit im ihr körperlicher Gesundheitszustand verschlechtert sich durch die Straßenverkehr. Die Ängste, die sie hatte, waren diffus, sie konnte Depression noch weiter. keinen konkreten Anlass nennen. Doch ihre Mutter hatte sich so Schwierig ist häufig die Diagnose, denn ältere Menschen neigen sehr verändert, dass ihr Bauchgefühl immer schlechter wurde. dazu, depressive Symptome oder Angststörungen zu bagatellisieren An diesem Punkt nahm Helene erstmals Kontakt zur Wiener oder sie beim Arzt erst gar nicht anzusprechen. Oft steht der Dia- Beratungsstelle HPE „Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter“ gnose einer psychischen Erkrankung auch die Befürchtung entgegen, auf. Sie befürchtete, dass ihre Mutter manisch-depressiv sein als verrückt stigmatisiert zu werden. Psychiatrische Stationen in könnte, denn depressive Phasen hatte es im Leben ihrer Mutter Krankenhäusern haben immer noch einen schlechten Ruf, über immer wieder gegeben. eine Behandlung dort erzählt man im Bekanntenkreis nicht so frei von der Leber weg wie über eine Hüftoperation. Zwischen Hilfe und Abgrenzung Psychische Erkrankungen im Alter sind eher weiblich. Frauen schlittern öfter in eine versteckte Medikamentensucht. Als Therapie Der Verein HPE bietet österreichweit kostenlos und unbürokratisch werden auch älteren Menschen Psychopharmaka und Psychothera- Information, Beratung und Unterstützung für Angehörige und pie empfohlen. Doch Therapieplätze sind generell rar und teuer. FreundInnen von psychisch erkrankten Menschen (siehe Interview), Gerade für ältere Menschen ist die Hemmschwelle, sich in einer in Form von Peer-Beratung, Seminaren, Beratungsgesprächen mit Therapie mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, besonders groß. ExpertInnen und Selbsthilfegruppen. In den letzten Jahren hat sich Auch körperliche Erkrankungen wie Schilddrüsenstörungen, Krebs die Anzahl von Kontakten mit Menschen im frühen Erwachsenenoder Schlaganfälle und die Einnahme von Medikamenten können alter, die Unterstützung im Umgang mit ihren psychisch erkrankten Veränderungen im Verhalten und Erleben der Betroffenen auslösen Eltern suchen, erhöht, mittlerweile gibt es ein eigenes Beratungsoder begünstigen. angebot für diese Gruppe. Bei Menschen, die sehr viele verschiedene Medikamente nehmen Viele Kinder von psychisch kranken, älteren Eltern machen diesen müssen, kann es zu Wechselwirkungen mit schweren Folgen komSchritt erst sehr spät. Die große Schwierigkeit für die Angehörigen men. Haus- und FachärztInnen stehen hier vor der großen Heraus- liegt darin, helfen und unterstützen zu wollen aber gleichzeitig forderung, genau abzuwägen, welche Medikamente PatientInnen schnell an Grenzen zu stoßen. Die Eltern, die so lang in der Position mit psychiatrischen Diagnosen und körperlichen Erkrankungen der Gebenden waren, können das Hilfsangebot nicht annehmen. brauchen und vertragen. Und auch bei älteren PatientInnen gibt es Sie glauben schlicht nicht, dass sie Hilfe brauchen, nehmen sich die bekannten Probleme bei der Compliance, der Bereitschaft, selbst nicht als krank wahr. Oder die erwachsenen Kinder sind übereine Behandlung auch wirklich durchzuführen, ihre Medikamente fordert mit der Situation, müssen ihre ganze Kraft und Energie für weiter zu nehmen und regelmäßig zum Arzt zu gehen. Beruf und die eigenen Kinder aufwenden.


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.