Interview Georg Kaser / Langfassung

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KLIMA KONTROLL VERLUST

Die Lage ist ernst. Wie ernst sie tatsächlich ist, hat uns der international renommierte KLIMAFORSCHER GEORG KASER in einem ausführlichen Gespräch verdeutlicht. Weiteres Zögern würde die Welt zu einem für den Menschen sehr viel unwirtlicheren Ort machen. Derzeit gibt es mehrere Klima-Subsysteme, die bedrohlich wackeln würden. Kaser plädiert dafür, die Menschen in die Anstrengungen, das Klima zu retten, einzubeziehen, und tritt für einen pragmatischen Realismus ein. Optimistisch ist er nicht.

INTERVIEW:

ECO.NOVA: Wie ernst ist die Lage rund um das Weltklima tatsächlich?

GEORG KASER: Die Situation ist sehr, sehr ernst. Trotz Warnungen über mehr als 40 Jahre hindurch, was alles auf uns zukommen wird, sollten wir so weitermachen, ist noch viel zu wenig passiert. Vieles von dem, was prognostiziert wurde, ist entweder bereits eingetreten oder im Begriff dazu. Mit allen Aspekten, die sich weiter verstärken und problematisch werden.

Warum scheint man – damit sind vor allem die politischen Eliten gemeint – den Ernst der Lage und die daraus resultierende Dringlichkeit noch immer nicht realisiert zu haben? Nur weil man die Lage ignoriert, heißt das nicht, dass die Probleme verschwinden werden. Dazu gibt es sehr viele gesellschafts- und individualpsychologische Studien, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Auf diesem Gebiet bin ich kein Experte, aber es scheint schwerzufallen, etwas als unmittelbare Bedrohung wahrzunehmen, das nicht sichtbar und greifbar ist. Schon recht bald wird es aber keine Möglichkeit mehr geben, wirksam gegenzusteuern. Wir werden die Kontrolle verlieren, wenn wir nicht sehr schnell den Hebel herumreißen und versuchen, die zunehmende Erhitzung, die zunehmende Energiezufuhr ins System zu stabilisieren.

Bekommen wir demzufolge derzeit erst die Auswirkungen des Energieeintrags bis um die Jahrtausendwende herum zu spüren?

Ja, das stimmt, wenn man die globale Durchschnittstemperatur heranzieht. Sieht man sich dagegen den Meeresspiegelanstieg an, der von der Reaktionszeit verschiedener Eiskörper abhängt, dann dauert es Jahrhunderte, bis sich der Meeresspiegel auf einen dann höheren Stand einpendelt. Man kann sich das gut anhand eines Eiswürfels vorstellen, den man aus dem Kühlschrank nimmt. Der schmilzt nicht im selben Moment, sondern das dauert auch, nachdem das Eis bereits auf 0° C erwärmt ist. Bei Gletschern dauert das dann Jahrzehnte bis Jahrhunderte, bei den Eisschilden viele Jahrhunderte.

Die Meere sind seit einiger Zeit ungewöhnlich warm. Bereitet Ihnen das Sorgen?

In den letzten 50 Jahren haben sich durch zunehmende Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre rund 380 × 1021 Joule an Energie im Klimasystem angesammelt. 90 Prozent dieser Energie geht in die Meere, zuerst in die oberflächennahen Schichten, infolge dann auch in tiefere Schichten. Das Wasser erwärmt sich dadurch und dehnt sich aus. Besonders der Nordatlantik und das Mittelmeer sind derzeit an der Oberfläche anormal warm. Seit wenigen Jahren führt das

Wir werden die Kontrolle verlieren, wenn wir nicht sehr schnell den Hebel herumreißen.

Es geht also um Stabilisierung, Schadensbegrenzung. Umkehren lässt sich die Erderwärmung nicht mehr? Man könnte diesen Aufheizungsprozess stoppen. Dann würde es noch eine Zeit lang dauern, bis wieder ein Gleichgewicht von eintretender Sonneneinstrahlung bzw. -energie und von der Erde ausgestrahlter Energie eintritt. Wir sind sehr stark aus dem Gleichgewicht geraten, geben aber der Erde nicht die zwei Jahrzehnte Zeit, um wieder in ein Gleichgewicht zurückzufinden und keine weiteren Schäden zu verursachen, die nicht mehr regulierbar wären.

Mit welcher zeitlichen Verzögerung reagiert das Erdklima auf den menschengemachten Energieeintrag?

Da gibt es unterschiedliche Variablen und Subsysteme, solche, die schneller reagieren, und solche, die das mit Verzögerung tun. Die Reaktionszeit kann von Jahren über Jahrzehnte über Jahrhunderte gehen. Was den Anstieg der Temperatur als Ausdruck des energetischen Zustands betrifft, sind es ungefähr 20 Jahre, bis das System sich wieder in ein dann höheres energetisches Gleichgewicht einpendelt, wenn man damit aufhört, es weiter aufzuheizen.

Einströmen von wärmerem Tiefenwasser aus dem Pazifik unter das Schelfeis der Westantarktis zu dessen Ausdünnen.

Kipppunkte gelten eher noch als theoretische Annahmen, oder sehen Sie bereits ein praktisches Eintreten? Der Kipppunkt an und für sich ist ein populärwissenschaftlicher Pauschalbegriff, unter dem unterschiedliche Arten von „Kippvorgängen“ subsumiert werden. Es gibt Systeme, bei denen minimale Anstöße sehr große Reaktionen erzeugen können, andere Systeme reagieren mit großer, aber unumkehrbarer Verzögerung. Manche „kippen“ irreversibel, andere können sich erst nach Jahrhunderten wieder erholen. Bringt man beispielsweise den Grönländischen Eisschild zum Kippen, kann er sich auch bei einer Rückkehr zu einem vorindustriellen Klima nicht mehr erholen. Es bedürfte einer neuen Eiszeit, um das Eis wieder aufzubauen.

Als potenzielle Kipppunkte wurden neben dem Grönländischen Eisschild unter anderem auch das Destabilisieren des Westantarktischen Eisschildes, das Abschmelzen des sommerlichen arktischen Meereises,

das Erlahmen der atlantischen thermohalinen Zirkulation, die Veränderung der El Niño-Southern Oscillation (ENSO), der Zusammenbruch des indischen Sommermonsuns, die Entwaldung des tropischen Regenwaldes oder der Rückgang borealer Wälder identifiziert. Etwas zynisch gefragt, haben Sie einen Tipp, was den ersten eintretenden Tipping Point betrifft?

Es sind mehrere Subsysteme, die derzeit bedrohlich wackeln und Alarmsignale aussenden. Ganz eindeutig gilt das für die Westantarktis, obwohl im letzten Klimabericht noch angenommen wurde, dass von dort vorerst keine große Gefahr ausgehen würde. In der Zwischenzeit gibt es ganz massive Anzeichen dafür, dass die Schelfeisbarrieren, die das Eis im Eisschild gefangen halten, zu zerbrechen beginnen und nicht länger auf felsigen Ankerpunkten aufliegen. Das Einströmen wärmeren Meerwassers greift dieses Schelfeis an. Dieses Geschehen scheint immer schneller in Gang zu kommen. Heute muss man wohl davon ausgehen, dass der Meeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts um einen Meter steigen wird.

Das ist ein absolutes Horrorszenario für küstennahe und bevölkerungsreiche Weltgegenden. Man ging noch vor kurzem davon aus, dass selbst bei Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels der Meeresspiegel bis 2100 um 50 Zentimeter steigen würde. Schon das ist eine gigantische Herausforderung für die Megacities. Nach den jüngsten Vorgängen in der Westantarktis müssen wir davon ausgehen, dass dieser Anstieg im Durchschnitt einen Meter ausmachen würde und in den Tropen sogar noch einmal 30 Prozent mehr. Das versalzt auch viele Kilometer ins Landinnere hinein die sehr fruchtbaren und agrarisch genutzten Flussdeltas in den Küstenregionen.

Hitze und Dürre tragen dazu bei, dass ein zunehmender Schatten auf der grünen Lunge des Planeten liegt. Wie ist es um den Regenwald bestellt?

Vor kurzem ist eine Datenanalyse erschienen, der zufolge große Teile des Amazonas-Urwalds, der letzten großen grünen Lunge der Erde, bereits erheblich beeinträchtigt sind.

Ein Auftauen der Permafrostböden gilt als weiterer Kipppunkt und würde große Mengen an Methan freisetzen, das kurzfristig als Klimagas sehr viel potenter ist als Kohlendioxid.

Methan ist ein sehr starkes Treibhausgas, das aber relativ schnell zerfällt. Dreißig Prozent bleibt nach dem Zerfall allerdings als CO2 noch lange in der Atmosphäre. Methan ist ein zunehmendes Problem, derzeit dominiert aber noch Kohlendioxid den immer noch zunehmenden Treibhauseffekt.

Jüngst ist auch der für unser gemäßigtes europäisches Klima so wichtige Golfstrom bzw. dessen abnehmende Dynamik wieder ins Gerede gekommen.

Eine sehr, sehr gründlich gemachte Studie deutet darauf hin, dass sich der Golfstrom mit hoher Wahrscheinlichkeit vom bereits heute schwächsten Stand im Holozän weiter abschwächt und noch in diesem Jahrhundert einen Zustand erreicht, bei dem diese Strömung beginnt zusammenzubrechen. In Nordeuropa würden die Temperaturen dann dramatisch fallen und diesen Lebens- und Wirtschaftsraum in seiner heutigen Form existentiell bedrohen. Mitteleuropa würde mit kälteren Wintern und heißen Sommern kontinentaler werden. Vor allem auf der Südhemisphäre würde die Erwärmung dadurch noch stärker ausfallen.

Dabei geht es auch um ganz grundsätzliche Dinge wie Ernährungssicherheit. Man hört aber immer wieder das Argument, dass der Klimawandel manche Weltgegenden sogar menschenfreundlicher machen wird. Isoliert betrachtet wird es vereinzelt heute unwirtliche Gegenden geben, in denen die globale Erwärmung das Klima angenehmer werden lässt. Bei uns in Tirol auf 1.500 Metern Seehöhe werden die Sommer von vielen Menschen subjektiv als angenehmer wahrgenommen als noch vor dreißig Jahren. Das ist eine Froschperspektive. Wenn rundherum die Welt zusammenbricht, werden einzelne Regionen, in denen es durch den Klimawandel vielleicht menschenfreundlicher werden mag, nicht viel nützen.

Wenn rundherum die Welt zusammenbricht, werden einzelne Regionen, in denen es durch den Klimawandel vielleicht menschenfreundlicher werden mag, nicht viel nützen.

Man geht davon aus, dass bis 2050 zwischen zehn und 50 Prozent der Fläche des Amazonas-Regenwaldes kollabieren werden. Die große Frage ist, ab welcher Schwelle dieser Kollaps für den gesamten Regenwald tödlich sein wird. Dabei würden ungeheure Mengen an Kohlendioxid freiwerden.

Befasst sich die Klimawissenschaft auch damit, wie viele Menschen auf der Erde ernährt werden können, wenn die Erderwärmung voranschreitet?

Zuerst muss man festhalten, dass die heutige Welternährungssituation entspannter sein könnte, wenn die existie-

renden Ressourcen geschickter und gerechter verteilt wären. Kann aber der Klimawandel nicht sehr schnell gestoppt werden, wird die Ernährungssicherheit massiv bedroht werden. Wir werden dann zudem in heute dicht besiedelten Teilen der Erde Temperaturen bekommen, die bei gleichzeitig hundertprozentiger Luftfeuchtigkeit nicht mehr bewohnbar sein werden.

Das ist dann die sogenannte Kühlgrenz- bzw. Feuchttemperatur, im Englischen auch Wet-bulb Temperature, bei der Menschen sich durch Schwitzen nicht mehr ausreichend kühlen können und binnen kurzer Zeit den Hitzetod sterben.

So ist es. Im südostasiatischen Raum gibt es jetzt bereits zehn bis 20 Tage pro Jahr, wo diese Feuchtkugeltemperatur erreicht wird. Dann kann sich schon ab 35° Celsius der menschliche Körper mit Schwitzen nicht mehr ausreichend selbst kühlen. Für die notwendige Kühlung von Behausungen braucht es sehr viel Energie, die aber immer noch aus fossilen Quellen stammt. Ohne drastische Reduktion der Treibhausgasemissionen werden manche Gegenden ganzjährig diesen Bedingungen ausgesetzt sein.

Wie würden die politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen aussehen, wollte man dem anthropogenen Klimawandel ernsthaft etwas entgegensetzen? Der Treibhausgasausstoß muss in sehr wenigen Jahren auf Nettonull reduziert werden. Dann hätte man noch eine realistische Chance, das Ruder herumzureißen. Mit starken negativen Emissionen, das heißt der Atmosphäre Treibhausgase durch heute noch nicht einsatzfähige technische Verfahren entziehen, ließe sich ein „Overshooting“ über das 1,5-Grad-Ziel hinaus wieder einfangen. Das ist aber sehr riskant, da wir über 1,5° Celsius Erwärmung wohl schon an den Klimawandel verstärkenden Rückkoppelungen kratzen werden.

im notwendigen Ausmaß gelingen wird. Bäume pflanzen reicht nicht und andere bestehende und gedachte Techniken sind im Versuchsstadium und noch lange nicht im erforderlich großen Stil einsetzbar. Außerdem sind diese Techniken enorm energieaufwendig. Und woher bekommt man die notwendige Energie?

Bisher aus fossilen Brennstoffen.

Augenblicklich ist das daher alles keine realistische Option, in einigen Jahrzehnten vielleicht schon.

Binnen weniger Jahre eine vollständige Abkehr von fossilen Brennstoffen zu erreichen, klingt leider einigermaßen illusorisch.

Das müssten in erster Linie die reichsten zehn Prozent der Menschen schaffen, zu denen wir auch gehören, die den größten Teil der Treibhausgase verursachen.

Ohne gravierende Verhaltensänderung ist das nicht einmal ansatzweise zu bewerkstelligen.

Nicht mehr. Vor 30, 40 Jahren wäre das noch relativ einfach gegangen und wir wären gar nie in viele Verhaltensmuster hineingefallen, die uns heute auf den Kopf zu fallen drohen. Man hat das in der Klimaforschung schon damals klaren Auges vorhergesehen und darauf aufmerksam gemacht.

Hätten Sie sich als junger Wissenschaftler am Beginn Ihrer akademischen Laufbahn gedacht, dass die Situation im Herbst Ihrer wissenschaftlichen Karriere so ernst sein könnte?

Nein. Das hängt aber auch davon ab, in welchem wissenschaftlichen Ambiente man sich bewegt und was dort diskutiert wird. Der Klimawandel war damals kein so prominentes Thema. Es gab ganz im Gegenteil Gletschervorstöße, die man sich damals nicht erklären konnte, und es wurde – zumindest populärwissenschaftlich – vor einer neuen

Der Treibhausgasausstoß muss in sehr wenigen Jahren auf Nettonull reduziert werden.

Die Realisierbarkeit von Carbon Capture im notwendigen Umfang, damit es klimarelevant wird, ist umstritten. NASA-Klimatologe Peter Kalmus hat Carbon Dioxide Removal sogar wiederholt als „magic fairy dust“ bezeichnet. Das dürfte mehr dem Wunschdenken entspringen, dass mit Technologie alles gut werden wird. Umstritten sind in jedem Fall Geoengineering-Ideen, die den Einfall der Sonne reduzieren sollten. CO2 aus der Atmosphäre zurückzuholen ist dagegen ein Ziel, auf das sich die meisten verständigen können. Die Frage ist nur, wann das

Eiszeit gewarnt. Später haben wir den damals noch etwas fernen Klimawandel und vor allem die wissenschaftlichen Arbeiten dazu zunehmend diskutiert. Als ich 2003 in die Mitte des Weltklimarates gepurzelt bin, wurde mir bewusst, dass die Kolleg*innen, die sich intensiver mit der Materie befasst haben, seit mindestens 20 Jahren wissen, worauf die Entwicklung hinausläuft.

Klimaforscher waren lange Zeit so etwas wie die einsamen Rufer in der Wüste. Wie ist das Feedback auf Ihre

Vorträge, bei denen die Menschen mit dem Stand der Forschung und einer unangenehmen Klimawirklichkeit konfrontiert werden? Wurden Sie auch angefeindet? Früher hielt ich vor allem Vorträge vor Umweltschutzorganisationen und dergleichen, die sich eigentlich in ihrem Handeln bestätigt wissen wollten. In den hinteren Reihen gab es meist zwei, drei Leute, die mit ebenso bekannten wie unrichtigen Argumenten dagegengeredet haben. 2018 hat sich dann einiges gewandelt: Es hat in Europa Hitze und große Dürren mit Ernteausfällen gegeben, im nördlichen Mitteleuropa wurde mehrfach die 40°-Celsius-Marke geknackt, ein vor allem psychologisch wirkungsvoller Wert, und der Spezialbericht des Weltklimarates, in dem das 1,5-Grad-Ziel und dessen Folgen analysiert wurden, ist herausgekommen. Außerdem begann ein schwedisches Mädchen damit, Schulstreiks für das Klima zu organisieren. Diese Aspekte haben zusammengenommen in Europa zu einem rapiden Umdenken geführt und auch die Medien sind ganz intensiv auf das Thema aufgesprungen. Ich wurde zunehmend von Gruppierungen zu Vorträgen eingeladen, die sich Sorgen gemacht haben, von Politiker*innen und Menschen aus der Zivilgesellschaft und zunehmend von Wirtschaftstreibenden, letztes Jahr etwa von 250 Revisoren aus dem Raiffeisen-Verband.

Nach meinen Vorträgen sind die meisten überrascht, wie ernst die Lage bereits ist, und sind oft sehr betroffen.

Die Klimadiskussion scheint also eine kritische Masse erreicht zu haben.

Ich glaube, dass immer mehr Menschen ernstlich besorgt sind. Nach meinen Vorträgen sind die meisten überrascht, wie ernstdie Lage bereits ist, und sind oft sehr betroffen. An diesem Punkt tue ich mir als Naturwissenschaftler schwer, sie abzuholen. Unlängst habe ich vor 150 Beschäftigten eines Unternehmens einen Vortrag gehalten. Die Mitarbeiter*innen waren danach so betroffen, dass im Nachgang ein Seminar veranstaltet wurde, um ihnen ihre Klima-Angst zu nehmen, ohne den Klimawandel als solches in Frage zu stellen, und sie dazu zu ermächtigen, wieder ins Handeln zu kommen. Man muss die Menschen unbedingt mitnehmen, um die Gesellschaft vor einem weiteren Auseinanderdriften zu bewahren. Der Staat sind wir alle. Die Politik muss intensiv daran arbeiten, die Menschen auf den sehr herausfor-

dernden Weg mitzunehmen. Die repräsentative Demokratie stößt da an ihre Grenzen. Sie war gut, um das Wachstum zu verwalten, in Krisen versagt sie zunehmend, weil ihr die Menschen nicht mehr mitgehen. Es braucht dringend mehr partizipative Elemente, die Teilhabe an den wichtigen und notwendigen Entscheidungen in der Klimapolitik garantieren und damit Identifikation stiften.

Teilhabe an den Aushandlungsprozessen trägt dazu bei, den Menschen erstens ihre Angst zu nehmen, und sorgt zweitens dafür, ...

… dass die Menschen ins Tun kommen.

Ist es nicht ein verheerendes Signal, wie halbherzig die offizielle Politik mit den Ergebnissen des österreichischen Klimarates der Bürger*innen umgeht?

Das wird derzeit ein bisschen populistisch missbraucht. Manche haben nicht verstanden, wie dieser Klimarat funktioniert, von anderen wird er politisch instrumentalisiert. Es war von Anfang an klar, dass der Klimarat, obwohl vom Nationalrat installiert, lediglich eine beratende Funktion haben würde. Gleichzeitig ist das demokratiepolitisch ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. Die Umsetzung der Ergebnisse ist freilich nicht so hundertprozentig toll. Geschwindigkeitsbegrenzung hat man zum Beispiel keine untergebracht, weil in diesem moderierten Verfahren zu viele dieser einfach umsetzbaren Maßnahme ihre Unterstützung verweigert haben. Bei vielen anderen Dingen sind die Leute weit über ihre Schatten gesprungen, da sind viele interessante Sachen drinnen. In Tirol sind viele Dinge, die der Klimarat angeregt hat, bereits auf Schiene. Das muss man auch einmal festhalten.

Eine Geschwindigkeitsbegrenzung könnte man ganz einfach verordnen.

Das könnte man, aber solange man sich als „Autoland“ darstellt, geht das nicht. Das andere ist das Klimagesetz, das aus politischer Taktiererei auf die lange Bank geschoben wird. Das sind Forderungen, über deren Verzögerung sich der Bürgerklimarat zu Recht geärgert hat.

Um diesen Gedankengang abzuschließen: Klimapolitik hat nur eine Chance, wenn sie die Menschen mitnimmt? Ja, es geht darum, die notwendigen Schritte zu setzen und dann alle mitzunehmen. Das würde auch dem sozialen Auseinanderbrechen entgegensteuern, das von den äußersten Rändern des politischen Spektrums derzeit ja massiv provoziert wird.

Der Staat sind wir alle. Die Politik muss intensiv daran arbeiten, die Menschen auf den sehr herausfordernden Weg mitzunehmen.

Der gegenwärtige Dissens – übrigens nicht nur in der Klimapolitik – wird geradezu lustvoll bewirtschaftet. Das wird tatsächlich lustvoll und sehr professionell bewirtschaftet.

Dürfen wir uns darauf einstellen, dass künftig das aktuelle Jahr immer das – mit Blick auf die globale Durchschnittstemperatur – wärmste der Messgeschichte sein wird?

Nein, mit Sicherheit nicht. Es kann sein, dass es die nächsten zwei, drei Jahre mit El-Niño-Unterstützung neue Rekorde geben wird, aber dann auch, dass einzelne Jahre wieder hinter den Durchschnitt zurückfallen. Betrachtet man jeweils die Zehnjahresmittel, zeigt sich seit 50 Jahren, dass die Temperatur in jeder Dekade über die Unsicherheit hinaus zugenommen hat.

Im vergangenen Jahr hatten wir La Niña, die – salopp formuliert – coolere Schwester von El Niño, und dennoch war 2023 ein Rekordjahr.

Es hat einige Jahre La-Niña-Konditionen gegeben, jetzt geht diese interne Variabilität der Atmosphären-OzeanWechselwirkung in eine El-Niño-Phase über. Außerdem ist der elfjährige Zyklus der Sonnenaktivität gerade in einem Maximum. Insgesamt erwärmt sich das Klimasystem zunehmend. Der Jänner 2024 war der wärmste global je gemessene Monat. Sollte dieser Temperaturanstieg einmal für ein paar Monate ausbleiben, heißt das nicht, dass am Klimawandel nichts dran ist. Das Klimasystem ist hochdynamisch und komplex. Die Temperatur als Ausdruck der Erwärmung steigt kurzzeitig nicht linear. Der langjährige Trend deutet allerdings signifikant nach oben.

Wir würden an dieser Stelle gerne Platz für ein bisschen Medienschelte machen. Wie sehen Sie die Rolle der Medien in der Klimadebatte? Ist es kontraproduktiv, aus falsch verstandener Objektivität Bothsideism zu veranstalten und immer beide Seiten – die Klimaforschung, die sich bis auf Detailfragen völlig einig ist, da, die Klimawandelskeptiker*innen dort – hören zu wollen? Argument und Gegenrede mögen prinzipiell zur Grundausstattung eines ethisch korrekten Journalismus gehören. Im Fall von kollektiv erarbeiteten Erkenntnisständen, wie das in der Klimaforschung der Fall ist, ist das hochgradig kontraproduktiv. Das skeptische Hinterfragen von Ergebnissen handelt die Wissenschaft fortwährend selber aus. So funktioniert Wissenschaft. Eine*r findet irgendwas, und andere machen sich skeptisch daran, das zu hinterfragen und in

nicht wenigen Fällen auch zu falsifizieren. Übrig bleiben Studien und Ergebnisse von hoher Qualität und Zuverlässigkeit. Der Skeptizismus ist Grundelement des wissenschaftlichen Forschens. Ein kollektives erarbeitetes Ergebnis, wie es zum Beispiel vom IPCC herausgegeben wird, sollte man als Journalist stehenlassen und nicht zum Beispiel im Fernsehen für die Einschaltquote irgendwelche Leute einladen, die alles in Frage stellen und üblicherweise nicht viel Ahnung haben.

Das befeuert auch die Wissenschaftsskepsis, die in Österreich ohnehin fast zur Folklore gehört. Individuelle anekdotische Evidenz steht quasi gleichbedeutend neben wissenschaftlicher Erkenntnis. Das ist im Grunde genommen ein Elend.

Das ist wirklich ein großes Elend. Es ist schwierig, der Journalismus und vor allem die Meinungsfreiheit sollen unantastbar bleiben. Aber einem vogelwilden, sachfremden Diskurs sollten eigentlich Grenzen gesetzt werden.

Die sauberere Trennung von Meinungsbeiträgen und Tatsachenberichterstattung würde schon weiterhelfen. Meinungsäußerungen sind völlig legitim, sollten aber für das Publikum klar erkennbar sein.

Mein Nachbar, ein Bauer im Schnalstal, hat zu mir gesagt: „Ich weiß schon, dass wir zum Klima eine unterschiedliche Meinung haben, aber das geht alles wieder vorbei.“ Darauf habe ich gesagt: „Das Problem ist, dass du dazu eine Meinung hast, ich aber weiß, dass der Klimawandel nicht vorbeigeht.“

Es werden große Hoffnungen in die Erneuerbaren Energien gesetzt. Hier zeigt die Geschichte, dass Jevons Paradoxon* bzw. der Rebound-Effekt zu wirken beginnen und Erneuerbare auf die fossilen Energieträger draufgepackt werden, anstatt diese zu ersetzen. Wie lässt sich dieses bekannte Paradoxon der Umweltökonomie durchbrechen?

Vollumfänglich stimmt das so nicht. Wir sind zum Beispiel in Teilen Europas – wohlgemerkt nicht in Österreich – schnell von der Abhängigkeit von russischem Gas weggekommen.

Das durch Flüssigerdgas aus anderen Teilen der Welt ersetzt wurde.

Ja. Niemand will der Realität, dass wir unseren Energiekonsum ganz massiv reduzieren müssen, in die Augen schauen. Aber ohne den Verbrauch zu reduzieren wird

*Jevons Paradoxon zeigt, dass technologischer Fortschritt, der die Energieeffizienz erhöht, nicht unbedingt zu einem Rückgang des Energieverbrauchs führt, sondern ihn sogar tendenziell erhöht, und dass ein steigender Verbrauch die positiven Effekte sowie einen Teil der Einsparungen ausgleichen kann.

es nicht gehen. Das wäre eigentlich der erste Schritt, und dann sollte man sich ansehen, wie der Rest der fossilen Energie, den man noch zu brauchen glaubt, ersetzt werden kann. Wir sind in unserer Wirtschaft und der gesamten Lebensweise auf dieses „immer mehr“ getrimmt. Davon kommen wir nur sehr schwer weg, außer man setzt sich miteinander an einen Tisch – Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft – und einigt sich darauf, zurückzufahren, auch wenn das weh tut. Parallel dazu kann man die Erneuerbaren ausbauen. Dagegen gibt es aber auch Widerstände. Zudem ist der Strom zwar ein guter Esel, der Energie von da nach dort transportiert, aber es fehlt an Speichern, die die durch Sonne, Wind und Wasser gewonnene Energie dann abgeben, wenn sie gebraucht wird. Man braucht Batterien, synthetische Kraftstoffe und Pumpspeicherwerke, um den elektrischen Strom vorübergehend zu speichern. Die Herstellung von Batterien ist derzeit noch problematisch, synthetische Kraftstoffe haben einen sehr kleinen Wirkungsgrad und Pumpspeicherwerke verlangen große Eingriffe in meist unberührte Berglandschaften.

Sowieso. Das ist aber auch ein Kommunikationsproblem und eine Frage der Teilhabe. Mittlerweile bin ich bei mehreren großen und kleinen Klimaräten bzw. Bürgerbewegungen als Experte eingeladen und ich sehe, dass sich einiges tut.

Inwieweit ist Klimapolitik im globalen Maßstab auch eine Gerechtigkeitsfrage?

Klimapolitik muss mit globaler Gerechtigkeit einhergehen und zudem den Arten- und Ressourcenschutz im Auge haben. Interessanterweise spielen diese Faktoren alle zusammen.

Mit Verzicht ist in unserer Gesellschaft kein Stich zu machen.

Auf den Begriff Verzicht muss man verzichten. Damit erzeugt man nur Widerstände. Es geht um das Maßhalten. Wo ist mein Maß? Es geht um das eigene Maß, das gemeinsame Maß und das global verträgliche Maß. Darüber schießt jeder einzelne Europäer tagtäglich weit hinaus.

Auf den Begriff Verzicht muss man verzichten. Damit erzeugt man nur Widerstände. Es geht um das Maßhalten. Wo ist mein Maß?

Es geht um das eigene Maß, das gemeinsame Maß und das global verträgliche Maß. Darüber schießt jeder einzelne Europäer tagtäglich weit hinaus.

Synthetische Kraftstoffe scheinen die bevorzugte Variante des derzeitigen Bundeskanzlers und seiner Partei zu sein.

Für manche Bereiche sind dies sicher wenigstens Übergangshilfen, für das Betreiben von Autos ist das keine effiziente Lösung. Zudem geben wir die Energiebereitstellung wieder weitgehend in fremde Hände. Eine ideale Gegend für die Erzeugung synthetischer Kraftstoffe ist unter anderem die arabische Halbinsel. Saudi-Arabien hat die letzte Klimakonferenz 2023 in Dubai sicher auch aus dieser Perspektive konstruktiver begleitet als befürchtet. In den Alpen sind Pumpspeicherwerke sicher eine Option, die aber massive Eingriffe erfordern. Vor- und Nachteile müssen mit allen Betroffenen ausverhandelt werden, aber wer Energie haben will, muss eben auch Kompromisse akzeptieren.

Bei derartigen Entscheidungen treten nicht selten die sogenannten NIMBYs* auf den Plan.

Unseren Wohlstand und die Annehmlichkeiten des modernen Lebens darf man zu schätzen wissen. Leben wir aber nicht, etwas ketzerisch formuliert, über unsere Verhältnisse, seit wir begonnen haben, in ungeahntem Tempo fossile Brennstoffe zu verheizen?

Historisch haben wir uns mit dem Lebens- und Wirtschaftsstil einen riesigen Rucksack umgehängt, den wir heute auf niemanden mehr abwälzen dürfen.

Im Pariser Klimaabkommen von 2015 wurde erstmals das damals schon sehr sportliche 1,5-Grad-Ziel formuliert, das manche Wissenschaftler heute für obsolet halten, weil es nicht mehr zu erreichen sei. Gibt es Untersuchungen, in welchem Temperaturbereich es für die – frei nach Hans Jonas – „Permanenz echten menschlichen Lebens“ auf diesem Planeten wirklich ungemütlich werden kann? Manche Prognosen gehen bei Untätigkeit von vier Grad und mehr über dem vorindustriellen Niveau aus.

*NIMBY: Not in my Backyard; Person, die vor allem Bauvorhaben (Windräder, Stromtrassen o. Ä.) in der eigenen Umgebung zu verhindern versucht, gegen deren Verwirklichung an anderer Stelle aber grundsätzlich nichts einzuwenden hat.

Man muss wohl davon ausgehen, dass der Punkt, an dem das System außer Kontrolle gerät, irgendwo im Bereich zwischen 1,5 und 2 Grad Celsius liegt.

Das würde bedeuten, dass 70, 80 Prozent der heute dicht besiedelten Gebiete nicht mehr bewohnbar sein würden. Die wichtigere Frage ist aber die nach dem Punkt, ab dem das System außer Kontrolle gerät. Es ist schwierig, diese Temperatur genau festzumachen. Man muss wohl davon ausgehen, dass dieser Punkt irgendwo im Bereich zwischen 1,5 und zwei Grad Celsius liegt.

Die Situation ist, nach allem, was Sie hier dargelegt haben, mehr als ernst. Gibt es Umstände, die Sie dennoch für die Zukunft optimistisch stimmen?

Nein. Optimistisch nicht. Optimismus ist gefährlich, er geht mit dieser „Wird-schon-werden“-Mentalität einher. Genauso unbrauchbar sind die Pessimisten, die ohnehin alles für zu spät halten. Es braucht einen pragmatischen Realismus, der ein Handeln aus Sorge veranlasst. Der Innsbrucker Professor für christliche Gesellschaftslehre Wolfgang Palaver fordert einen „aufgeklärten Katastrophismus“. Dabei geht es ihm um „eine Furcht, die zum Handeln aus Verantwortung motiviert und nicht im optimistischen Blindflug annimmt, dass schon nichts passieren wird“. Dieser Sichtweise kann ich mich anschließen.

ZUR PERSON:

Universitätsprofessor Georg Kaser (71) stammt aus Südtirol und wirkte unter anderem federführend in drei Berichtszyklen (18 Jahre) des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), dem Klimabericht des Weltklimarates der Vereinten Nationen, mit. Kaser gilt als einer der einflussreichsten Klimaforscher weltweit und lebt heute in Karthaus im Schnalstal. Seit März 2021 ist Kaser als Universitätsprofessor und Dekan offiziell im Ruhestand, dennoch wirkt er in zahlreichen Funktionen darauf ein, das öffentliche Bewusstsein für die Dringlichkeit der Maßnahmen gegen den Klimawandel zu schärfen.

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