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DIE WISSENSCHAFT DER DATEN
Im Zuge der Digitalisierung werden Unmengen von Daten gesammelt. Die Herausforderung liegt darin, diesen Daten die richtigen Fragen zu stellen, um daraus passende – und brauchbare – Antworten zu bekommen. Data Science nennt sich diese Kunst, relevantes Wissen aus Daten zu extrahieren.
INTERVIEW: MARINA BERNARDI
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Wie in der biologischen Evolution werden auch beim technischen Fortschritt die Zeitabschnitte zwischen den Entwicklungsschritten immer kürzer. Entwicklung findet nicht linear statt, sondern exponentiell. Die Ära der so genannten digitalen Revolution bringt dabei das Generieren riesiger Datenmengen mit sich. Das stellt vor Herausforderungen unterschiedlichster Natur, birgt aber auch Chancen und kann dabei helfen, die Welt ein bisschen besser zu machen und Dinge besser zu verstehen. Den Menschen zum Beispiel. Denn die Digitalisierung verändert auch das Gesundheitswesen. Wenn man über die Zeit – innerhalb der rechtlichen, ethischen und moralischen Grenzen – viele Daten über Patienten sammelt und diese digital und vernetzt (Stichwort ELGA) zur Verfügung stellt, entsteht mit der Zeit ein sehr gesamtheitliches Bild eines Patienten, das künftige Diagnosen und Behandlungen erleichtert, effizienter und treffsicherer macht.
RATIO TRIFFT EMOTIO
Nun ist es eine Sache, all diese Daten zu sammeln. Die viel spannendere, wichtigere und herausforderndere Frage ist aber, wie man aus dieser Fülle an Datenmaterial die richtigen Schlüsse zieht. Die UMIT TIROL hat dafür das Masterstudium „Medizinische Informatik“ initiiert, im Zuge dessen die Studierenden jene Werkzeuge an die Hand bekommen, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen aktiv mitzugestalten. Dabei geht es nicht nur um die technischen Skills, sondern um interdisziplinäres Denken und Arbeiten, um aktuelle Probleme im Gesundheitswesen zu analysieren und soziotechnische Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Das braucht auf der einen Seite das technische Verständnis für die Daten und deren Zustandekommen, andererseits ein tiefes Verständnis dafür, welche Informationen jene Menschen brauchen, die mit den Ergebnissen arbeiten sollen. Medizinische Informatik ist also eine Schlüsseldisziplin, um Wissen zu generieren und dieses derart zu übersetzen, um es in Anwendung zu bringen. „Wir sind Werkzeugmacher für die Medizin“, beschreibt es Ass.-Prof. DI Dr. Werner Hackl, den wir in der UMIT besucht haben.
MEDIZINISCHE INFORMATIK
Die Medizinische Informatik treibt die Entwicklung der Gesundheitsversorgung maßgeblich voran und ist heute so wichtig wie Anatomie und Pathologie im letzten Jahrhundert. Im Masterstudium Medizinische Informatik an der UMIT TIROL werden international gefragte Expertinnen und Experten ausgebildet, welche die Digitalisierung im Gesundheitswesen mitgestalten. Gemäß dem Motto „Informatik für Menschen – Informatik mit Menschen“ lernen die Studierenden, über den technischen Tellerrand hinauszuschauen, in interdisziplinären Settings aktuelle Probleme im Gesundheitswesen zu analysieren und soziotechnische Lösungen zu entwickeln sowie umzusetzen – für eine moderne, qualitativ hochwertige und auch in der Zukunft leistbare Gesundheitsversorgung. Nächster Start ist im heurigen Oktober. Es gibt 30 Studienplätze pro Jahrgang. www.umit-tirol.at ECO.NOVA: Komplexitätsforscher Peter
Klimek, im Zuge der Pandemie quasi im Dauereinsatz, bemängelte vor Kurzem, dass in Österreich viele Daten schwer zu bekommen und zu wenig vernetzt seien. Woran hapert es Ihrer Meinung
nach beim Datenmanagement? WERNER HACKL: Ich denke, wir stehen nicht nur in Österreich noch am Anfang der Entwicklung, wenngleich man schon in den 1950er-Jahren angefangen hat, erstmals Daten zu sammeln und für Analysen systematisch aufzubereiten. Bereits damals gab es in der Wirtschaft so genannte Management Information Systems. Rund zehn bis 20 Jahre später hat man versucht, diese Systeme zur Unterstützung von Entscheidungen zu nutzen, und kam drauf, dass das gar nicht so einfach ist. Entscheidungsfindungen sind komplexe Prozesse. Entscheidungen fallen nicht ad hoc, sondern stützen sich auf den jeweils aktuellen Informationsstand. Diese Informationen entwickeln sich allerdings laufend weiter. Wir generieren heute viel mehr Daten, verknüpfen sie mit Vorwissen und ergänzen sie durch Annahmen. Daraus entstehen immer komplexere Strukturen und das in einer immer schnelleren Geschwindigkeit. Dazu werden die medizinischen Fragestellungen multidimensionaler. Das Problem ist, dass man komplexe Fragen nicht einfach mit Hilfe von noch mehr Daten beantworten kann. Im Gegenteil. Je größer die Datenmenge, desto konkreter muss die Fragestellung sein. Eine Aufgabe der medizinischen Informatik ist es, das minimalste Datenset und aus der Fülle die relevantesten Daten zu finden, um eine Frage zufriedenstellend zu lösen und valide Antworten zu bekommen, aus denen man Handlungen ableiten kann.

© ANDREAS FRIEDLE
„Nicht alles, was in der Medizin technisch möglich ist, ist auch ethisch vertretbar. Hier gilt es, genaue Grenzen und rote Linien zu definieren.“
WERNER HACKL
Ein breites Wissen über Patienten erleichtert künftige Diagnosestellungen. Wie sehr läuft man damit Gefahr, sich eher auf Daten zu verlassen als auf das
menschliche Urteilsvermögen? Systemisch sehe ich diese Gefahr nicht, in Einzelfällen hängt es vom Arzt ab. Letztlich hat jedoch der Arzt immer die Entscheidungsgewalt über die Maschine. Eine breite Datenlage hilft indes sehr beim Schritt in Richtung personalisierte bzw. zielgruppenorientierte Medizin. Je mehr ähnlich gelagerte Vergleichsfälle es gibt, desto präziser kann aufbauend auf diesen Erfahrungswerten eine Diagnose gestellt oder Therapien geplant werden. Eine Maschine ist in der Lage, viel mehr Informationen zu verarbeiten, als es ein Mensch jemals könnte. Sie aggregiert Daten von abertausenden Fällen, dennoch obliegt es letzten Endes dem Menschen, seine Schlüsse daraus zu ziehen und eine Entscheidung zu treffen.
Sind solche Algorithmen folglich auch in der Lage, bestimmte Krankheiten vo-
rauszusagen? Zur Diagnoseerstellung helfen Algorithmen auf jeden Fall. Oft sind sie sogar besser als Menschen, eben weil die Wissensbasis eine viel breitere ist. Das Feld der predictive medicine, also übersetzt die vorhersagende Medizin, ist kniffliger. Präventiv mag das seine Vorteile haben, weil man etwa seinen Lebenswandel frühzeitig verändern kann, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Erkrankung hoch ist und man deren Auftreten sohin vermeiden kann. Demgegenüber können mit Hilfe von Algorithmen Prognosen erstellt und Behandlungserfolge vorhergesagt werden, zum Beispiel, wie hoch die Mortalitätswahrscheinlichkeit eines Patienten nach einer Herzoperation ist. Bestimmt der Algorithmus, dass die Überlebenschancen gering sind, was dann? Operiert man nicht? Der Bereich der Data Science ist nicht nur höchst technisch, sondern auch stark von moralisch-ethischen Faktoren geprägt.
Was bedeuten diese neuen Entwicklungen und modernen Analysemethoden für die Forschung? Wird sie schneller? Präziser? Ja und nein. Das Zusammenführen und Aufbereiten der Daten sowie das Auswählen der korrekten Datenbasis wird immer komplexer. Früher war die Datenlage überschaubar, heute muss man sich im Vorfeld einer Studie oder eines Forschungsprojektes sehr genau überlegen, welche Daten man heranzieht und mit welcher Begründung. So kann es passieren, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Deshalb wird die Forschung wohl nicht schneller, die Ergebnisse hingegen genauer und robuster.
Gendermedizin findet immer mehr Aufmerksamkeit, weil Männer und Frauen auch in Bezug auf die Gesundheit unterschiedlich ticken. Gerade in der Forschung oder bei Studien herrscht jedoch ein eklatanter Gender-Data-Gap. Merken Sie, dass hier ein Umdenken stattfindet?
Ja, durchaus und das nicht nur in Bezug auf die Geschlechter, sondern auch auf spezielle Patienten-Subgruppen. Hier geht es zum Beispiel um genetische Prädispositionen, Auswirkungen bestimmter Vorerkrankungen oder Medikationsinteraktionen, also Wechselwirkungen von Medikamenten. Es gibt Medikamente, die beim einen Patienten wirken und beim anderen nicht. Eine breite Datenlage ermöglicht es uns herauszufinden, warum das so ist. Das führt à la longue dazu, dass wir jeden Patienten besser und individueller behandeln können, je mehr wir über seine Vorgeschichte wissen und diese mit andern vergleichen können.
Sehen Sie die Medizin generell als etwas, das Gesundheit erhalten soll oder Krankheiten behandelt? Das Ziel ist natürlich, Gesundheit zu fördern und möglichst lange zu erhalten, also nicht symptomatisch zu behandeln, sondern präventiv oder sogar vorausschauend zu agieren. Das braucht allerdings die Einsicht und Mitarbeit der Menschen und die Bereitschaft, gegebenenfalls ihr Leben zu verändern, um mögliche Krankheiten zu vermeiden. Das ist weniger eine Frage der medizinischen Möglichkeiten.
Man hat während der Pandemie etwa anhand des Impfstoffes gesehen, dass manche medizinischen Entwicklungen sehr schnell gehen können, wenn man im Austausch ist und sich vernetzt. Das wäre zu einer früheren Zeit weitaus mühsamer gewesen. Ganz grob gesprochen: Wohin geht die Medizin der Zukunft und was wird in den nächsten zehn Jahren
Realität sein? Ich bin überzeugt davon, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen noch stärker und schneller voranschreiten wird. Anwendungen wie der virtuelle Arztbesuch, mobile Gesundheits-Apps, intelligente und vernetzte Patientenakten oder die künstliche Intelligenz für die Entscheidungsunterstützung sind die Basis für vieles weitere. Es wird alles digital werden. Der Erfinder und Futurist Raymond Kurzweil ist sogar der Meinung, dass wir uns der Singularität nähern, Mensch und Technik miteinander verschmelzen. Wir werden technische Artefakte in unseren Körpern tragen, wodurch unsere biologische Existenz mit der Technik verschmilzt. Das wird wahrscheinlich nicht in den nächsten Jahren passieren, aber es wird kommen. Ob man dafür oder dagegen ist, diese Frage stellt sich dann nicht mehr.