Kölner Straßenzeitung Draussenseiter 5/2021: Fußläufig

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Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen. (...) Mein Ziel: 100.000 neue Sozialwohnungen in Deutschland pro Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.

H

err Scholz, dieses Interview füh-

doch Ihr Wahlprogramm erwähnt wohnungs-

Rechte vorenthalten und sie unter men-

re ich für 20 Magazine, die in

lose Menschen nirgends. Sind das keine Wäh-

schenunwürdigen Bedingungen unter-

20 deutschen Städten von Men-

ler für die SPD?

gebracht haben. Es muss darum gehen,

schen ausgetragen werden, die

olaf scholz: Natürlich taucht das Thema

jenen das Handwerk zu legen, die an

obdachlos waren oder sind. Hand aufs Herz:

Wohnungsnot in unserem Programm

solcher Ausbeutung verdienen.

Wann haben Sie zuletzt eine Straßenzeitung

auf. Wir setzen uns massiv dafür ein,

gekauft?

dass in Deutschland mehr Wohnungen

Reicht das, um den südosteuropäischen Wan-

olaf scholz: Oh, das ist einige Zeit her!

gebaut werden, bezahlbare Wohnungen.

derarbeiter*innen zu helfen?

Das ergibt sich meistens, wenn ich in

Bevor ich in Hamburg Bürgermeister

olaf scholz: Die Europäische Union

einem Restaurant sitze und eine Verkäu-

wurde, habe ich verlangt, dass wir viel

garantiert die Freizügigkeit. Und es gilt

ferin oder ein Verkäufer an meinen Tisch

mehr Wohnungen bauen müssen, weil

das hiesige Arbeitsrecht, das die Arbeit-

kommt. Seit Corona geht beides nicht.

viele unter den steigenden Mieten sehr

geber in der Pflicht sieht – das müssen

leiden. Wir haben den Wohnungsbau in

wir durchsetzen. Die Wanderarbeiter*in-

Früher wählte vor allem der „Kleine Mann“

Hamburg richtig angekurbelt, mit

nen müssen wir über ihre Rechte in

Ihre Partei; heute ist der Anteil der Wähler*in-

10.000 Baugenehmigungen pro Jahr –

ihrer jeweiligen Muttersprache infor-

nen aus einkommensarmen Schichten ver-

ein Drittel Eigentums-, ein Drittel Miet-

mieren, viele wissen gar nicht, was

gleichsweise gering. Fehlt es der SPD an Boden-

und ein Drittel Sozialwohnungen. Als

ihnen zusteht. Gemeinsam mit Bundes-

haftung?

Bundesfinanzminister habe ich mit

arbeitsminister Hubertus Heil habe ich

olaf scholz: Nein, im Gegenteil. Wie oft

durchgesetzt, dass eigens das Grundge-

das DGB-Projekt „Faire Mobilität“

habe ich an Info-Ständen die Klage

setz geändert wird, damit der Bund den

besucht, das Arbeitsmigrant*innen

gehört: „Um einen wie mich geht‘s ja

sozialen Wohnungsbau weiterhin unter-

genau diese Unterstützung bietet.

nicht.“ Doch! Wir machen Politik für

stützen kann. Mein Ziel: 100.000 neue

dich! Das ist der Grund, warum ich über-

Sozialwohnungen in Deutschland pro

Berlin hat begonnen, Obdachlosen Wohnun-

haupt in der Politik bin. Die Corona-Kri-

Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unse-

gen ohne Vorbedingungen anzubieten, Stich-

se ist da auch eine Chance: Denn der

rer Zeit.

wort „Housing First“. Hamburg tut das nicht. Was halten Sie von dem Modell?

Beifall für die Corona-Held*innen darf

interVieW

Den ehemaligen Bürgermeister Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, hat Annette Bruhns von der Hinz&Kunzt in Hamburg zum Gespräch getroffen. Auf die Frage, was aus ihm wird, sollte er sein hochgestecktes Ziel nicht erreichen, antwortete der heutige Bundesfinanzminister: „Ich werde Kanzler.“ Was er den deutschsprachigen Straßenzeitungen sonst noch zu sagen hatte, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

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Foto: lutz Jäkel

Hat die SPD genug Bodenhaftung, Herr Scholz?

nicht einfach nur verhallen, die Aner-

Und was ist mit den Menschen ohne deutschen

olaf scholz: Erst mal ist es wichtig, dass

kennung muss sich auch im Porte-

Pass? Die heutigen Obdachlosen sind mehr-

die Kommunen für alle, die auf der Stra-

monnaie niederschlagen. Ich möchte in

heitlich nicht-deutsch, sondern etwa aus Polen,

ße leben, gut erreichbare und nieder-

einer Gesellschaft leben, in der diejeni-

Rumänien, Bulgarien. Im Sommer malochen

schwellige Angebote vorhalten. Jetzt in

gen, die in einem schicken Viertel ihren

viele auf Baustellen oder in der Landwirt-

der Corona-Krise bleiben vielerorts die

Café Latte trinken, sich mit denen poli-

schaft, im Winter fängt unser soziales netz sie

Unterkünfte über die kalte Winterzeit

tisch verbinden, die ihnen den Kaffee an

oft nicht auf. Wie will die SPD das ändern?

hinaus offen bis in den Frühling ...

den Tisch bringen. Die Theater-Regisseu-

olaf scholz: Unser Ansatzpunkt: Der

rin ist genauso Teil der Gesellschaft wie

Kampf gegen die Ausbeutung von

... also sind Sie nicht für „Housing First“?

der Altenpfleger oder die Ingenieurin.

Arbeitskräften und illegale Beschäfti-

Finnland feiert damit bereits Erfolge.

Wenn ich Kanzler werde, wird als eine

gungsverhältnisse. Die Zustände in der

olaf scholz: Diese Fragen liegen in der

der ersten Entscheidungen der Mindest-

Fleischindustrie oder auf dem Bau sind

Entscheidungskompetenz der Städte

lohn auf mindestens 12 Euro angehoben.

schlimm – deshalb haben wir reagiert.

und Gemeinden – und dort gehören sie

Wir stehen für bessere Löhne und siche-

Der Zoll hat neue Kontrollkompetenzen

auch hin. Da gibt es viele gute Ansätze.

re Arbeitsplätze: in der Pflege, an den

erhalten und mehr Personal, um die

Zwei Herausforderungen sollten wir

Discounterkassen, in den Logistikzent-

Branchen strikter zu überprüfen. Mich

aber unterscheiden: Zum einen die

ren.

empört es, wie viele lange Zeit hinge-

wachsende Migration innerhalb der EU,

nommen haben, dass so etwas mitten in

die die Nachfrage auf dem Wohnungs-

678.000 Menschen haben laut der letzten

Deutschland geschieht – Knebelverträ-

markt steigen lässt. Und zum zweiten

Schätzung hierzulande keine eigene Bleibe –

ge, die den Beschäftigten fundamentale

diejenigen, die seit Jahren auf der Straße

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