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Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen. (...) Mein Ziel: 100.000 neue Sozialwohnungen in Deutschland pro Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.
H
err Scholz, dieses Interview füh-
doch Ihr Wahlprogramm erwähnt wohnungs-
Rechte vorenthalten und sie unter men-
re ich für 20 Magazine, die in
lose Menschen nirgends. Sind das keine Wäh-
schenunwürdigen Bedingungen unter-
20 deutschen Städten von Men-
ler für die SPD?
gebracht haben. Es muss darum gehen,
schen ausgetragen werden, die
olaf scholz: Natürlich taucht das Thema
jenen das Handwerk zu legen, die an
obdachlos waren oder sind. Hand aufs Herz:
Wohnungsnot in unserem Programm
solcher Ausbeutung verdienen.
Wann haben Sie zuletzt eine Straßenzeitung
auf. Wir setzen uns massiv dafür ein,
gekauft?
dass in Deutschland mehr Wohnungen
Reicht das, um den südosteuropäischen Wan-
olaf scholz: Oh, das ist einige Zeit her!
gebaut werden, bezahlbare Wohnungen.
derarbeiter*innen zu helfen?
Das ergibt sich meistens, wenn ich in
Bevor ich in Hamburg Bürgermeister
olaf scholz: Die Europäische Union
einem Restaurant sitze und eine Verkäu-
wurde, habe ich verlangt, dass wir viel
garantiert die Freizügigkeit. Und es gilt
ferin oder ein Verkäufer an meinen Tisch
mehr Wohnungen bauen müssen, weil
das hiesige Arbeitsrecht, das die Arbeit-
kommt. Seit Corona geht beides nicht.
viele unter den steigenden Mieten sehr
geber in der Pflicht sieht – das müssen
leiden. Wir haben den Wohnungsbau in
wir durchsetzen. Die Wanderarbeiter*in-
Früher wählte vor allem der „Kleine Mann“
Hamburg richtig angekurbelt, mit
nen müssen wir über ihre Rechte in
Ihre Partei; heute ist der Anteil der Wähler*in-
10.000 Baugenehmigungen pro Jahr –
ihrer jeweiligen Muttersprache infor-
nen aus einkommensarmen Schichten ver-
ein Drittel Eigentums-, ein Drittel Miet-
mieren, viele wissen gar nicht, was
gleichsweise gering. Fehlt es der SPD an Boden-
und ein Drittel Sozialwohnungen. Als
ihnen zusteht. Gemeinsam mit Bundes-
haftung?
Bundesfinanzminister habe ich mit
arbeitsminister Hubertus Heil habe ich
olaf scholz: Nein, im Gegenteil. Wie oft
durchgesetzt, dass eigens das Grundge-
das DGB-Projekt „Faire Mobilität“
habe ich an Info-Ständen die Klage
setz geändert wird, damit der Bund den
besucht, das Arbeitsmigrant*innen
gehört: „Um einen wie mich geht‘s ja
sozialen Wohnungsbau weiterhin unter-
genau diese Unterstützung bietet.
nicht.“ Doch! Wir machen Politik für
stützen kann. Mein Ziel: 100.000 neue
dich! Das ist der Grund, warum ich über-
Sozialwohnungen in Deutschland pro
Berlin hat begonnen, Obdachlosen Wohnun-
haupt in der Politik bin. Die Corona-Kri-
Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unse-
gen ohne Vorbedingungen anzubieten, Stich-
se ist da auch eine Chance: Denn der
rer Zeit.
wort „Housing First“. Hamburg tut das nicht. Was halten Sie von dem Modell?
Beifall für die Corona-Held*innen darf
interVieW
Den ehemaligen Bürgermeister Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, hat Annette Bruhns von der Hinz&Kunzt in Hamburg zum Gespräch getroffen. Auf die Frage, was aus ihm wird, sollte er sein hochgestecktes Ziel nicht erreichen, antwortete der heutige Bundesfinanzminister: „Ich werde Kanzler.“ Was er den deutschsprachigen Straßenzeitungen sonst noch zu sagen hatte, lesen Sie auf den folgenden Seiten.
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Foto: lutz Jäkel
Hat die SPD genug Bodenhaftung, Herr Scholz?
nicht einfach nur verhallen, die Aner-
Und was ist mit den Menschen ohne deutschen
olaf scholz: Erst mal ist es wichtig, dass
kennung muss sich auch im Porte-
Pass? Die heutigen Obdachlosen sind mehr-
die Kommunen für alle, die auf der Stra-
monnaie niederschlagen. Ich möchte in
heitlich nicht-deutsch, sondern etwa aus Polen,
ße leben, gut erreichbare und nieder-
einer Gesellschaft leben, in der diejeni-
Rumänien, Bulgarien. Im Sommer malochen
schwellige Angebote vorhalten. Jetzt in
gen, die in einem schicken Viertel ihren
viele auf Baustellen oder in der Landwirt-
der Corona-Krise bleiben vielerorts die
Café Latte trinken, sich mit denen poli-
schaft, im Winter fängt unser soziales netz sie
Unterkünfte über die kalte Winterzeit
tisch verbinden, die ihnen den Kaffee an
oft nicht auf. Wie will die SPD das ändern?
hinaus offen bis in den Frühling ...
den Tisch bringen. Die Theater-Regisseu-
olaf scholz: Unser Ansatzpunkt: Der
rin ist genauso Teil der Gesellschaft wie
Kampf gegen die Ausbeutung von
... also sind Sie nicht für „Housing First“?
der Altenpfleger oder die Ingenieurin.
Arbeitskräften und illegale Beschäfti-
Finnland feiert damit bereits Erfolge.
Wenn ich Kanzler werde, wird als eine
gungsverhältnisse. Die Zustände in der
olaf scholz: Diese Fragen liegen in der
der ersten Entscheidungen der Mindest-
Fleischindustrie oder auf dem Bau sind
Entscheidungskompetenz der Städte
lohn auf mindestens 12 Euro angehoben.
schlimm – deshalb haben wir reagiert.
und Gemeinden – und dort gehören sie
Wir stehen für bessere Löhne und siche-
Der Zoll hat neue Kontrollkompetenzen
auch hin. Da gibt es viele gute Ansätze.
re Arbeitsplätze: in der Pflege, an den
erhalten und mehr Personal, um die
Zwei Herausforderungen sollten wir
Discounterkassen, in den Logistikzent-
Branchen strikter zu überprüfen. Mich
aber unterscheiden: Zum einen die
ren.
empört es, wie viele lange Zeit hinge-
wachsende Migration innerhalb der EU,
nommen haben, dass so etwas mitten in
die die Nachfrage auf dem Wohnungs-
678.000 Menschen haben laut der letzten
Deutschland geschieht – Knebelverträ-
markt steigen lässt. Und zum zweiten
Schätzung hierzulande keine eigene Bleibe –
ge, die den Beschäftigten fundamentale
diejenigen, die seit Jahren auf der Straße
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