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der ZWanGssPaZierGÄnGer Berichtet
Wien, 3. März 2021
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In der letzten Woche führte mein Zwangsspaziergang in die innere Stadt, also in den 1. Bezirk. Durch die Anordnung der Zwangsspaziergänge ist die Abnutzung der Schuhe verstärkt sichtbar. Meine seit vielen Jahren getragenen Lieblingsschuhe leiden sehr unter der ungewohnten Mehrbelastung. Obwohl ich auf sie Rücksicht nehme und ganz langsam gehe, ertragen sie den vermehrten körperlichen Druck von oben und durch die Bewegung entstehende Reibung von unten nicht mehr lange.
Die einzig mögliche Konsequenz ist der Kauf neuer Schuhe. Da ich nun aber Träger von Maßschuhen bin, müssen diese neuen Schuhe händisch angefertigt werden. Der Schuhmachermeister Andreas Schmid, der gerne am Telefon mit Frau Schmid angeredet wir, weil seine Stimme eine weibliche ist, betreibt seine Profession in der Naglergasse 26 und diese liegt zentral im 1. Bezirk, also der inneren Stadt . Die weibliche Stimme des Herren Schmid rief mich zu einer ersten Anprobe der Schuhe (ich habe gleich zwei Paar dieser Schuhe in Auftrag gegeben, man weiß ja nie, was an Weiterungen des Zwangsspaziergangs noch auf mich zukommen wird). Da das Wetter angenehm und die Umgebung recht ansprechend war, entschloss ich mich vom Zwangsspazierengehen auf Zwangsbummeln bzw. Zwangsschlendern umzuschalten. Ich bummelte also diese Gasse hoch, jene hinab, querte das eine Platzerl von rechts nach links, ein anderes von links nach rechts. So kam ich dann nach einiger Zeit des Zwangsschlenderns zum Stephansdom. Der Platz vor dem Dom war geschäftig leer, denn es fehlten die Touristen gänzlich. Die Luft war Handy-frei. Niemand hielt das fl ache Gerät, auf einer Stange montiert, gen Himmel. Nur Einheimische und sonstige sesshafte Menschen liefen geschäftig über den Platz, auf dem Weg von A nach B, dabei den Dom ignorierend, was grundsätzlich ein Fehler ist, denn der Dom bietet immer etwas. Als Zwangsbummler schlenderte ich zum Portal des ehrwürdigen Bauwerkes. Jetzt, zur Zeit der Pandemie, ist der Dom ein Ort der Stille, wo sonst, in Vor-Corona-Zeiten, der Teufel los war. Der Dom hat eine Grundfl äche von 3.000 qm und fasst 5000 Besucher*innen. Dies bedeutet, dass dann jede*r Besucher*in 0,5 qm zur eigenen Verfügung hat. Jetzt dürfen gleichzeitig 50 Personen im Dom sein. Nun stehen jeder*m Besucher*in mindestens 60 qm zur Verfügung. Als ich den Dom betrat, waren gerade 12 Personen anwesend, ich war der 13. Auf Nachfrage wurde mir versichert, dass es sich bei den 12 Besucher*innen nicht um die 12 Apostel handele, sondern um gewöhnliches Volk.
Zwei Überraschungen warteten auf mich. Im Moment herrschte die Fastenzeit. In den katholischen Kirchen wird der Altar durch ein großes Fastentuch verhüllt. Dieser Brauch erfährt gerade eine Renaissance. Im Stephansdom gestalten Künstler*innen das Tuch. In diesem Jahr hat Erwin Wurm das Tuch gestaltet. Er hat einen überdimensionalen Strick-Pullover erschaffen (80 qm, 200 kg). Es lohnt sich, sich über das Werk von Erwin Wurm zu informieren. Er ist ein – mit Recht -– sehr bekannter und geschätzter Gegenwartskünstler. Vor dem Dom steht eine riesige Wärmfl asche auf Menschenfüßen. Auch sie wurde von Wurm geschaffen. Der Pullover und die Wärmfl asche sind
Symbole für Wärme und Geborgenheit.
Seit ein paar Tagen erinnert ein Kunstwerk als Mahnmal an die Opfer des Anschlags vom 2. November 2020 in Wien. Vor ein paar Wochen wurden die Tausenden von Kerzen, Blumen, Briefen etc. an den Orten des Anschlags entfernt. All diese Devotionalien wurden aber nicht auf den Mistplatz gebracht. Sie sind in das Eigentum des Wien-Museums übergegangen. Künstler*innen nutzen dieses Material, um ihren Beitrag zu leisten. Ein solches Kunstwerk befi ndet
sich auf Zeit im Dom.
Es grüßt euch der Spaziergänger aus Zwang, Günther Jahn
Fotos: Günther Jahn BeiM Gehen Lothar hat sich für das Leben auf der Straße entschieden. erKennt Man Im Juli 2016 machte er sich die Welt erstmalig auf den Weg: von Köln nach Hamburg bis Mün-VÖlliG neu chen. Seit 2018 ist der gelernte Maschinenbau-Ingenieur beim DRAUSSEnSEITER dabei. In der Reihe „Lothar’s Marsch“ berichtete er von seinem Unterwegssein. Wir haben ihn gefragt, wie er sich auf seine Reisen vorbereitet, welche Rolle die Schuhe dabei spielen und welche Bedeutung das Gehen für ihn hat.
„Ich denke, ein Fakir hat ähnliche Erfahrungen gemacht“
Als ich 2016 zum ersten Mal zu Fuß unterwegs war, bin ich mit nur einem Paar Schuhe aufgebrochen. Ich wollte ausprobieren, wie lange Schusters Rappen durchhalten, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass damals mehr als 2000 Kilometer vor mir liegen sollten. Ich hatte mich gegen neue Schuhe entschieden und für solche, die ich schon monatelang eingelaufen hatte. So hoffte ich, Blasen vermeiden zu können. Auf einer Tour im Jahr 2018 war ich mit neuen Wanderschuhen unterwegs - und hatte bereits am fünften Tag Blasen. Die platzten etwa fünf Kilometer vor meinem Ziel auf. Ich spürte den Schmerz nur kurz. Bei der Inspektion – ich musste die Stelle noch nicht mal desinfi zieren – lief der Heilungsprozess schon. So konnte ich die Tour bereits am nächsten Tag fortsetzen. Auch 2016 bin ich nicht ganz ohne Blasen davongekommen. Hier hatte das allerdings damit zu tun, dass ich Slipper trug. Nach der Hälfte der Strecke wurde die Sohle immer dünner und bekam Risse. In die verirrten sich des Öfteren kleine und zum Teil spitze Steinchen. Ich denke, ein Fakir hat bei der ersten Berührung mit etwas Spitzem ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch das war kein Grund, vorzeitig aufzugeben. Vielmehr merkte ich, dass sich unter den Füßen eine Hornhaut bildete. Socken benötigte ich fortan nicht mehr. Selbst im Winter war ich lange ohne Socken unterwegs. Wegen Corona war ich 2020 nicht auf Tour. Auch heute würde ich mit nur einem Paar Schuhe aufbrechen. Allerdings habe ich 2021 – ich bin 59 Jahre alt geworden – wieder angefangen, Socken zu tragen. Denn ich möchte meinen Nieren etwas Gutes tun.
„Meine eigentliche Vorbereitung ist es, Vorfreude zu entwickeln“
Ich muss gerade schmunzeln. 2018 und 2019 habe ich schon auf eine Karte geschaut, bevor ich losgegangen bin, um eventuell schöne Gegenden (Berge, Seen, Flüsse, Städte usw.) in die Tour zu integrieren. Meist schätze ich aber nur eine ungefähre Streckenlänge für etwa einen Monat ab. Mehr als 500 Kilometer will ich – nach 2016 – nicht mehr zurücklegen. Als Reisezeit gefällt mir der Monat Mai. Meine eigentliche Vorbereitung ist, Vorfreude zu entwickeln auf das, was mich erwarten könnte. Dabei kann durchaus auch mal etwas dabei sein, was mich überrascht. Im Jahr 2019 gab es die große Überraschung gleich an Tag Eins: Ich startete im Backwerk am Barbarossaplatz mit einem Kaffee. Noch in Köln bedachten mich drei Personen mit Geld, sie stockten meine Reisekasse um fast 30 Euro auf. Entlang des Rheins kam ich nach Wesseling. Hier setzte ich mit der Fähre über und ging weiter Richtung Siegmündung. Auf einem Wasser-Schutzdeich unterwegs, sah ich ein paar dunkle Wolken. Leichten Regen hatte es zwischendurch immer mal wieder gegeben. Diese Wolken aber waren fast schwarz und bewegten sich in meine Richtung. Ich holte die Alufolie heraus, breitete sie wie ein Zelt über eine Bank und legte mich im Schlafsack darunter. Ich hatte die Plane mit Gewichten beschwert, aber der Wind war unberechenbar. So nahm ich bei dem anschließenden Platzregen ein ordentliches Bad. Fünf Minuten genügten, um den Schlafsack durchzunässen. Die Nacht war kühl, aber immerhin kam kein Regen mehr nach.
„Mit jedem Kilometer kehrt Friede bei mir ein“
Was das Gehen für mich bedeutet? Bei dieser Frage muss ich erneut schmunzeln. Wenn man sich zu Fuß durch das Land bewegt, nimmt man die Veränderungen der Landschaft deutlicher wahr als bei schnelleren Fortbewegungsmitteln wie Flugzeug, Bahn, Auto und Rakete. 2016 habe ich an den 104 Tagen so viele Impressionen gesammelt, die ich heute noch im Detail abrufen kann. Auch die Veränderung von mir selbst ist bemerkenswert. „Mir“ heißt nicht umsonst Frieden in einigen slawischen Sprachen. Mit jedem Meter, mit jedem Kilometer kehrt Friede bei mir ein, mit mir und meiner Umwelt. Man sollte jeden Schritt bedenken und mit jedem Schritt umsichtiger werden. Man erkennt die Bedeutungslosigkeit von so vielen Dingen, denen wir bisher verhaftet waren. Man wird frei und fi ndet so
Lösungen für Probleme, die vorher so belastend waren. Beginnt man dann noch, diese Gefühle auf Papier zu bringen, erkennt man die Welt völlig neu. Als ich 2020 nicht unterwegs sein konnte, hat mein Schreibgerät diesen Mangel ausgeglichen. Und doch werde ich neben meiner Seele auch immer den Körper in Bewegung setzen, sobald dies wieder ohne Corona-Einschränkungen möglich ist. Dann benötige ich wieder einen Gehstab (Wanderstock, Nordic-Walking-Stöcke usw.), um am Ende nach Köln zurückzukehren.
Wieder spüren lernen! Ben Grümer ist Bewegungscouch aus Köln� Für ihn geht es nicht nur um ein neues trainings- und Bewegungskonzept� Menschliche Fortbewegung betrifft doch alle Bereiche des lebens, meint der Barfuß-Experte�
BarFuss-und BeWeGunGscoach
FussFacts
Unterwegs sein Zum Nachdenken
Fotos: Georg Valerius B ewegung ist meine Leidenschaft, mein Hobby, mein Beruf, aber auch irgendwie mein Schicksal. Nach mehreren großen Verletzungen am linken Knie und vielen Zweifeln habe ich meine Perspektive nachhaltig verändert.
Wir Menschen bringen eigentlich alles evolutionär mit: eine robuste Haut, einen stark anpassungsfähigen Körper und Füße, die Meisterwerke der Fortbewegung sind - be ziehungsweise sein sollten. Sehr selten kommen Menschen mit Fußproblemen auf die Welt und trotzdem sind orthopädische Einlegesohlen in jedem Haushalt zu fi nden. „Nun ja…“, dachte ich mir. „Das ist erstmal etwas ziemlich Komplexes und nicht mal eben nur damit zu lösen, die Schuhe auszuziehen und ein paar Übungen für den dicken Zeh zu machen.“ Wirklich nicht? Vielleicht ja doch. Und zwar, wenn man Menschen Fähigkeiten wie das Spüren wieder vermittelt. Das ist nämlich Fortbewegung für mich! Fühlen, jeden Schritt an seine Umgebung angepasst und unterschiedlich setzen, mal langsam, mal zügiger, mal hinten auf der Ferse, mal vorne tastend mit den Zehen. Eben fl exibel, undogmatisch und individuell. So wie eine Reise, bei der man nicht genau weiß, wann und wo das Ziel nun kommt. Dazu darf natürlich Neugierde nicht fehlen. Mit ihr macht Unterwegssein viel mehr Spaß. (Ben Grümer, Bewegungscouch aus Köln – www.bare-movement.com) V on klein auf versuchen wir zu laufen. Wir robben, krabbeln und irgendwann stehen wir, wenn auch wackelig, auf unseren Füßen und wagen unsere ersten Schritte. Anfangs ist es eher ein Stolpern, aber irgendwann ist es für die meisten ähnlich selbstverständlich wie Atmen.
Später, wenn wir groß sind, ziehen wir aus und die Eltern sagen, dass man jetzt auf seinen eigenen Füßen stehen müsse. Dieser Satz impliziert Eigenständigkeit ebenso wie Verantwortung, aber auch Vertrauen, dass wir es schon schaffen, durchs Leben zu laufen, und auch, wenn wir mal ins Stolpern geraten, wir uns wieder fangen können, denn schließlich haben wir es als Kinder schon einmal geschafft. Dennoch denken wir kaum über unsere Füße nach.
Im Christentum hingegen hat Jesus die Füße seiner Jünger gewaschen, weshalb auch heute noch Priester, Bischöfe und der Papst Menschen die Füße waschen, als Zeichen dafür, dass kirchliche Ämter nichts mit Macht zu tun haben, sondern mit Dienen.
Im Buddhismus ist der Fußabdruck ein symbolisches Abbild für die Präsenz des Erhabenen und soll daran erinnern, zu belehren und gegebenenfalls zu erleuchten.
Aber auch in der heutigen Politik fällt immer wieder der Begriff des ökologischen Fußabdrucks. Er beschreibt, wie viele Hektar von Wald, Weide- und Ackerland sowie der Meeres fl äche notwendig sind, um die von Menschen verbrauchten Ressourcen zu erneuern.
Der Fuß bzw. Fußabdruck wird hier also eher als Verbildlichung von Werten genutzt, doch abgesehen davon sind Füße sehr wichtig für den Alltag. Sie haben 60 Knochen und machen damit ¼ unseres Skeletts aus, 33 Gelenke, 20 Muskeln, 114 Bänder und über 200 Sehnen. Die Füße werden jeden Tag belastet, wobei etwa 40 Prozent des Körpergewichts auf den Ballen lastet und die restlichen 60 Prozent auf den
Fersen. Sie dienen als wichtigstes Stützorgan für den Menschen und haben die Aufgabe der Abfederung, Stabilisation und das Halten des Gleichgewichts. Zusätzlich nehmen wir über unsere Füße viele Reize auf, weshalb der erste Gedanke, wenn man das Wort Fuß hört, zu einer Verbildlichung eines Ereignisses führt, welches barfuß erlebt wurde, wie zum Beispiel der Sand unter den Füßen am Strand. Unsere Füße sind also nicht „nur“ ein Sinnbild für Politik oder Religion, sondern helfen uns jeden Tag, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. (Aditya Cwielong)
corona und arMut EIn KOMMEnTAR VOn MIRIJAM GünTER
Die Armen sind die Hauptbetroffenen in der Coronakrise. Die jungen Leute in meinen Literaturwerkstätten dürfen schon wieder nicht in die Schule gehen. Das Lernprogramm, welches ihnen von den Schulen mitgegeben wird, ist nicht wirklich eins, wie mir mehrere Lehrer quer durch die Republik berichten.
Für die Aufgaben müssten größtenteils Rechner und Drucker vorhanden sein, eher selten anzutreffen bei ärmeren Schüler*innen zu Hause. Der Ausfall der Schule bedeutet für die Familien, die eh schon am Limit leben, eine weitere Katastrophe, fällt doch das kostenlose Schulessen weg.
Das hat verheerende Folgen, wie mir z.B. eine Lehrerin aus Niedersachsen berichtet, die einen Hilferuf ihres Schülers bekam, der mit seinen drei Geschwistern in einer Risikofamilie lebt. Für den Rest des Monats hatte die Familie noch acht Euro übrig. In diesem konkreten Fall half die Lehrerin aus, wer hat schon so ein Glück?
Da die Schule nicht stattfindet, hängen die jungen Menschen mit Kumpels draußen herum und fürchten sich, dass wieder eine komplette Ausgangssperre kommt, denn dann müssten sie mit ihren Geschwistern, mit denen sie sich meist ein Zimmer teilen müssen, in der Wohnung hocken. Ein Einzelzimmer gehört nicht zu den Privilegien der Unterschichtkinder. Wie sollen Kinder unter solchen Voraussetzungen bitte in Ruhe lernen?
Bildungsungerechtigkeit und soziale Not kommen bei der Coronakrise drastisch zum Vorschein. Wer kann es denn den jungen Menschen verdenken, dass sie sich draußen treffen? Einzelunterricht können sich die Eltern nicht leisten. Für das digitale Lernen haben die meisten Schüler*innen zu Hause nicht das Know-how und die Eltern können oft nicht beim Lernen helfen. Außerdem fehlt zu Hause auch der Platz und die Ruhe. Da ziehen es doch viele vor, draußen, sogar jetzt in der Kälte, herumzuhängen.
Während sich einige Jugendliche also nach draußen begeben, schuften die Eltern im Niedriglohnsektor, um zum Dank nach Feierabend in den ersten Wochen der Krise vor leeren Regalen im Supermarkt zu stehen. Für die angesagten Hamsterkäufe fehlte schlicht das Geld und die Zeit.
Bis heute dürfen sie sich dann abends vor dem Fernseher Reden von Politiker*innen und Prominenten anhören, die in völlig anderen Welten leben und die von dem Leben dieser Menschen keine Ahnung haben. Diese fernen Welten rufen dann zur allgemeinen Zurückhaltung auf, dass man sich von Leuten fernzuhalten habe und besonders auf Hygiene achten soll.
Schöne Reden für Leute, die genug Wohnraum haben, mit dem Auto zur Arbeit fahren, nicht in beengten Verhältnissen leben und auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind.
Schöne Reden mit immer aggressiverem Beiklang, um die Leute zum Beispiel zum Homeoffice zu überreden. Supermarktkassen lassen sich nicht im Homeoffice bedienen und Pflegehilfskräfte müssen vor Ort sein. Wie wäre es mal in diesen Berufszweigen mit der Aufstockung des Lohnes bzw. kostenlosem Taxiservice?
Es findet eine immer heftigere Verrohung der Sprache statt. Von Appellen ist nicht mehr die Rede. „Brutalstmöglich“, „mit aller Härte“, „kein Erbarmen“ sind Begrifflichkeiten, die immer wieder auftauchen, wenn irgendwas nicht so läuft, wie es die Elite in ihren fernen Welten sich so wünscht.
Oder Prominente, die Menschen beschimpfen, die sich ihrer Meinung nach nicht zügeln wollen. In den ersten Wintertagen sind viele Großstadtfamilien mit ihren Kinder in den Schnee gefahren. Entnervt von ihren Wohnungen, mit ihren Kindern, die nicht zur Schule dürfen, sie selbst im Homeoffice oder in nervenaufreibenden Jobs, haben sie sich dazu entschlossen, statt sich am Wochenende auf dem Sofa zu erholen, mit ihren Kinder oder auch allein in den Schnee zu fahren. In den Schnee!
Wenn man sich danach die Berichterstattung, aber auch die Äußerungen einiger Politiker*innen oder Prominenter anhörte, hatte man den Eindruck, die Eltern hätten mit ihren Kinder eine Koksparty veranstaltet. Der Ruf nach immer repressiveren Regeln, die der Staat aufstellen soll, teils auch von Leuten, die diesen mal abschaffen wollten, ist furchteinflössend. Wer soll das denn durchsetzen? Ist nicht jetzt schon so viel Polizei und Ordnungsamt unterwegs, dass man sich nicht mehr beschützt vorkommt, sondern mulmige Gefühle hat? Wissen denn die Leute, die da schreien, nicht, dass die immer härteren Regeln in erster Linie die Ärmsten der Armen treffen?
Auch die Verlängerung der zweiten Lockdownwelle wird die Ärmsten wieder härter treffen, mit allen Nachwirkungen. So traf ich im letzten Jahr, als ich endlich wieder meine Literaturwerkstätten anbieten durfte, einen stotternden Jugendlichen. Ein Problem, welches er eigentlich schon vor Jahren überwunden hatte. Nun war es wieder da. Und er ist nicht der Einzige. Pädagog*innen berichten mir von Kindern, die nach Jahren wieder einnässen, von Jugendlichen mit überwundenen psychischen Probleme, die wieder auftauchen, Essstörungen etc.
Besagter stotternder Junge war im ersten Lockdown elf Wochen nicht an der frischen Luft. Er hat keine Gleichaltrigen gesehen. Aus Angst, sich mit dem Virus anzustecken. Das hatte er selbst entschieden. Noch Monate später, als er mir das erzählte, merkte man ihm die Angst an.
Auch jetzt, im zweiten Lockdown, gibt es Eltern, die eigentlich ein Anrecht auf eine Notbetreuung ihrer Kinder in den Schulen hätten und aus einer ähnlichen Angst darauf verzichten. Stattdessen setzen sie ihre Kinder lieber stundenlang vor den Fernseher oder die Playstation und verhindern so jeglichen Kontakt. Auch das wird mir landauf, landab von Pädagog*innen erzählt. Wir brauchen uns nicht zu fragen, wer die Verlierer dieser Pandemie sein werden.
Irgendwann erreichte mich dann noch ein Notruf einer Förderschullehrerin. Einer Abschlussklasse wollte sie zum Abschied ein neues Buch schenken. Jeder sollte das gleiche Buch bekommen. Kostenpunkt knapp sieben Euro. In der Klassenkasse war seit langem Ebbe und die Eltern der Schüler*innen seit Monaten am Limit. Wir reden von einem neuen Buch, welches Schüler*innen zum Abschied ihrer Schullaufbahn als Erinnerung geschenkt bekommen sollten. Wenn man überlegt, was Abiturfeiern kosten oder so manche Abschiedsfahrt, kann man nur wütend werden über die Ratschläge, die einen so ereilten. Man solle das Buch doch kopieren oder gebrauchte Exemplare sammeln. Kurzerhand machten ein paar Autor*innen, Kinder und Journalist*innen in einem Kölner Park an zwei Tagen eine Benefizlesung. Und was war das Resultat? Es reichte noch für fünf andere Klassen. So geht Solidarität.
Mirijam Günter – in Köln und in vielen anderen, beinahe genauso schönen Städten aufgewachsen, absolvierte an mehreren Stationen letztlich erfolgreich die Hauptschule, gekrönt von einem Realschulabschluss. Nach für alle Beteiligten deprimierenden Versuchen, durch das Erlernen eines ordentlichen handwerklichen Ausbildungsberufs im normalen Leben zu landen, entschied sie sich endlich, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen – und zu schreiben. Und das äußerst erfolgreich: Für das Manuskript ihres Debütromans ‚Heim‘ erhielt sie 2003 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Seit 2006 bietet Mirijam Günter Literaturwerkstätten an. Das sind Projekte, bei denen sie mit zumeist jugendlichen Schüler*innen oder Straftäter*innen lyrische Texte oder einen (Jugend-)Roman liest – je nach Dauer des Projekts – und sie dann zu einem Gruppengedicht führt, das gemeinsam präsentiert wird. Foto: Simon Veith