5 minute read

Zweirad-Fan ohne Obdach

Fotos: Privat

VON LINDA RENNINGS

Advertisement

Ein Fahrrad ist für Obdachlose weniger Statussymbol als eine optimale Transportmöglichkeit oder gar ein kleiner Ersatz für das fehlende Zuhause. Es kann – gerade mit einem Anhänger oder zwei Fahrradtaschen – eine Menge Lasten schleppen. Man kommt schnell von A nach B, ohne ein Ticket lösen zu müssen. Es ermöglicht sogar Abstand zu halten, wo man das möchte. Und es garantiert Unabhängigkeit. Wir haben mit Dieter H. gesprochen, der zeitweise auf der Straße lebt und ihn gefragt, wie seine Beziehung zum Rad aussieht. Und haben festgestellt, dass die Drahtesel-Liebe genauso groß ist wie bei allen anderen Bürgern auch.

Der 55jährige Dieter H. kommt ursprünglich aus Bayern, gilt aber fast schon als ein waschechter Kölner. Zusammen mit seiner Mutter und seinen sechs Geschwistern kam er vor 53 Jahren nach Köln und wurde, wie auch die anderen, ins Heim gegeben. Seinen Vater kennt er nicht. Als seine Mutter etwas später ihren zweiten Mann kennenlernte, durften alle Kinder aus dem Heim wieder nach Hause. Zunächst war die Familie wieder komplett, doch als die Kinder älter wurden, setzte der Stiefvater sie auf die Straße. So kam Dieter mit 15 Jahren erneut ins Heim, wo er zumindest regelmäßige Versorgung hatte, die er von zu Hause nicht kannte: Dort hat es ihm zufolge mehr Prügel als Essen gegeben.

Maßnahme: Fahrradwerkstatt

Mit 16 Jahren fing er dann eine Ausbildung zum Zimmermann an, die er jedoch zwei Jahre später abbrach. Als er volljährig wurde, ging er erst mal seinen eigenen Weg und lernte so die verschiedensten Szenen der Großstadt kennen. So kam er auch irgendwann an Drogen. Dieter war zu dieser Zeit schon obdachlos und schlug sich mit verschiedenen

Jobs durch. Oft waren es Maßnahmen, über die er irgendwann auch zur Kölner Zweiradwerkstatt „180 Grad“ kam. Dort fi ng er 2001 einen 1,30 Euro-Job an – und damit begann seine Liebe zum Fahrrad. Er lernte schnell und wusste bald, wie er ein Rad in seine Einzelteile zerlegen und auch wieder zusammenbauen konnte. Die Arbeit an den Schaltungen machte ihm besonders Spaß, so viel, dass er sogar darüber nachdachte, eine Gesellenprüfung zu machen, sich aber am Ende dagegen entschied. Eine Entscheidung, die er heute bereut. Das Programm von damals gibt es nicht mehr.

Mit 15 Jahren das erste Rad

Statt weiter mit Rädern zu arbeiten, geriet Dieter tiefer in die Drogenszene und versuchte wieder, sich mit verschiedenen Jobs über Wasser zu halten. Doch es gab zwei Probleme: Zum einen fi el es ihm schwer, morgens früh aufzustehen, und zum anderen war er ein ausgemachter Nachtmensch. Als er noch in der Radwerkstatt gearbeitet hatte, konnte er immer erst um 10 Uhr anfangen. Das hatte besser funktioniert. Zur damaligen Zeit hatte er auch einen Einblick in den Verkauf bekommen. Insgesamt hat er fünf Jahre in der Maßnahme gearbeitet – und ist in all den Jahren immer pünktlich auf der Arbeit gewesen.

Vor allem die Technik in den Rädern faszinierte ihn. Im Laufe seiner Obdachlosigkeit stellte er außerdem fest, wie nützlich ein Rad auch sein konnte. Unter anderem kam er damit von A nach B, wenn er kein Fahrgeld mehr hatte, und er kam nicht mehr zu spät zu einem Termin. Er war nicht mehr auf irgendetwas oder irgendjemanden angewiesen und konnte darüber hinaus das ein oder andere auch für andere problemlos via Rad transportieren, beispielsweise Wasser. Oft half er Freunden mit dem passenden Anhänger beim Umzug oder brachte Wasser zu den verschiedensten Schlafplätzen. Auch heute, abseits der Maßnahme, repariert er weiter Fahrräder. Meistens gegen Sachmittel, also das, was er gerade am dringendsten braucht. Oft für andere Obdachlose oder Menschen, die auch nicht viel haben. Er nimmt nie Geld dafür und so hat sich sein Angebot herumgesprochen.

Der Radexperte aus Mülheim

Mittlerweile kommen auch andere, die er nur fl üchtig kennt, und fragen ihn, ob er nach ihrem Rad schauen könnte. Und er kann. Denn Dieter hat sich mit der Zeit einiges an Werkzeug zugelegt, das er immer in seinen Satteltaschen dabei hat. In der Szene in Mülheim ist er als RadExperte bekannt.

Seit 25 Jahren ist Dieter ausschließlich mit dem Rad unterwegs und sagt, für ihn gebe es nichts Besseres. Mit einem Auto kann er sich gar nicht vorstellen, genauso mobil zu sein, zumal er nie nach Parkplätzen schauen oder Parkgebühren zahlen muss. Selbst durch die kleinste Lücke kommt er durch – wenn er keine Anhänger dabei hat. Und wenn sein Hund mal alt und gebrechlich ist, kann er auch diesen ganz einfach transportieren, sagt er oft.

Zur Zeit hat er in den Anhängerklappen sein gesamtes Hab und Gut dabei. Er ist zwar nicht immer auf der Straße und organisiert sich Schlafmöglichkeiten, doch mit einer Wohnung will es nicht so wirklich klappen. Zwar hatte er mal eine für kurze Zeit, doch nun schaut er, dass er Dinge bei Freunden lagern kann. Vor allem seine Papiere.

Selbstständigkeit bewahren

Sein größter Traum wäre es, weiter regelmäßig Räder zu reparieren, auch für Privatleute. Als Gegenleistung wünscht er sich Sachmittel oder ein kleines Geld, was ja immer knapp ist. Auch könnte er sich vorstellen, eine Art RadSprechstunde zu machen, zu der die Menschen dann kommen und ihr Fahrrad reparieren lassen könnten oder von ihm zusätzlich Tipps bekommen, welches Schloss das Richtige ist, etc.

Er selber kann sich jedenfalls nicht mehr vorstellen, ohne Fahrrad zu sein, und bis heute hat er einen guten Kontakt zu „180 Grad“ und geht mit Interessenten oft dorthin, um sie zu beraten. In der Szene gilt er als Ruhepol und Schlichter, der immer bestens informiert ist. Und ganz nebenbei macht er ja auch noch was für das Klima und regt viele an, es ihm gleich zu tun. Vor allem hilft er gerne Obdachlosen dabei, ein Rad zu bekommen, damit sie selbständig bleiben. Die Hoffnung, doch noch irgendwie in einer Fahrradreparaturwerkstatt arbeiten zu können oder noch mehr Aufträge zu bekommen, hat Dieter noch nicht ganz aufgegeben: „Das wäre genau meins.“

Grafi k: macrovector / freepik.com