Deutsche Oper Berlin: IL TEOREMA DI PASOLINI

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Il Teorema di Pasolini

Il Teorema di Pasolini

Giorgio Battistelli [*1953]

Musiktheater in zwei Teilen Libretto von Giorgio Battistelli in Zusammenarbeit mit Ian Burton nach Pier Paolo Pasolini

Uraufführung am 9. Juni 2023 in der Deutschen Oper Berlin

Zum Geleit

Ich bin überzeugt, dass „Teorema“ eines der fundamentalen Werke im literarischen Schaffen Pasolinis ist, und mich hat nicht der Film, sondern der Roman zu meiner Oper inspiriert. Wie Pasolini selbst ausgeführt hat, handelt es sich um ein Werk, das eher die Natur eines Berichts als die einer Erzählung besitzt. In technischer Hinsicht heißt das, dass „Teorema“ eher ein Gesetz als eine Botschaft formuliert. Wir haben hier keine realistische Erzählung, sondern eine Parabel. Bericht, Gesetz, Parabel also. Zugleich jedoch sagt uns Pasolini, dass „Teorema“ eine religiöse Erfahrung sei: Der Gast ist gekommen, um zu zerstören. Aber was für eine Zerstörung bringt er? Wird es eine totale Zerstörung sein oder nur der Umsturz einer trügerischen Ordnung, die durch Schmerz und Qualen versucht, zu einem neuen, anderen Leben zu finden?

Auf den ersten Blick scheint es, dass dieses Werk folgende Moral verkündet: Was auch immer eine bürgerliche Familie tut, ist falsch. 1968 jedoch, als Pasolini „Teorema“ veröffentlichte, war diese Gesellschaft in Veränderung. Die ganze Welt wurde damals kleinbürgerlich. Deshalb hat die Geschichte sozusagen ein offenes Ende. Am Schluss steht eine Art Schrei, der in seiner völligen Irrationalität dieses offene Ende verkörpert. „Was auch immer dieser Schrei bedeutet, er wird jedes mögliche Ende überdauern“, lautet der letzte Satz der Oper. Im Film steht dieser Schrei für ruhelose Verzweiflung oder verzweifelte Unsicherheit, die immer weitergehen wird. Er steht nicht für Gewalt im Sinne eines Tragödienschlusses, sondern für den roten Faden, der diese Geschichte mit all dem verbindet, was kommen wird, was auf uns wartet, ohne dass wir es heute schon deuten können.

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Zum Geleit

Handlung

Erster Teil

Eine Familie aus dem großbürgerlichen Milieu sitzt am Mittagstisch. Sie besteht aus Paolo, dem Vater, Lucia, der Mutter, Pietro, dem Sohn, und der Tochter Odetta. Die Hausangestellte Emilia trägt das Essen auf, als ein Telegramm gebracht wird. Es verkündet für den nächsten Tag die Ankunft des Gastes.

Der Gast liest im Garten, während Emilia den Rasen mäht. Nachdem Emilia den Gast lange angestarrt hat, stürzt sie in die Küche und versucht, sich umzubringen. Der Gast rettet sie und bringt sie auf ihr Zimmer. Dort geben sich die beiden einander hin.

Pietro und der Gast schlafen im selben Zimmer. Pietro geht zum Bett des Gastes hinüber und zieht langsam dessen Bettdecke herunter. Als der Gast erwacht, bemerkt er Pietros verschämtes Begehren und legt sich zu ihm.

Auch Paolo kann nicht schlafen und öffnet die Tür zum Schlafzimmer seines Sohnes. Er sieht Pietro und den Gast im gleichen Bett schlafend.

Zurück im ehelichen Schlafzimmer, weckt Paolo Lucia und nötigt sie zum Sex.

Pietro und der Gast sind in Kunstbände vertieft. Der Gast rezitiert ein Gedicht.

Im Garten entdeckt Lucia die Kleider des Gastes. Auch sie entkleidet sich und wartet auf seine Rückkehr.

Während Paolos Krankheit erlebt Odetta ihren angebeteten Vater als schwach.

In ihrem Zimmer wird auch Odetta vom Gast verführt.

Paolo und der Gast machen einen Ausflug ans Flussufer. Sie finden zueinander.

Wieder sitzt die Familie am Mittagstisch. Ein Telegramm verkündet die Abreise des Gastes für den kommenden Tag.

Zweiter Teil

Nach der Abreise des Gastes versuchen Odetta und Pietro jeder für sich, das Geschehene zu verstehen. Odetta zerbricht daran.

Wie eine Asketin verweigert Emilia nahezu jegliche Nahrungsaufnahme.

Pietro versucht sich als Künstler. Doch er hadert damit, keine eigene Ausdruckssprache zu finden, und verlässt die Familie.

Lucia versucht, durch enthemmten Sex ihrem Dasein einen Inhalt zu geben.

Emilia fährt gen Himmel auf. Wieder am Boden, begräbt sie sich in der Erde.

Paolo beschließt, alles hinter sich zu lassen. Auf bloßen Füßen geht er auf ein neues Leben zu.

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Kein Auto zu haben und nicht in einer Paarbeziehung zu leben, kann heute, wo es allgemeine ‚Pflicht‘ ist, ein Auto und eine Paarbeziehung zu haben [janusköpfiges Monster der Konsumgesellschaft], nur als großes Unglück, als unerträgliche Frustration gelten. Die heterosexuelle Liebe, die so unumschränkt erlaubt ist, dass sie schon in Zwang ausartet, hat sich zu einer Art ‚gesellschaftlicher Erotomanie‘ entwickelt. Darüber hinaus wird diese sexuelle Freiheit nicht etwa von unten her gefordert und durchgesetzt, sondern von oben herab zugestanden.

Pasolini, aus „Das Gefängnis und die Brüderlichkeit der homosexuellen Liebe“

Ein musiktheatralischer Kosmos Anmerkungen zu Giorgio Battistelli

Max Nyffeler

Giorgio Battistelli, gerade siebzig Jahre alt geworden, ist einer der fruchtbarsten Komponisten auf dem Gebiet des Musiktheaters und sein Einfallsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen. Auf seiner Webseite sind gegenwärtig dreißig Werke aufgelistet, und schon ihre Titel verraten eine ungewöhnliche Vielfalt an Themen und Formen. Das Spektrum reicht von der multimedialen Kleinform über das halbszenische Konzert bis zur abendfüllenden Oper mit großer Besetzung, von der leichtfüßigen Satire bis zum schwergewichtigen Musikdrama. Die Stoffe bezieht Battistelli aus der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart, aus Film und Theater, und stets ist ihnen ein Überschuss an eigener Fantasie beigegeben, der für eine zusätzliche Färbung, einen überraschenden spin sorgt – das Adjektiv „extravagant“ ist für seinen Ideenreichtum nicht zu hoch gegriffen. Zur Illustration dieses Befunds einige Schlaglichter in chronologischer Folge auf Battistellis vielfältiges Werk:

KEPLERS TRAUM [1990, Linz] für Schauspieler, zwei Sänger und Ensemble mit einem in die Handlung einbezogenen Flötisten ist ein fantastisches Bühnenmärchen mit experimentellen Zügen. Battistellis Libretto basiert auf einer Traumnotiz von Johannes Kepler, der sich darin ausmalt, wie das Leben auf der Rückseite des Mondes wohl aussehen könnte.

CHANSON DE GESTE [1990, Mailand] für Harfe, Schlagzeug, Tonband und zwei vom Mailänder Studio Azurro produzierten Videos, beschreibt den Kampf zwischen Hektor und Achilles. Der Titel bezieht sich auf die mittelalterliche Gattung der gesungenen Darstellung ritterlicher Kämpfe. Die beiden Spieler reagieren auf die Videos und folgen dabei einer Partitur, die auch der Improvisation Raum lässt. Battistelli interessierte hier die Interaktion zwischen einer nicht­illustrativen Musik und Video.

In der experimentellen Erstfassung von TEOREMA [1990, München], komponiert für stumme Schauspieler, einen Sprecher und Ensemble, erscheint ein Engel. Er ist kein Retter, sondern ein Zerstörer, denn er zerlegt die bürgerliche Familie und ihr verlogenes Weltbild.

PROVA D’ORCHESTRA [1995, Strasbourg], basierend auf dem gleichnamigen Film von Federico Fellini, ist eine böse musiktheatralische Parabel auf die nicht funktionierende Autoritätsstruktur Dirigent–Orchester und, verallgemeinert, auf eine heillos zerstrittene Gesellschaft; die Konflikte münden am Schluss in eine Katastrophe. Mit dem Untertitel „Sei scene musicali di fine secolo“ [„Sieben

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Szenen vom Ende des Jahrhunderts“, aber auch „vom Ende der Welt“ oder „vom Ende des Zeitalters“] weckt Battistelli apokalyptische Assoziationen.

In IMPRESSIONS D’AFRIQUE [2000, Florenz] für neun Schauspieler, zwei Mimen, Männerchor, Orchester und Sampler lässt Battistelli seiner musikalischen und szenischen Fantasie freien Lauf. Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Buch des frühen Avantgardisten Raymond Roussel über ein imginäres Afrika. Ergänzende Texte stammen von Dickens, Morgenstern, Rabelais, Tasso und Umberto Saba. Eine der Sprechrollen ist Jules Verne.

Musicalhafte Leichtigkeit, gemischt mit einem Schuss surrealer Komik inklusive Angstfantasien bietet THE FASHION [2007, Düsseldorf] für zwölf Gesangsrollen und Tänzer unter Mitwirkung von Friseuren, Visagisten und mindestens sieben Models. Das Stück beginnt mit dem Allerwelts­Smalltalk im Hotel Fünf Jahreszeiten: „Good morning“ – „Good morning“ – „ What’s he so happy about?“

– „ He’s in love.“ – „Oh dear!“ Dann: Ankunft der Mailänder Modedesignerin, die im Ballsaal die neue Kollektion mit Fischmotiven präsentieren will, ein Star­ Dressman, der nicht erscheint, und ein Auftritt des Zimmermädchens Meli, das im letzten Moment als männliches Model einspringt und sich nun in Mel verwandelt. Auch der Hotellift singt, er ist ein Countertenor.

MIRACOLO A MILANO [2007, Reggio Emilia], frei nach einer Erzählung von Cesare Zavattini und dem gleichnamigen Film Vittorio De Sicas, erzählt vom Zusammenprall der Kulturen in einer Megacity. Unter dem Slum der Großstadt wird ein Ölvorkommen entdeckt, die Regierung will die Interessen des Ölkonzerns durchsetzen, doch nun erscheinen zwei Engel und erfüllen die Wünsche der Armen: Hier ein Mantel oder ein Fernseher, dort ein Kühlschrank, und auf einen Schlag sind die Häuser voll davon. Als draußen die Polizei anrückt, verschwinden die Bewohner mit Hilfe der Engel am Himmel. Ein Stück Utopie im Leben der Underdogs, erzählt als Märchen aus der Jetztzeit.

DIVORZIO ALL’ITALIANA [2008, Nancy]: Die vom gleichnamigen Film –deutscher Titel: „Scheidung auf Italienisch“ – von Pietro Germi inspirierte „Azione musicale“ über den Streit zweier Adelsfamilien ist eine ironische Abrechnung mit den versteinerten Sitten im Sizilien der 1950er Jahre; Battistelli sorgt schon auf der konzeptionellen Ebene für eine groteske Überzeichnung der Situation, indem er – mit Ausnahme von Angela, der Heiratstrophäe, um die sich alles dreht – auch die weiblichen Hauptrollen ausschließlich mit Männerstimmen besetzt.

IL MEDICO DEI PAZZI [Der Arzt der Verrückten, 2014, Nancy], eine „Azione musicale napoletana“ nach der gleichnamigen Komödie von Eduardo Scarpetta, zieht eine Verbindungslinie von den ekstatischen Tänzen im alten Neapel zu den Verrücktheiten unserer Tage.

Das Rätselhafte und Wunderbare

Manche Stoffe aus Battistellis Musiktheaterkosmos sehen auf den ersten Blick nicht unbedingt bühnenwirksam aus. Doch versteht er aus jeder Vorlage etwas zu machen, das Auge und Ohr zu fesseln vermag und den Geist in Bewegung setzt, sei es durch eine ungewöhnliche Besetzung, durch die Montage heterogener Materialien oder durch Hinzufügung von Fremdelementen, die im Werk einen mal rätselhaften, mal komischen Akzent setzen – surreale Begebenheiten, die sich oft einer schöpferischen Laune des Komponisten verdanken. Über das rein Anekdotische hinaus kommentieren sie die Thematik in der Art eines

Verfremdungseffekts oder werden selbst Bestandteil der Handlung. Beispiele dafür sind etwa der absurde Einfall mit dem singenden Fahrstuhl in THE FASHION, der singende Tod als Doppelgänger des Protagonisten in DER HERBST DES PATRIARCHEN [nach Gabriel García Márquez], der Flötenspieler in KEPLERS TRAUM, der dem erzählenden Dämon auf der Bühne als Schatten beigesellt wird, oder die Engel als Boten des Glücks in MIRACOLO A MILANO. Solche Momente markieren den Einbruch des Wunderbaren in die Welt, wie sie sich für uns darstellt. „Ich glaube stark daran, dass unsere Realität nur eine vorübergehende ist, eine von vielen, in denen wir uns bewegen. Es gibt sicher noch andere“, sagt Battistelli. „Mir gefällt die Idee von diesen Boten, die uns in Kontakt mit anderen, geistigen Dimensionen bringen. Diese Gedanken sind vielleicht für die einen der Glaube, für die anderen vielleicht eher etwas Meditatives oder Philosophisches. Ich denke, der Glaube ist heute eine Dimension von größter Bedeutung.“

Die Polyphonie der Moderne

Giorgio Battistelli ist überzeugt von der Aktualität und Wirkungskraft des Musiktheaters. In dieser Gattung sieht er die Möglichkeit, die heutige Wirklichkeit in ihrer Undurchschaubarkeit mit künstlerischen Mitteln darzustellen, so bruchstückhaft das auch immer nur gelingt. Die große Unruhe unserer Gegenwart, sagt Battistelli, beruhe auf unserem Unvermögen, die vielen unterschiedlichen Realitäten von heute noch auf einen Nenner zu bringen. Stattdessen hätten wir ein Durcheinander geschaffen und eine Harmonie zwischen den verschiedenen Realitäten herzustellen sei unmöglich geworden. In diesen verschiedenen Wirklichkeiten müsse sich der heutige Künstler zurechtfinden.

Für Battistelli bildet das Konzept der Moderne deshalb eine Polyphonie. Ihre Struktur ist nicht monodisch, also eindimensional, sondern bildet ein Zusammenwirken von vielen Faktoren, die sich überlagern. Aber er grenzt sich scharf ab vom Eklektizismus, und mit dem Begriff der Postmoderne kann er nichts anfangen. Die Aufgabe des Künstlers, sagt er, bestehe darin, sich Rechenschaft abzulegen über die Realität, in der wir leben, und er folgert: „Es gibt nicht nur eine Art, sondern viele Arten, musikalisch zu denken. So wie es viele Arten gibt, unsere Welt zu sehen.“

Zum Beispiel vom Mond herab. In der erwähnten Kammeroper KEPLERS TRAUM bezieht sich die Erzählung auf eine Schrift des Astronomen Johannes Kepler, in der dieser eine Reise auf den Mond imaginiert, von dort aus die Erde betrachtet und die Rückseite des Mondes erforscht. Kepler packte das Ganze 1609 in eine Erzählung mit dem Titel „Somnium oder der Traum vom Mond“. Die wissenschaftlich gesicherten Tatsachen über den Himmelskörper ergänzte er mit zahlreichen fantastischen Einzelheiten; sie lesen sich wie ein Expeditionsbericht aus einem der damals neuentdeckten Kolonialreiche, mit Beschreibungen der Böden, des Klimas und der dortigen Lebewesen. Was aus heutiger Sicht kurios klingt, stellte zu Keplers Zeiten einen Sprung ins Leere, Ungesicherte dar. Die Erde von außerhalb zu betrachten, dabei den Mond als Standort zu benutzen und das Ganze als fantastische Vision zu verpacken: So etwas musste damals schlechthin revolutionär wirken. Für Battistelli war es eine Steilvorlage, seine Bühnenfantasie sprang sofort darauf an. Er machte daraus ein Vierpersonenstück mit Charakteren, die zwischen mittelalterlichem Aberglauben und beginnender Aufklärung angesiedelt sind. Zauberei und Wissenschaft, Traum und Wirklichkeit verschwimmen – ein Zwischenreich, wo die künstlerischen Fantasien geboren werden.

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Ein musiktheatralischer Kosmos

Am Beispiel von KEPLERS TRAUM erläutert Battistelli, was ihn an einem Stoff fasziniert. Eine Geschichte für sich allein genommen findet er nicht so spannend. Doch fühlt er sich sofort angesprochen, wenn sie einen Sprung in eine andere Dimension ermöglicht – musikalisch, gedanklich, theatralisch – und sich zu neuen Bildern oder zum Tanz hin öffnet. Sie muss beweglich sein, über sich und damit über die bestehende Wirklichkeit hinausweisen.

Battistelli und die italienischen Traditionen

Bei allen Extravaganzen sind Battistellis Ideen, so schräg sie manchmal erscheinen, immer zuverlässig geerdet; mit dem Instinkt des lebenszugewandten Praktikers gelingt es ihm, den Kern einer jeden Geschichte auf spezifische Weise zu gestalten und in theaterwirksame Formen umzusetzen. Unabdingbar ist für ihn dabei eine klare Narration, die auch noch in den mehr experimentellen Formen einen Dialog mit dem Publikum ermöglicht. Ein theoretischer Überbau, den man erst studieren muss, eine negative Ästhetik und jede Art von intellektueller Spitzfindigkeit liegen ihm fern. Die Werke sollen den Weg zum Publikum über die direkte sinnliche Wahrnehmung finden, was Komplexität auf klanglicher oder konzeptueller Ebene aber keineswegs ausschließt.

Das hat zweifellos mit Battistellis italienischer Herkunft zu tun. Geboren 1953 in Albano bei Rom, studierte er Klavier und Komposition am Konservatorium in L’Aquila und war mit einundzwanzig Mitbegründer der Experimentalgruppe „Edgar Varèse“ und Mitglied der Gruppe „Beat 72“ in Rom. Großen Einfluss hatten auf ihn Komponisten wie Luciano Berio, Luigi Nono und Hans Werner Henze. Letzterer lud ihn Anfang der neunziger Jahre ein, die Leitung des Cantiere d’arte, der Kunstbaustelle in Montepulciano zu übernehmen, was für ihn einen wichtigen Schritt in seiner künstlerischen Entwicklung bedeutete. Er lernte, aus der isolierten Existenz des Autors auszubrechen und die Arbeit des Komponisten in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Heute ist er ein gesuchter Programmmacher bei italienischen Operntheatern und Sinfonieorchestern. Mit seiner praxiszugewandten Arbeitsweise repräsentiert Battistelli einen Komponistentypus, der in seiner Heimat Italien vermutlich häufiger anzutreffen ist als nördlich der Alpen. Musik war für ihn nie primär ein Resultat der Reflexion über das Material. Deshalb musste er auch nie nach einem Ausweg aus dem theorielastigen Komponieren suchen, sei es durch die Vertonung politischer Bekenntnisse, sei es durch den Ausdruck subjektiver Befindlichkeiten. Und Haltung zeigen durch moralische Appelle war ohnehin nie seine Sache. Sein Ausgangspunkt war immer die kritische Welterfahrung, die distanzierte Beobachtung der inneren und äußeren Wirklichkeiten, wie sie sich in der Gegenwart, aber auch in den großen Kunstwerken der Vergangenheit manifestieren. Darin ist er Luigi Nono verwandt, der in seiner Spätphase zum vehementen Gegner des theorielastigen Komponierens wurde und erklärte, Grundlage der künstlerischen Arbeit sei nicht eine kompositionstechnische oder weltanschauliche Vorgabe, der man Genüge tun müsse, sondern die lebendige Realität, die es zu analysieren gelte. Daraus können dann auch die geistigen Höhenflüge hervorgehen, die für Nonos Spätwerk und, in ganz anderer Weise, für Battistellis fantastische Erfindungen charakteristisch sind.

In diesem induktiven Vorgehen schwingt vielleicht noch etwas mit vom alten Erbe der italienischen Renaissance: das beobachtende Experimentieren der

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großen Entdecker und Erfinder, die keine faustischen Buchgelehrten, sondern Naturforscher, Erfinder, Künstler und Visionäre in Personalunion waren.

Dieser Wirklichkeitsbezug ist der Nährboden für Battistellis Musiktheater. In der Form des spettacolo, als ein allgemein sichtbares, aussagekräftiges Spiel auf der Bühne, bringt es das Leben in allen seinen Facetten zur Darstellung. Taten, Schicksale und Träume der Menschen werden in konkreter Anschaulichkeit vorgezeigt und mit dem ganzen Erfahrungsschatz der Geschichte in Beziehung gebracht.

Der Cittadino

Beispielhaft für dieses strikt gegenwärtige und zugleich die Grenzen der Gegenwart sprengende Darstellungsverfahren steht die Komposition EXPERIMENTUM MUNDI, ein Solitär in jeder Hinsicht. Das Werk für einen Schauspieler, fünf Frauenstimmen, sechzehn Handwerker und einen Schlagzeuger aus dem Jahr 1981 kann als Prototyp für Battistellis gesamtes Bühnenschaffen betrachtet werden, und zugleich zeigt sich darin in aller Klarheit seine Verwurzelung in der italienischen Kultur.

Alles, was in seinen späteren Stücken auf die Bühne kommt, ist hier schon überdeutlich vorhanden: der Realismus – hier sogar ein Hyperrealismus – der Darstellung, eine scheinbar unmögliche Kombination völlig heterogener Elemente und eine Gleichzeitigkeit von kollektiver Erinnerung und ekstatischer Gegenwartserfahrung – eine Feier menschlicher Schöpferkraft; Rückblick und utopischer Ausblick halten sich die Waage.

Die Protagonisten in dieser „Opera di musica immaginistica“ sind Handwerker aus Battistellis Heimatdorf Albano Laziale: Pastamacher, Schuster, Maurer, Werkzeugmacher, Steinmetz, Tischler, Küfer, Scherenschleifer… Sie und alle anderen zeigen auf der Bühne genau das, was sie zu Hause im realen Leben auch machen. Oder gemacht haben. Denn viele dieser handwerklichen Fertigkeiten, in der bürgerlichen Ära einst Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, sind heute, im Zeitalter von Roboter und Massenanfertigung, dem Untergang geweiht. Ihre Apotheose auf der Theaterbühne wird indes befeuert durch einen Sprecher, der zur komplexen Polyphonie der Arbeitsgeräusche die Beschreibung der Tätigkeiten und Werkzeuge aus Diderots „Encyclopédie“ vorträgt. Und je nach Lautstärkepegel flüstern, raunen und schreien gelegentlich auch fünf Frauen männliche und weibliche Vornamen in die Geräuschsinfonie hinein. Sie klingen wie magische Beschwörungen. Ein Schlagzeuger verdichtet die Arbeitsgeräusche, Battistelli dirigiert. Die Truppe hat mit dem Stück schon die ganze Welt bereist, mehrere Handwerker­ Darsteller sind bereits in der zweiten Generation vertreten.

Dieses spettacolo bringt italienische Lebensart in Reinkultur auf die Bühne und begeistert jedes Publikum. Bei den Premierenfeiern, wenn die Handwerker den Gästen den mitgebrachten Wein, Käse und Schinken aus Eigenproduktion offerieren, geht es dann weiter, mit Giorgio Battistelli, dem Cittadino aus Albano Laziale, mittendrin. Eine Steigerung erfuhr diese Szene nach der Aufführung im Almeida Theatre in London 1996, als der Pflasterleger Antonio Innocenzi während der Premierenfeier auswendig einige Strophen aus „Dantes Commedia“ rezitierte. Mehr Italianità geht nicht.

Das Motiv der Erinnerung durchzieht Battistellis gesamtes Schaffen. Es zeigt sich auch in seinem historischen Bewusstsein und prägt sein Traditionsverständnis.

In einem Beitrag für das Darmstädter Theater schrieb er 1997 unter dem Titel „Bemerkungen über die Dramaturgie von Aug‘ und Ohr“: „Die tiefe Verbindung mit unserem kulturellen Erbe von Monteverdi bis Mozart, von Mozart bis Rossini, von Rossini bis Wagner, von Wagner bis Strauss, von Strauss bis Berg erlaubt uns, schöpferisch tätig zu sein, die innere Kraft dieser Tradition zu verstehen und eine eigene Vorstellung zu realisieren. Diese produktive Auseinandersetzung befähigt uns, neue mögliche Formen des Hörens und Sehens auszuprobieren.“

Tradition als Motor der Erforschung neuer Wahrnehmungsformen und Wirklichkeiten. Dazu gehört bei Battistelli neben den äußeren und den fantastischen Wirklichkeiten auch die der Innenwelt. Bei seinen Erkundungen der menschlichen Psyche mobilisiert er gerne den großen Orchesterapparat und bringt zudem das Schlagzeug, eines seiner Lieblingsinstrumente, in großem Umfang zum Einsatz. So etwa im HERBST DES PATRIARCHEN, wo das erbärmliche Ich des ordinären Machthabers durch eine gefährlich schillernde Musik bis in die letzten Einzelheiten durchleuchtet wird. Oder in RICHARD III ., dem abendfüllenden „Dramma musicale“ nach Shakespeare: Hier zeichnet die Musik ein furchterregendes Porträt des kranken Gewalttäters auf den Königsthron. In beiden Werken konfrontiert die Erinnerung, diese unbeherrschbare innere Kraft, die herrschsüchtigen, an die Gegenwart geketteten Figuren unbarmherzig mit ihrer eigenen Zeitlichkeit; der Patriarch hantiert zwanghaft mit Erinnerungszettelchen, König Richard wird vor seinem Tod in Gedanken von den Geistern seiner Opfer heimgesucht.

Im Orchesterstück „Afterthought“ von 2005 erinnerte sich Battistelli an das im Jahr zuvor uraufgeführte Bühnenwerk RICHARD III. Die Erinnerung an den theatralischen Wüstling verknüpfte er mit dem Blick auf den realen Schrecken der Gegenwart, die damals aktuellen Bombenanschläge in London. Mit der Durchdringung der Zeitebenen ist ein völlig neues Stück entstanden, in dem der Horror aus RICHARD III. in verwandelter Form musikalisch wieder auflebt.

In dem 2002 in Mannheim uraufgeführten Bühnenwerk AUF DEN MARMORKLIPPEN [Untertitel: „Musikalische Visionen nach dem Roman von Ernst Jünger“] tritt der Erzähler als „Stimme der Erinnerung“ auf. Er verortet das Geschehen in der Vergangenheit und unterstreicht damit den reflexiven Charakter des Werks. Es ist ein Protokoll des unausweichlichen Niedergangs einer Zivilisation, die sich in ihrer Naturfreunde ­ Idylle gemütlich eingerichtet hat und sich nicht zu wehren weiß gegen die heimtückische Unterwanderung und schließlich Zerstörung durch die Truppen eines gewalttätigen Aggressors. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“: Die Erkenntnis aus Schillers „Wilhelm Tell“ könnte als Motto über dieser machtpolitischen Parabel stehen, die heute, im Jahr zwei des Ukrainekriegs, plötzlich eine beklemmende Aktualität erhält.

In solchen Chiffren des Bösen – in der individuellen Gestalt beim PATRIARCHEN und bei RICHARD III. und in politischer Form beim Stoff von Jünger – leuchtet Battistelli tief in das Dunkel der menschlichen Psyche hinab, und die Verknüpfung mit dem Erinnerungsmotiv erweist sich dabei als probater Kunstgriff. Hier zeigt sich auch sein musikdramatisches Können auf unerwartet klare Weise. Kühl disponierend und mit souveräner Distanz zum Gegenstand, doch unter Aufbietung eines üppig bestückten Klangapparats und mit einer Folgerichtigkeit, die an das Theater der alten Griechen erinnert, lässt er seine Geschichten in die finale Katastrophe münden. Sein Anspruch, dass sich das Drama in der Musik entfalte, findet hier seine Erfüllung.

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Verführung zum Leben

Giorgio Battistelli im Gespräch mit Jörg Königsdorf

Herr Battistelli, Ihre neue Oper basiert auf einer berühmten Vorlage von Pier Paolo Pasolini. Wann begann Ihre Beschäftigung mit Pasolini und seinem Werk?

Giorgio Battistelli

Meine Geschichte mit Pasolini beginnt circa 1970/71. Ich war damals ein sehr, sehr junger Mann und habe ihn bei der Einweihung der Bibliothek der kleinen Stadt kennengelernt, in der ich geboren wurde. Am Ende dieses Treffens stellte ich ihm tatsächlich eine Frage über TEOREMA. Ich hatte damals gerade den Film gesehen und auch das Buch gelesen und war davon sehr beeindruckt, vor allem von der Figur des Gastes. Ich fragte ihn also: Wer ist dieser Gast? Ein kommunistischer Revolutionär? Er antwortete: „Nein. Denke ihn dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“

Was hat Sie mehr beeinflusst: Die Film- oder die Romanversion des Werks?

Giorgio Battistelli

Film und Roman besitzen generell unterschiedliche Rhythmen. Der Rhythmus eines Romans, einer Erzählung, ist viel langsamer: Wir setzen den dramaturgischen Rhythmus durch die Lektüre selbst. Im Film ist alles schon organisiert. Deshalb haben mich die Versionen auf unterschiedliche Art beeinflusst. Der Film in seiner realistischeren Art, der Roman durch seine metaphysischere, spirituellere Art des Erzählens.

Sie haben schon 1990 eine Version von TEOREMA komponiert, weshalb nähern Sie sich jetzt dem Stoff noch einmal?

Giorgio Battistelli

Es ist seltsam und ich glaube bislang nie vorgekommen, dass ein Komponist denselben Stoff zweimal vertont hat. Die erste Vertonung, die ich in den Jahren 1988/89 schrieb und die dann 1990 bei der Münchener Biennale uraufgeführt wurde, war ein Auftrag von Hans Werner Henze. Er hat mich angesprochen und gesagt, er habe die Rechte und wolle eigentlich selbst eine Oper über „Teorema“ schreiben. An diesem Abend saßen wir lange zusammen und sprachen über Pasolini, über Elsa Morante, Alberto Moravia, Italo Calvino und andere italieni ­

sche Autoren. Am Ende sagte er mir: „Ich würde mich sehr freuen, wenn du diese Oper schreiben würdest. Ich trete von der Vertonung zurück und gebe dir die Möglichkeit, diese Oper zu schreiben.“ Ich habe das Werk dann mit einem großen Verantwortungsgefühl geschrieben, weil Hans es eigentlich selbst hatte schreiben wollen. Es war schwierig für mich, diese Verantwortung anzunehmen.

Haben Sie nun eine zweite TEOREMA-Oper geschrieben, weil sich die italienische Gesellschaft, die Thema des Stücks ist, inzwischen so verändert hat?

Als ich die erste Version schrieb, traf ich eine sehr mutige Entscheidung: Ich entschloss mich, eine Oper ohne Gesang und Sänger zu schreiben – die Sänger*innen waren also stumm. Immer dann, wenn sie ansetzten zu singen, passierte etwas, das sie am Sprechen, Kommunizieren hinderte. Es gibt in TEOREMA viele Probleme, aber ein zentrales ist das Fehlen jeglicher Kommunikation innerhalb dieser Familie: Es gibt den Vater, die Mutter, den Sohn, die Tochter und die Hausangestellte, das sind fünf Personen, von denen vier nicht miteinander kommunizieren. Dann kommt der Gast und bringt eine Verständigung zwischen ihnen zustande – durch die Verführung. Dabei handelt es sich um eine intellektuelle, aber auch eine körperliche Verführung. Ich würde jedoch sagen, dass sich die italienische Gesellschaft seither nicht viel verändert hat. Im Gegenteil war Pasolini ein Prophet, der vor fünfzig Jahren eine Situation als Gefahr vorhergesagt hat, vor der wir jetzt stehen: die menschliche wie kulturelle Gleichschaltung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass es keine Unterschiede zwischen den sozialen Schichten mehr gibt: Hohe und mittlere Bourgeoisie, Proletariat und Subproletariat, das alles hat sich weitgehend nivelliert und es gibt nur noch Menschen mit mehr oder wenig Geld. Aber Pasolinis große Intuition war, dass das Konsumdenken ein Diktator ist, dessen Opfer wir heute alle sind. Alles, was um uns herum ist, wird mit großer Schnelligkeit konsumiert, und Pasolini hat schon vor 50 Jahren gesagt: Achtung! Der Konsum ist eine neue Form des Faschismus, der sich der Gesellschaft als Lebensform aufzwingen wird.

Und wie hängt das mit der Unfähigkeit zusammen, miteinander zu kommunizieren?

Giorgio Battistelli

Die Unfähigkeit zu kommunizieren ist die Folge dieses Diktats des Konsums. Heute werden Gefühle nicht mehr kommuniziert, wir übertragen nur Informationen, wir teilen kein Wissen mit, wir kommunizieren keine wirklich tiefgehenden Inhalte. Wir haben Angst vor Gefühlen und kommunizieren nur mit Zahlen und Informationen.

In der Oper gibt es eine Entwicklung: Die Menschen lernen zu kommunizieren und singen sogar zusammen.

Giorgio Battistelli

Eines der Probleme, das ich in IL TEOREMA DI PASOLINI behandle, ist die stilistische Behandlung der Stimmen. Es gibt eine sehr differenzierte Behandlung der Gesangsstimmen, die vom gesprochenen Wort ausgeht und dann langsam zu Formen wie dem Sprechgesang, der Deklamation führt, einer emphatischen, expressiven Form des Deklamierens. Es gibt viele Formen des Stimmgebrauchs, aber auch der Begegnung zwischen gesungenem und gesprochenem Text. Denn es wäre zu einfach und reduzierend gewesen, den fünf Sänger*innen einfach

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Opernrollen im klassischen Sinn zu geben. Die Sprache dieser fünf Personen musste vielfältig und möglichst reich an Ausdrucksmöglichkeiten sein.

Versteckt sich Pasolini Ihrer Ansicht nach hinter einer der Figuren?

Giorgio Battistelli

Das ist natürlich sehr subjektiv. Ich persönlich habe Pasolini im Gast wiedergefunden, in dieser Figur, die ankommt, eine bürgerliche Familie zerstört, jedem seine eigene Identität zurückgibt und dann fortgeht. Er weist jedem den Weg, seine persönliche Befreiung zu realisieren.

Der Text ist zum Teil in der dritten Person geschrieben. Was bedeutet das für die Musik?

Giorgio Battistelli

Das war eine der Schwierigkeiten, die ich bei der Vertonung des Textes hatte. Da er in der dritten Person geschrieben ist, habe ich zunächst eine Fassung geschrieben, die den Text in die erste Person überträgt. Aber nach einigen Monaten, als ich auch schon einen kleinen Teil komponiert hatte, wurde mir bewusst, dass das den Text reduzieren würde und ein Verrat an Pasolini wäre. Diese Stimme hinter den Figuren, die erzählt, was Paolo, Pietro, Lucia, Emilia und Odetta denken, ist wichtig. Die Sänger singen ihre eigenen Gedanken in der dritten Person. Sie singen nicht: „Paolo, wie schön du bist“, sondern „Wie schön ist Paolo“. Der Gesang illustriert mithin die Aktion.

Wie hat sich Ihre Musik im Vergleich zu Ihrer letzten Oper GIULIO CESARE entwickelt?

Jede meiner Opern hat eine andere Sprache, aber alle zusammen bilden wiederum eine eigene Sprache. Mich zieht eine Ästhetik sehr an, die in der Malerei „radicante“ genannt wird. Meine Musik gleicht den Wurzeln einer Blume oder eines Baums. Die Wurzeln geben dem Baum Tiefe, gehen aber in verschiedene Richtungen. All diese Wurzeln ernähren sich und wachsen durch die Elemente der Erde. Sie sind sehr verschieden voneinander, aber alle tragen sie dazu bei, dass der Baum wächst und gedeiht. Das bedeutet: Mich fasziniert heute unsere Zeit als Zeit, die von heterogenen Gedanken geprägt ist, statt monothematisch ausgerichtet zu sein. Diese Heterogenität in ihren multiplen Erscheinungsformen, diese verschiedensten Gedankenwelten in unterschiedlichsten Dimensionen. Dabei ist es auch schön, wenn diese Gedanken einander widersprechen. Denn Widerspruch bedeutet Freiheit, anderer Meinung zu sein. Deshalb bin ich mir in meiner musikalischen Sprache immer treu geblieben. Nur kann meine Sprache nicht die gleiche, sein wenn ich einen Text von Shakespeare komponiere oder einen von Pasolini, Jules Verne oder Ernst Jünger. Das sind verschiedene Welten und ich kann nicht die gleiche Sprache für sie alle benutzen. Meine musikalische Sprache ist ein Sonnensystem mit vielen Planeten, aber ich verbinde einen mit dem anderen.

Kultur und ökonomische Verfassung gehören stets aufs engste zusammen.

[…] Nur wenn etwas fremdes in diese ökonomische Verfassung dringt, gerät diese Kultur in eine Krise. Eine Krise, die seit jeher in der bäuerlichen Welt

Grundlage für die Herausbildung von Klassenbewusstsein ist. Diese Krise ist also eine Krise in der Beurteilung der eigenen Lebensweise, ein schwindendes Vertrauen in die eigenen Werte, …

Pasolini, aus „Freibeuterschriften“

Befreiung durch Zerstörung

Ben Kidd [Dead Centre] im Gespräch mit Jörg Königsdorf

Pasolini und sein Werk fordern seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder zur Auseinandersetzung heraus. Was ist für Sie das Besondere an Pasolini und an „Teorema“?

Ben Kidd

Als ich den Film „Teorema“ zum ersten Mal sah, wusste ich recht wenig über Pasolini. Ich hielt ihn für einen Künstler, der sich im Wesentlichen für Grenzüberschreitungen und die emanzipatorische Kraft von Sex interessierte. Das stimmt wohl auch, aber als ich den Film sah, hat mich am stärksten seine Rätselhaftigkeit beeindruckt – wie schwer es beispielsweise zu bestimmen ist, ob die Figur des Gastes nun für Christus oder den Satan steht. Und ist Sex nun Befreiung oder Zerstörung? Und attackiert Pasolini nun diese Familie aus dem Mailänder Großbürgertum, die er uns vorführt, oder sympathisiert er am Ende mit ihr? Darüber hinaus hat mich auch beeindruckt, wie gay beziehungsweise queer dieser Film ist. Obwohl er schon 1968 gedreht wurde, stellt er schon sexuelle Identitäten in Frage. Tatsächlich war es sehr hilfreich, den Roman zu lesen, denn dort wird noch klarer, dass all diese Ambiguitäten für Pasolinis Kernaussage stehen: Nichts ist einfach, alles kann auf vielfache Weise gelesen werden.

Wie hat sich Ihre Sicht auf „Teorema“ im Laufe Ihrer Auseinandersetzung mit dem Stoff entwickelt?

Ben Kidd

Der Aspekt, der sich im Verlauf der Zeit immer weiter in den Vordergrund geschoben hat, ist Pasolinis ehrliche und ernste Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Gott und Spiritualität für unsere Gesellschaft. Das sexuelle Element ist demgegenüber immer weiter in den Hintergrund gerückt. Wenn man das „Theorem“, das Pasolini hier aufzustellen behauptet, genauer bestimmen könnte, hätte es sicher mit der Seele der Bourgeoisie zu tun. Existiert so eine Seele? Und was denkt Gott über uns? Ich habe gelesen, dass der große französische Regisseur Jean Renoir einmal über diesen Film gesagt hat: „Was die Menschen empört, ist nicht die Obszönität, denn die gibt es hier gar nicht. Der Skandal dieses Films liegt in seiner Ehrlichkeit.“

Im Film gibt es eine einleitende Szene, die Battistelli in seiner Oper fortgelassen hat: eine quasi-dokumentarische Sequenz, in der ein Reporter darüber berichtet, dass Paolo, der Vater der Familie, seine Fabrik den Arbeitern übereignet hat. Was ändert sich dadurch, dass diese Szene in der Oper fehlt?

In seiner Adaption von „Teorema“ gibt Battistelli dem politischen Hintergrund fast keinen Raum. Denn genau dafür steht ja im Film die einleitende Szene. Ich verstehe gut, warum Battistelli diese Szene gestrichen hat, denn mit ihr bestünde die Gefahr, dass das Stück ein „peroid piece“ würde und dass man die Geschichte nur aus der Perspektive des ökonomisch­politischen Szenarios von 1968 sehen würde. Der politische und gesellschaftliche Hintergrund ist dadurch natürlich nicht weg, sondern im Hintergrund auf eine zeitlosere Art präsent, die Pasolinis gesellschaftliche Weitsicht in den Vordergrund rückt. Schließlich war er sehr prophetisch in seiner Beobachtung, dass die europäische Gesellschaft immer mehr von einem Hyper­ Kapitalismus dominiert würde, der den Platz der Seele der Gesellschaft einnimmt. Auch seine gemischten Gefühle über die Protestkutur und die Funktion, die Kunst in der Gesellschaft haben kann, sind durchaus noch aktuell, wenngleich in „Teorema“ nicht von vergleichbar zentraler Bedeutung.

Inwiefern war es für Sie wichtig, sich von der Vorlage Pasolinis – beispielsweise von der Bildkraft des Films – abzugrenzen?

Tatsächlich haben wir die Verbindung zum Film aufrecht erhalten, indem wir filmische Mittel für unsere Erzählung einsetzen: Denn das Kino hat nun einmal die Möglichkeit, Geschichten auf einen nicht­ lineare und traumhafte Weise zu erzählen und gleichzeitig ganz nah an der Realität der menschlichen Erfahrung zu bleiben. Gleichwohl steht die Oper für sich: Das Hinzufügen von Musik, vor allem der Singstimmen, gibt den Figuren ein völlig anderes Gesicht. Um diese Identität auszudrücken, mussten wir die sehr spezifischen Bilder des Films beiseite lassen und versuchen, die ikonischen Situationen des Stücks auf unsere eigene Weise zu übersetzen. Ohnehin hat uns der Roman in unserer Arbeit noch stärker beeinflusst, weil er mehr Erklärung für den Titel liefert. Pasolini lehnt hier ja die Idee einer „story“ ab und spricht von „Teorema“ als einem wissenschaftlichen Bericht – der natürlich auch poetisch ist. Und dort lag auch unser Ansatzpunkt, die Geschichte zu erzählen, über die Figuren und die Botschaft nachzudenken, die transportiert werden soll.

Spielt die religiöse Ebene des Stoffes in Ihrer Inszenierung eine Rolle?

Sie lässt sich überhaupt nicht vermeiden. Auch wenn wir die religiöse Ebene gar nicht besonders hervorkehren wollten, kam sie quasi von selbst hinein. Schließlich beginnt die Oper ja mit einer Art Verkündigungsszene, die auf die Ankunft des Gastes verweist. Und das mit Angiolino, dem Postboten, der uns schon in seinem Namen sagt, dass er ein Engel ist. Tatsächlich ist weder bei Pasolini noch bei Battistelli ein psychologischer Realismus in der Personenführung gefragt, sondern die Szenen entfalten sich vor unseren Augen und Ohren eher wie die Stationen einer mittelalterlichen Heiligenvita. Wir erleben religiöse Tableaux, die aber gerade durch diese statische, distanzierte Art der Darstellung auch wieder wirken wie die wissenschaftliche Versuchsanordnung, die Pasolini für das

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Befreiung
Zerstörung
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Stück in Anspruch nimmt. Wir erleben die Charaktere also als eine Art Heilige, oder gar Allegorien, bei denen eine Darstellung der psychologischen Hintergründe ihres Tuns nicht den Kern der Sache träfe.

In Ihrer Inszenierung agieren die Sänger*innen zunächst als Wissenschaftler, während die Familie durch stumme Schauspieler*innen dargestellt wird. Dann werden diese Wissenschaftler jedoch immer mehr in das Geschehen hineingezogen und übernehmen schließlich die Rollen der Familienmitglieder. Was hat Sie zu diesem Schritt bewegt?

Ben Kidd

Wir sind dabei vor allem der Musik gefolgt, die den Charakteren im zweiten Teil viel mehr Raum zur persönlichen Entfaltung lässt, wenngleich sie auch hier noch meistenteils von sich selbst in der dritten Person singen. In diesem zweiten Teil hören wir weniger gesprochenen Text und die Stimmen kommunizieren viel öfter in musikalischen Ensembles miteinander. Hier zeigen die Figuren uns, wer sie sind und welchen Ausweg jeder von ihnen sucht, während im ersten Teil der Eindruck der Entfremdung durch die Verhältnisse überwiegt. Deshalb erschien es uns sinnvoll, diese charakterlichen Entwicklungen dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass die Sänger*innen im zweiten Teil selbst die Ausbruchsversuche der Figuren verkörpern.

Jede der fünf Figuren der Familie versucht einen anderen Weg, den bürgerlichen Zwängen zu entkommen: Während die Mutter hemmungslosen Sex probiert, versucht sich der Sohn als Künstler. Die Tochter flüchtet in psychische Krankheit, die Hausangestellte wird eine Heilige und der Vater gibt all seinen Besitz auf. Wer ist mit seiner Strategie Ihrer Meinung nach erfolgreich?

Ben Kidd

Ich würde sagen: keiner. Natürlich ist Emilia, die Hausangestellte, die einzige, die wirklich begreift, wer dieser Gast ist und welche Mission ihn umtreibt. Und ja, sie findet eine Art Befreiung darin, zur Heiligen zu werden. Aber das ist ziemlich zwiespältig, denn dieser Ausweg bedeutet zugleich totale Unterwerfung. Meiner Ansicht nach ist bei Pasolini die Kunst der einzige mögliche Weg zu versuchen, die Fesseln der Klassenzugehörigkeit zu sprengen. In diesem Sinne wäre Pietro, der Sohn, der einzige, vor dem ein „authentisches“ Leben liegt. Das ist kein Wunder, da Pasolini ja selbst Künstler war. Ich hoffe allerdings, dass wir in der Oper eine etwas universellere Perspektive vermitteln können: Sobald du merkst, dass du nicht mehr weißt, wer du eigentlich bist, musst du das Experiment um jeden Preis abbrechen und du musst versuchen, den Weg zu einem eigenen Leben zu finden.

Die Oper endet mit einem Schrei des Vaters Paolo. Was bedeutet für Sie dieser Schrei? Befreiung oder Schmerz?

Ich glaube, in diesem Fall hängt beides eng zusammen. Die Art und Weise, wie Pasolini im Roman beschreibt, was alles passieren müsste, damit die Bourgeoisie zu ihrer Befreiung findet, zeigt, dass dies ein sehr schmerzhafter Prozess sein muss. Denn er beinhaltet die Bloßlegung dessen, was man zu sein glaubt. Ich denke, deshalb ist Pasolini auch so an der Geschichte des Heiligen Paulus und der Bedeutung der Wüste interessiert. In seinem Roman nimmt das

breiten Raum ein und im Film ist das Bild der Wüste quasi omnipräsent. Diese Idee von Befreiung durch Zerstörung ist ein zutiefst christliches Bild.

Jeder in dieser Familie hat ein klares Charakterprofil. Aber was ist mit dem Gast? Existiert er wirklich oder ist er vielleicht nur eine Projektion aller uneingestandenen Sehnsüchte?

Ben Kidd

Ich habe das Gefühl, dass genau das eine der Fragen ist, die jeder für sich selbst beantworten sollte. Wer er ist, wofür er steht, gehört zu den Mysterien dieser Geschichte. Da gibt es keine wahren oder falschen Antworten. Das Geniale an Pasolini ist, dass seine Werke viele Lesarten zulassen. Ich hoffe, wenngleich auf eine bescheidenere Weise, wird unsere Inszenierung das auch tun.

43 42 Befreiung durch Zerstörung

Wunder als Möglichkeit

Kino evoziert die Realität nicht wie literarische Sprache es tut; kopiert sie weder wie ein Gemälde, noch ahmt es sie nach wie im Theater. Kino reproduziert Realität ... In Wirklichkeit machen wir selber Kino, indem wir es leben ... Die Realität der menschlichen Welt ist nichts anderes als diese doppelte Repräsentation, in welcher wir Akteure und Beobachter zugleich sind: ein gigantisches Ereignis [Happening], wenn man so will.

Was bedeutet Pasolinis Beharren darauf, dass Kino der Realität entspricht? Warum diese Obsession? Kunst hat doch immer eine gewisse Entfernung zu der Welt, die sie zu ergründen versucht. Aber genau an dieser Stelle setzt Pasolini seine Idee der Realität als „doppelte Repräsentation“ an. Wir befinden uns kontinuierlich innerhalb und außerhalb unserer Welt: innerhalb als Akteure und außerhalb als Beobachter. Diese Doppelung verdeutlichen wir in unserer Inszenierung mit der Durchführung eines Experiments: Damit versuchen wir, ein Libretto umzusetzen, in dem die Aktionen der Charaktere in der dritten Person wiedergegeben werden, also von außerhalb. Es passiert erst im späteren Verlauf, nach den Transformationen durch ihre Begegnungen mit dem Gast, dass die Charaktere auch größere Passagen singen, aber auch dann bleibt der Text in der dritten Person. Die Figuren sind gefangen im Paradox der „doppelten Repräsentation“ – wortwörtlich ihrem Leben zusehend, in jenem Moment, wo sie es versuchen zu leben.

Doch was hat die Oper mit der Realität zu tun? Scheint es nicht so, als gäbe es kaum etwas weniger „Reales“, als wenn jemand auf einer Bühne singt? Wenden wir uns hierfür wieder Pasolinis Stilvermögen zu: als Methode, um diese Entfremdung im Herzen des Seins zu erfassen. Er war der Auffassung, dass eine nicht untersuchte Realität obskur, falsch oder in seinen Worten „bourgeois“ ist. Er war erst durch stilistische Repräsentation in der Lage, „Realität durch Realität“ auszudrücken und die Fundamente des alltäglichen Lebens in einem anderen Licht darzustellen. Das gilt für die Familie von „Teorema“ – eine Familie, die er als „in keinem Sinne als herausragende Personen, sondern als Personen, die mehr oder weniger durchschnittlich sind“, beschreibt. Es ist von zentraler Bedeutung für Pasolini, dass seine Charaktere unbedeutend, normal und undramatisch oder, in den Augen mancher, ungeeignet für die große Bühne der Oper sind. Aber es ist genau dieses Beharren auf unbedeutenden Personen, durch das Pasolini unser Augenmerk auf sein eigentlich bedeutsames Thema lenkt: das Wunder.

Pasolini glaubte an, so wie er es nannte, die „subjektive Realität“ von Wundern. Damit meinte er nicht, dass eine Person fliegen oder über das Wasser laufen kann. Es bedeutet nur, dass es eine bestimmte Perspektive gibt, aus der man die Welt sehen kann, die diese Dinge als Möglichkeiten offenbart. Ein Wunder ist nichts anderes als eine neue Sicht auf die Welt, eine Perspektive, in der etwas Unmögliches plötzlich möglich erscheint. In diesem Sinne gleichen sich Pasolinis Marxismus und sein Katholizismus, die beide als Suche nach neuen Perspektiven, einer neuen Realität, verstanden werden können, befreit von dem erdrückenden bourgeoisen Konsum seiner Zeit.

Und so sind wir nun hier, an der Deutschen Oper, konfrontiert mit einer Bühne, auf der ein wissenschaftliches Experiment inszeniert wird, das die Beobachter*innen in diese Untersuchung menschlichen Verhaltens miteinbezieht. In diesem Sinne weicht die Frage im Herzen von IL TEOREMA DI PASOLINI nicht von der Frage ab, die sich das Publikum am Ende jeder Aufführung stellt: Warum verhalten sich die Menschen so, wie sie sich verhalten? Können wir uns anders verhalten? Besteht die Möglichkeit einer anderen Welt? IL TEOREMA

DI PASOLINI ruft das Publikum dazu auf, Oper in einem anderen Licht zu betrachten, als Experiment in Form einer Einladung, die Welt mit neuen Augen zu sehen, die Perspektive zu wechseln, die Realität zeitgleich von innen und außen zu erleben und hoffentlich, die Welt als einen Ort wahrzunehmen, an dem Wunder möglich sind.

Bush Moukarzel [Dead Centre]

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Pier Paolo Pasolini, Teorema [1968]

„,Teorema‘ entstand, wie auf Goldgrund, mit der rechten Hand gemalt, während ich mit der linken eine große Wand mit Fresken schmückte“. Mit dieser Analogie aus dem Bereich der spätmittelalterlichen Malerei beschreibt Pasolini nicht nur die je unterschiedlichen formalen Bedingungen der zwei komplementären Versionen von „Teorema“, Roman und gleichzeitig Film. Er erinnert auch an eine figurative Tradition, an die er seine Erzählweise hier zum ersten Mal explizit, und auch in den nachfolgenden Arbeiten in Literatur und Film immer wieder anlehnt: die Allegorie. So weist „Teorema“ inhaltlich zwar einige konkrete Bezugsgrößen auf, die eine historische Einordnung der Handlung ins großbürgerliche Milieu Norditaliens in den Jahren von Operaismus und Gewerkschaftsbewegung, also in die 60er, ermöglichen. Dennoch bleibt die Darstellung von Zeit, Raum, Objekten und Figuren ummantelt von einem Schleier traumlogischer Unbestimmtheit: nichts darin erscheint im herkömmlichen Sinn „real“. Auch folgen die Ereignisse einer unerbittlichen Logik, deren Gesetze mysteriösen Ursprungs bleiben: Eine Industriellenfamilie empfängt eines Tages einen Gast, dessen bloße Präsenz für jedes Familienmitglied die verstörende Erfahrung einer Metanoia, einer abgründigen Bewusstseinswerdung, zur Folge hat. Der bereits 1966 in „Uccellacci uccellini“ angedeutete, und 1968 mit „Teorema“ definitiv vollzogene Wandel Pasolinis weg von realistischen, hin zu stärker allegorischen Formen der Erzählung ist nun nicht nur Ausdruck seiner hohen künstlerischen und moralischen Ansprüche, die er gegen eine immer hohlere Unterhaltungsindustrie geltend macht. Der Verzicht auf Realismus ist auch Ausdruck von Pasolinis Ablehnung bürgerlicher Ästhetik und somit Teil seiner zuletzt kategorischen Polemik gegen die alles und alle assimilierende Bourgeoisie. Steht letztere bis zuletzt immer wieder im Zentrum seines Schaffens [„Porcile“, „Salò“, „Petrolio“], so ist Pasolini, anders als viele zeitgenössischen Künstler, dennoch nicht daran gelegen, in die Bourgeoisie vorzudringen und diese verständlich zu machen. Vielmehr geht es umgekehrt darum, zu zeigen, was die Bourgeoisie nicht mehr versteht: sie mit einem, ihre eigenen Begriffe und ihre Selbstsicherheit transzendierenden Anderen, dem Sakralen, zu konfrontieren.

Die Aktualisierung des Mythischen, im Film verkörpert vom geheimnisvollen Gast [Terence Stamp], aber auch von den Bediensteten subalterner Herkunft, markiert den besonderen Charakter von Pasolinis marxistischem Engagement. Das alte Testament, aber auch der klassisch­antike Stoffkreis, sind die Quellen

für einen Lebensbegriff, den Pasolini in „Teorema“ polemisch, gegen die kapitalistische Moderne und ihre immer umfassendere Versachlichung sozialer Verhältnisse richtet. Gewinnt er damit abermals die Aufmerksamkeit katholischer Interessengruppen [„Teorema“ wird, wie bereits das „Matthäus­ Evangelium“, mit dem Preis der internationalen katholischen Organisation für Kinokunst, OCIC, ausgezeichnet], so richtet er sich mit dem Rückgriff auf das Sakrale indes auch an seine politische Heimat, die kommunistische Partei Italiens. In „Teorema“ wiederholt Pasolini eine kontroverse Erfahrung, die er 1964 bereits mit der Verfilmung des Matthäus ­ Evangeliums machte. Keine der beiden Filme ändern etwas an Pasolinis atheistischer Grundeinstellung; beide appellieren sie jedoch an die Notwendigkeit, den Kapitalismus nicht nur auf einer pragmatisch­ ökonomischen, sondern auch auf einer ontologischen Ebene zu bekämpfen – ihm eine andere Welt gegenüberzustellen.

Fabien Vitali

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Pier Paolo Pasolini

1922 – 1936

Geboren am 5. März 1922 in Bologna als Sohn des Berufsoffiziers Carlo Alberto Pasolini [aus einer alten Adelsfamilie in Ravenna] und der Grundschullehrerin Susanna Colussi, verbringt Pier Paolo Pasolini seine Sommer im mütterlichen friaulischen Heimatort Casarsa, wenngleich sein Wohnort, auf Grund des Berufs seines Vaters, von Parma über Belluno bis Cremona ständig wechselt.

1936 – 1942 Bologna

Die Familie kehrt nach Bologna zurück, wo Pasolini 1936 am Gymnasium sein Abitur absolviert und im selben Jahr anfängt Kunstgeschichte, Literatur und romanische Philologie zu studieren.

1941 – 1942

Gründung und Arbeit als Redakteur der Zeitschriften „Eredi“ und „Il setaccio“. Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands in friaulischem Dialekt „Poesie a Casarsa“.

1943

Umzug nach Casarsa.

1944

Gründung der „Akademie der friaulischen Sprache“ als Zentrum für Förderung der heimischen Literatur und Kultur.

1945

Dissertation über den Dichter Giovanni Pascoli und Tätigkeit als Lehrer einer Privatschule. Lebt gemeinsam mit seiner Mutter in Casarsa. Ermordung seines Bruders im Partisanenkrieg in Jugoslawien.

1947

Auseinandersetzung mit den Schriften des marxistischen Philosophen und Mitgründers der Kommunistischen Partei Italiens [KPI] Antonio Gramsci. Einschreibung in der Kommunistischen Partei und aktive politische Tätigkeit als Sektionssekretär der KPI.

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1949

Parteiausschluss wegen öffentlicher Homosexualität und Kündigung als Lehrer.

1950

Neuanfang in mit seiner Mutter in Rom und aufkommendes Interesse am Proletariat der römischen Vorstädte, der Borgate Romane. Veröffentlichungen einzelner Artikel in Zeitungen und Lehrstelle an einer Privatschule sowie Arbeit beim Radio.

1951

Rückkehr des Vaters aus dem Krieg und dessen Einzug in die gemeinsame Wohnung. Bekanntschaften mit Bewohnern aus den Borgate und Freundschaft mit Drehbuchautor Sergio Citti.

1953

Zusammenarbeit mit Regisseur Mario Soldati und Schriftsteller Giorgio Bassani für das Drehbuch „La donna del fiume“.

1954

Seinem Gedichtband „La meglio gioventù“ widmet er den Jugendlichen, die auf Arbeitssuche ins Ausland migrieren.

1955

Sein Debütroman „Ragazzi di vita“ spielt in den Vorstädten Roms und erzählt von Lebensauszügen junger Bewohner dieser Viertel. Gründung der kulturpolitischen Literaturzeitschrift „Officina“.

1957

Veröffentlichung und Auszeichnung seiner Gedichtsammmlung „Le ceneri di Gramsci“ mit dem italienischen Literaturpreis Premio Viareggio.

1958

Tod des Vaters.

1959

Anklage und Einstellung der Zeitschrift „Officina“ auf Grund eines Epigramms über Papst Pius XII. Veröffentlichung seines zweiten Romans „La vita violenta“ und darauffolgende Prozesse wegen „obszöner“ Inhalte.

1960

Veröffentlichung seiner literaturkritischen Essay­Sammlung „Passione e ideologia“ [1948–1958] und wöchentliche Beiträge in der kommunistischen Zeitschrift „Vie Nuove“ bis 1965.

1961

Filmdebüt umit„Accatone“ auf der Biennale von Venedig. Reise nach Indien mit Alberto Moravia und Elsa Morante.

1962

Reisebericht „L'odore dell'India“. Dreharbeiten zu „Mamma Roma“ und „La ricotta“ sowie Veröffentlichung des Romans „Il sogno di una cosa“.

1963

Skandal um Episodenfilm „La ricotta“ wegen Provokation der Religion.

1964

Auszeichnung des Films „Il Vangelo secondo Matteo“ mit dem Preis des Office Catholique International du Cinéma [OCIC]. Beginn seiner Kritik am kulturellen Zerfall der italienischen Gesellschaft mit dem Aufsatz „Nuove questioni linguistiche“.

1965

Filmtheoretischer Vortrag „Das Kino der Poesie“ am Festival für neues Kino in Pesaro. Erkenntnis einer Doppelstruktur der Kinosprache und linguistische Unterscheidung der Sprache in langue [Kino] und parole [Film]. Bekanntschaft mit dem französischem Literaturkritiker und Philosoph Roland Barthes.

1966

„Uccellacci e uccellini“ erscheint als polemisch ­ ideologische Komödie im Dialog zwischen katholischen Christen und Marxisten der Gegenwart in Italien. Liebesbeziehung mit dem Hauptdarsteller Ninetto Davoli. Konzeption erster Theaterstücke und Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie. Übernahme Leitung der Zeitschrift „Nouvi Argumenti“. Erster Besuch in ew York und Bekanntschaft mit Allen Ginsberg.

1968

„Teorema“, zuvor als „Piece in Versen“ verfasst, nun als Roman und Film veröffentlicht. Uraufführung auf der Biennale von Venedig und Verleihung des internationalen katholischen Filmpreises und zugleich Beschlagnahmung des Films durch den Vatikan wegen Obszönität. Späterer Freispruch des Films durch den Beweis der allegorischen Verwendung der Erotik im Film. Stellungnahme zugunsten der Polizei innerhalb der italienischen Studentenbewegung in Rom im kommunistisch, klassenkritischen Gedicht „Il PCI ai giovane!“. Wöchentliche Kolumne „Il Caos“ in der Zeitschrift „Tempo“.

1969

„Medea“ erscheint als überarbeitete Verfilmung der gleichnamigen Tragödie von Euripides. Maria Callas übernimmt die Titelrolle.

1970

Reise nach Afrika mit Alberto Moravia, Dacia Maraini und Maria Callas. Beginn des Romans „Petrolio“.

1972

Veröffentlichung seiner Streitschrift „Empirismo eretico“.

1973

Seine Artikel­Serien in großen italienischen Tageszeitungen wie dem „Corriere della Sera“, gesammelt in den Publikationen Freibeuterschriften [1975] und Lutherbriefe [1976], stellt ihn erneut in den Mittelpunkt öffentlicher Diskurse.

1975

Dreharbeiten zu „Salò ­ Die 120 Tage von Sodom“, der erst nach seiner Ermordung veröffentlicht wird. Leichenauffindung am Strand von Ostia bei Rom am 2. November. Begräbnis am 5. November auf dem friaulischen Friedhof Casara della Delizia.

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Part I

A grand­bourgeois family is seated at lunch. It consists of Paolo, the father, Lucia, the mother, Pietro, their son, and Odetta, their daughter. The maid Emilia is serving their food when a telegram is delivered. It announces the arrival of the Guest for the next day.

The Guest is reading in the garden while Emilia is mowing the lawn. After Emilia has stared at the Guest for a long time, she runs into the kitchen and tries to kill herself. The Guest saves her and takes her to her room. There, they succumb to their desire.

Pietro and the Guest sleep in the same room. Pietro walks over to the Guest’s bed and slowly pulls away his blanket. When the Guest awakes, he notices Pietro’s bashful desire and lies down with him.

Paolo cannot sleep either and opens the door to his son’s bedroom. He sees Pietro and the Guest sleeping in the same bed.

Back in the parents’ bedroom, Paolo wakes Lucia and forces her to have sex with him.

Pietro and the Guest are immersed in art books. The Guest recites a poem.

In the garden, Lucia discovers the Guest’s clothes. She also undresses and awaits his return.

When Paolo falls ill, Odetta witnesses her beloved father’s weakness.

In her room, Odetta too is seduced by the Guest.

Paolo and the Guest go on an excursion to the riverbank. They give in to their desire.

Again, the family is having lunch. A telegram announces that the Guest will depart the following day.

Synopsis

Part II

After the Guest’s departure, Odetta and Pietro each try, separately, to understand what has happened. It breaks Odetta.

Like an ascetic, Emilia refuses almost all nourishment.

Pietro tries his hand at being an artist. However, he has trouble finding his own expressive language and leaves the family.

Lucia tries to give meaning to her existence by uninhibited sex.

Emilia ascends to heaven. Back on earth, she buries herself in the ground.

Paolo decides to leave everything behind. Barefoot, he walks towards a new life.

53 52 Synopsis

Impressum

Copyright Stiftung Oper in Berlin

Deutsche Oper Berlin, Bismarckstraße 35, 10627 Berlin

Intendant Dietmar Schwarz; Geschaftsführender Direktor Thomas Fehrle; Spielzeit 2022/23; Redaktion Jörg Königsdorf; Gestaltung schittenundhelm.de; Druck: trigger.medien gmbh, Berlin

Textnachweise

S. 8 zitiert nach: Pier Paolo Pasolini, übersetzt von Thomas Eisenhardt, „Das Gefängnis und die Brüderlichkeit der homosexuellen Liebe“, in: „Freibeuterschriften“, herausgegeben von Agathe Haag, Berlin 1978.

S. 37 zitiert nach: Ignazio Buttitta, übersetzt von Thomas Eisenhardt, „Ich bin Dichter von Beruf“, in: „Freibeuterschriften“, herausgege

ben von Agathe Haag, Berlin 1978.

S. 44 zitiert nach: Pier Paolo Pasolini, übersetzt von Heinz Riedt, „Teorema oder Die nackten Füsse“, München 1980

Übersetzung der Handlung: Alexa Nieschlag

Alle anderen Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft

Bildnachweise

S. 2: Fabrizio Sansoni

S. 6/7: Elliott Erwitt / Magnum Photos / Agentur Focus

S. 12: Martine Franck / Magnum Photos / Agentur Focus

S. 16/17: Ferdinando Scianna / Magnum Photos / Agentur Focus

S. 46: akg / Franco Vitale / Reporters Associati & Archivi / Mondadori Portfolio

Die Fotografien der Inszenierung machte Eike Walkenhorst.

Il Teorema di Pasolini

Musiktheater in zwei Teilen

Libretto von Giorgio Battistelli in Zusammenarbeit mit Ian Burton nach Pier Paolo Pasolini

Uraufführung am 9. Juni 2023 an der Deutschen Oper Berlin

Musikalische Leitung: Daniel Cohen; Inszenierung: Dead Centre; Bühne, Kostüm: Nina Wetzel; Video: Sebastien Dupouey;

Licht: Stephen Dodd; Klangdesign: Benjamin Schultz; Dramaturgie: Jörg Königsdorf

Lucia: Angeles Blancas Gulín; Lucia [Schauspielerin]: Paula D. Koch; Odetta: Meechot Marrero; Odetta [Schauspielerin]: Nelida

Martinez; Emilia: Monica Bacelli; Emilia [Schauspielerin]: Doris Gruner; Paolo: Davide Damiani; Paolo [Schauspieler]: Christoph Schlemmer; Pietro: Andrei Danilov; Pietro [Schauspieler]: Eric Naumann; Ospite: Nikolay Borchev; Live ­ Kamera: Ashton Green

Orchester der Deutschen Oper Berlin

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