KOMMUNIKATIVE PRAXIS ALS KÜNSTLERISCHE UND BILDUNGSTHEORETISCHE KOMPETENZ
Zur Genese der Abteilung Kunst und kommunikative Praxis und ihres
Kunstbegriffs
Marietta Böning
→ Seite 384
RHYTHMIC DISTURBANCES AND DIRTY FORMS OF COEXISTENCE
Sofia Bempeza und Annette Krauss
→ Seite 396
KURZBIOGRAFIE
BARBARA PUTZ-PLECKO
→ Seite 402
KURZBIOGRAFIEN DER AUTOR*INNEN
→ Seite 404
DANKSAGUNG
→ Seite 412
IMPRESSUM
→ Seite 415
GASTPROFESSOR*INNEN 2006–2023
DANIEL ASCHWANDEN
ANETTE BALDAUF
LINDA BILDA → Seite 369
ARIEL CAMEJO → Seite 281
BILWA (WILLIAM BILWA COSTA)
ZHOU BIN → Seite 221
DANICA DAKIĆ → Seite 147
ROBERT DEL TREDICI → Seite 69
CAROLA DERTNIG
HELMUT DRAXLER
SIMONETTA FERFOGLIA (GANGART)
WERNER FEIERSINGER
ABOUBAKAR FOFANA → Seite 165
PIERRE HÉBERT → Seite 91
MICHAEL KIENZER
EBRU KURBAK
NORA LANDKAMMER
MARA MATTUSCHKA
RYAN MITCHELL (SAINT GENET)
CHICO MACMURTRIE → Seite 379
SHAHEEN MERALI
CARMEN MÖRSCH
INGO NUSSBAUMER
I Ş IN ÖNOL
WILLEM OOREBEEK
BRIGITTE PRINZGAU (PRINZPOD)
LINDSAY SEERS
BA Ş AK Ş ENOVA
IMOGEN STIDWORTHY → Seite 255
WENDELIEN VAN OLDENBORGH
SIMON WACHSMUTH
BILDUNG: BEREITSCHAFT, FÄHIGKEIT UND MUT ZUR EROBERUNG DES NEUEN
Gerald Bast
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen“, schreibt Ernst Bloch im Vorwort zu seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Bloch stellt den Begriff der Hoffnung, den er als Bereitschaft zur Eroberung des Neuen sieht, in einen direkten Zusammenhang mit dem Begriff der Utopie. Eine Gesellschaft, die nicht in Nostalgie ertrinken oder im Pragmatismus ersticken will, braucht die Kraft von Utopien.
Gerade heute, in einer Zeit radikaler gesellschaftlicher, technologischer und wirtschaftlicher Umbrüche scheint es notwendiger denn je, die aktive Bereitschaft zur Eroberung des Neuen zu lernen.
Die modernen Gesellschaften sind geprägt von Veränderung, Instabilität, Ungewissheit, und Ambiguität. Dem kann man entweder mit Ignoranz begegnen – man verleugnet oder verdrängt Ungewissheit und Ambiguität, indem man mit simplen Botschaften Gewissheit und Stabilität behauptet und beschwört. Oder man kann das Gegenteil davon tun und findet sich dabei in der Domäne der Kunst, die das Hinterfragen, die Suche nach alternativen Zugängen und ungewöhnlichen Zusammenhängen, das Entwickeln und Entdecken von Ambiguitäten kultiviert.
In einer Welt, die kontinuierlich und immer schneller den Weg beruflicher und intellektueller Spezialisierung und Fragmentierung beschreitet, ist es wichtig, ein Gegenmodell zu vertreten,
das Wirkungskraft und Erneuerungspotenzial aus einer Strategie von Multidisziplinarität, Verschränkung, Vernetzung, Überschreitung und Ausweitung von Disziplinen bezieht. Eine Universität sollte nicht zuletzt als intellektuelles Transferzentrum wirken – als Transferzentrum, das nicht auf ökonomische Wirkungsparameter reduziert wird, sondern Verbindungen zwischen Vision und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Disziplinen und Denkschulen aufspürt, herstellt und auf diese Weise Veränderung und Innovation ermöglicht.
Die Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit Veränderung, mit Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit, die Fähigkeit Daten und Fakten in neue Zusammenhänge zu setzen sowie die Fähigkeit, sich in verändernden Arbeitswelten und in neuen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens zurechtzufinden: Das sind die Schlüsselkompetenzen für die Gestaltung der Zukunft. Das muss Bildung vermitteln. An den Universitäten und in den Schulen. Und bei der Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern auf diese schulischen Bildungsziele trifft die Universitäten eine besondere Verantwortung.
Wir brauchen Universitäten und Schulen, an denen die Fähigkeit zu hoffen – jenseits von Passivität, Defaitismus oder Verzweiflung – gelehrt und erlernt wird. Weil wir die Bereitschaft, die Fähigkeit und den Mut zur Eroberung des Neuen brauchen.
VORWORT
Barbara Putz-Plecko
Die Intention dieser Publikation hat mehrere Dimensionen: Einerseits die des Dankes an all jene, die über 17 Jahre (von 2006 bis 2023) daran mitgewirkt haben, die Abteilung Kunst und kommunikative Praxis als vielstimmiges künstlerisches Kollektiv respektive als Denk- und multimedialen Handlungsraum zu gestalten, zu profilieren und international zu vernetzen. Dieser Dank richtet sich sowohl an alle Lehrenden (einschließlich der mehr als dreißig Gastprofessor*innen), die über all die Jahre meine Vision der KKP_Klasse1 als einer offenen, wandlungsfähigen und konstruktiv kritischen Gemeinschaft unterstützt und mit ihrer künstlerischen und didaktischen Expertise geformt haben, wie an alle Studierenden, die mit ihren individuellen Beiträgen die Klasse als gemeinsamen Bildungsraum lebendig und ihr transformatorisches Potenzial2 durch ihre Projekte und persönliche Entwicklung erst sichtbar machten. Andererseits sollen mit den in der Publikation versammelten textlichen und bildlichen Beiträgen vieler dieser Akteur*innen die Abteilung mit ihren spezifischen Qualitäten als gut kooperierende heterogene Gemeinschaft und als vielstimmiger Resonanzraum nochmals anschaulich und Konzept wie Aufbau dieses künstlerischen Fundaments einer späteren künstlerisch-pädagogischen bzw. künstlerisch-vermittelnden Praxis vorgestellt und begründet werden. Dass diesem künstlerischen Entwicklungsraum eine solche
Bedeutung im Kontext von Lehramtsstudien beigemessen wird, ist nicht selbstverständlich, entspricht aber ganz dem entschlossenen und langfristigen Engagement der Universität für die Erschließung des Potenzials der Künste für Bildungsprozesse, für das Aufschließen von Möglichkeiten, wie Helga Kämpf Jansen es formulierte: für „ein anderes Begreifen der Welt“3.
Ein Fokus der Beiträge liegt dabei auf Verbindungslinien zwischen individueller künstlerischer Praxis und Lehre sowie auf der bei aller Verschiedenheit der Ansätze gegebenen reflexiven Grundhaltung im künstlerischen Prozess. Die Texte vermitteln, wie spezifische künstlerische Arbeitsweisen Lehrformate, Lehrinhalte und -methoden inspirieren respektive begründen, wobei durch das Unterstreichen der Reflexivität nicht missverständlich der Eindruck einer einseitigen Betonung eines konzeptuellen Herangehens bzw. einer Geringschätzung des Intuitiven entstehen soll. Vielmehr geht es um experimentelle Formen der Welterschließung4, die über ein Explorieren hinausgehen bzw. im Lernen als einer explorativen Form der Welterschließung gewissermaßen ihr komplementäres Gegenüber finden.
Wenn Absolvent*innen später gelingen soll, auf Basis der im Studium entwickelten Fertigkeiten und des aufgebauten Wissens in unterschiedlichen professionellen Feldern tätig zu
werden, selbst zu lehren und andere Menschen individuell zu fördern, so ergibt sich daraus aus meiner Sicht, sowohl was die mediale Breite und Vertiefung künstlerischer Praxen als auch ihre Kontextualisierung und Dekonstruktion anbelangt, eine gewisse Anforderung an das Studienprogramm hinsichtlich seiner Inhalte, Formate und Strukturen. Aber nicht nur das. Zumal im Kunstunterricht ja Kulturen und ihre Ordnungen (wie zum Beispiel geschlechtliche, ethische, soziale u. a.) thematisiert werden, bedarf es im Studium ebenso der künstlerischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kulturellen Räumen des Alltags, mit digitalen Bildwelten und sozialen Medien, mit Moden, Produktkulturen sowie mit globalen Perspektiven − also mit dem breiten Spektrum kultureller Produktion und den Bedingungen ihrer Hervorbringung. In Hinblick auf ein Aufrufen und Bestreiten all dieser Themen und der damit verknüpften Diskurse ist die Klasse ein wichtiger Kreuzungspunkt, ein Resonanzraum und gewissermaßen ein heterotopisches Szenario. Sie sie ist ein Ort des Lernens und Verlernens. Und sie wird reich und vielfältig durch die Beiträge aller, die die Klasse bilden, bietet Raum für das Wechselspiel von Singularität und Kollektivität und ist als soziales Feld niemals „abgeschlossen“, sondern in permanenter Veränderung.
1 | Die Bezeichnung „Klasse“ entspricht der alten Bezeichnung dieser akademischen Struktur, vor der Umwandlung von Kunstakademien und Kunsthochschulen in Universitäten (1998). Nach wie vor wird im täglichen Sprachgebrauch der Begriff „Klasse“ gegenüber dem formal richtigen Begriff „Abteilung“ häufiger verwendet.
2 | Zu „transformatorischem Potenzial“ und zur Unterscheidung von Bildung und Lernen siehe Hans-Christoph Koller, Bildung als Entstehung neuen Wissens? Zur Genese des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen. In: H. R. Müller, W. Stravoravdis (Hrsg.), Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: VS, 2007, S. 50 f.: „Bildungsprozesse unterscheiden sich diesem Verständnis zufolge von einfachen Lernprozessen dadurch, dass es darin nicht nur (wie bei Lernprozessen) um Aneignung
neuen Wissens oder neuer Informationen geht, sondern um eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie solche Informationen bzw. Wissen verarbeitet werden. Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverständnisses stellen also eine Art höherstufiger Lernprozesse dar, bei denen auch der Umgang mit Wissen sich in grundlegender Weise ändert.“
3 | Helga Kämpf-Jansen, Thesenpapier zur ästhetischen Forschung, Handout im Rahmen ihres Vortrags an der Universität für angewandte Kunst Wien, 2001. „Ästhetische Forschung führt zu anderen Formen von Erkenntnis: Das Verknüpfen künstlerisch-praktischer Herangehensweisen mit vorwissenschaftlichen Handlungs- und Denkarten sowie mit wissenschaftlich orientierten Methoden führt zu individuellen Erkenntnisformen, die sowohl rational sind als auch vorrational, sowohl subjektiv als auch allgemein, sowohl über Verfahren künstlerischer Transformation geprägt als auch über den dokumentarisch fotografischen Blick, sowohl über verbal-diskursive Akte bestimmt als auch von diffusen Formen des Denkens tangiert. In der Bündelung bildet sie die aktuelle Diskussion über andere Formen jenseits der Vernunft ab, über andere Zugänge und ein anderes Begreifen der Welt.“ Helga Kämpf-Jansen, Ästhetische Forschung: Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, KONTEXT: Kunst_Vermittlung_Kulturelle Bildung, Band 9., Baden-Baden: Tectum, 2012, Neuauflage 2021. „Für den Unterricht heißt das, die konkrete künstlerische Praxis ernst zu nehmen und das individuelle und kollektive Tun zu einem Handeln werden zu lassen. Es bedeutet, das Fragen zu fördern, ein persönliches Interesse und Engagement zu entwickeln, etwas entdecken, erforschen, erfahren und für andere sichtbar machen zu wollen. Es bedingt, sich selbst in seinem Verhältnis zur Welt zu erkennen und die Grundlagen von Verhältnissen, Beziehungen, Positionierungen, Ein- und Ausgrenzungen auszuloten. Die sich ausbildenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, Erkenntnisse und Handlungskompetenz führen dazu, Offenheit und Unsicherheiten auszuhalten, erfordern sie doch ein ständiges Verwerfen, ein neues Entscheiden und auch Annehmen von Situationen, auf die man sich unter anderen Bedingungen vielleicht nicht eingelassen hätte.“ Barbara Putz-Plecko, „Das Poetische und das Politische“. In: Ruth Mateus-Berr, Ilse Schrittesser (Hrsg.), Best Spirit: Best Practice: Lehramt an österreichischen Universitäten, Wien: W. Braumüller Universitätsverlag, 2011.
4 | Der Begriff „Experiment“ bzw. „experimentell“ ist hier nicht in seiner naturwissenschaftlichen Auslegung zu verstehen. Experimentieren in dem hier verwendeten Zusammenhang entspricht dem Verständnis des Begriffs von Sönke Ahrens, wie sie ihn ausführlich in ihrem Buch zu Experiment und Exploration darlegt: Das Experimentieren sei „weder eine Methode noch eine freie, spielerische Angelegenheit“, wohl aber „eine Art Erkenntnisstrategie, genauer eine voraussetzungsvolle und zielgerichtete Form der Welterschließung, die sich durch die Abwesenheit eines intentional angestrebten Zieles auszeichnet.“
Sönke Ahrens, Experiment und Exploration. Bildung als experimentelle Form der Welterschließung. Bielefeld: transcript Verlag, 2011, S. 64.
Einleitung
HETEROTOPIE ALS DENKFIGUR
Barbara Putz-Plecko
E„s gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.“1 Dieser Satz Michel Foucaults beschreibt in klaren, knappen Worten einen über die Zukunft entscheidenden, wiederkehrenden Impuls für transformative Lehr- und Lernprozesse, mit welchen sich nicht nur das Selbst- und Weltverständnis, sondern auch der Umgang mit Wissen verändern. Er umreißt damit ein Bildungsgeschehen, das also über Lernprozesse hinausreicht, welche auf der Basis fester Lernvoraussetzungen (wie Schemata, Rahmen, Muster) Wissen aufbauen, – dem vielmehr die Hinterfragung und konstruktive Veränderung grundlegender Werte, Wünsche und Ideale,2 die Transformation der Grundlagen des eigenen Denkens und Wahrnehmens, eingeschrieben ist.
Diesen Transformationsprozessen kommt in der künstlerischen Klasse – der „homebase“ für Studierende einer Studienrichtung während ihres gesamten Studiums – zentrale Bedeutung zu. Anders als an Universitäten üblich, wo Studierende in Seminaren zusammentreffen, aber curricular kein gemeinsames Arbeitsformat vorgesehen ist, das das ganze Studium umspannt und sie ständig zusammenführt, besteht an Kunstuniversitäten, die nach wie vor den Akademiestrukturen entsprechend
funktionieren, die Klasse (heute in der Organisationsstruktur „Abteilung“ benannt) als ein solches kollektives, permanentes und räumlich verortetes Format. Dieses umfasste als Abteilung Kunst und kommunikative Praxis in den Jahren 2020–2023 ca. 350 Studierende und ca. zwanzig Lehrende.
Jan Verwoert, Autor von Texten zur Kunst und Kunsttheorie und seit vielen Jahren Lehrender an verschiedenen europäischen Kunstschulen, analysierte 2007 in seinem Essay „Frei sind wir schon. Was wir jetzt brauchen, ist ein besseres Leben. Über den möglichen Wert dessen, was an der Akademie passiert“ die Klasse – mit ihren spezifischen Qualitäten als sozialer Raum und „provokative Gemeinschaft“ – und kam zu Einschätzungen, die meine eigenen Erfahrungen bestätigten. In einer Zeit, da Bildung im Zuge des Bolognaprozesses gewissermaßen als Ware verhandelt wurde, die zirkulieren sollte, und man ein geschlossenes System der Bewertung (Evaluation) und Ökonomie (Credit Points) einführte, welches nun seinen „eigenen Begriff von Wert produziert und reproduziert“3, stellte sich für Verwoert die Frage nach einer sinnvollen und relevanten Perspektive, aus der man – abseits einer ideologischen Rede – über Akademie, also über Institution und Bildung noch sprechen und schreiben könne. Es waren schließlich Fragen nach dem „guten Leben“, die seine Analyse leiteten.
Und gerade in diesem Zusammenhang – in Hinblick auf „die Wiederaneignung der Gestaltungsfreiheit in Bezug auf das soziale Leben als das gute Leben“4 – kommt der Klasse besondere Bedeutung zu, da sie die aktive Auseinandersetzung mit Formen der Koexistenz einfordert. Wo doch alle nach der Anerkennung ihrer Einzigartigkeit suchen, so Verwoert, sei die „provokative Gemeinschaft“ einer Klasse jener besondere Kontext, in dem man sich in seiner Singularität und doch unter seinesgleichen erfahre, in dem man „mit der Zeit das Gefühl gewinnt, dass man diesen anderen Leuten etwa sagen und zeigen will“5, und in dem man sich Fragen zur eigenen Zukunft stelle, „als man sich dort darüber klar werden muss, ob ein gutes Leben in der Kunst – und das heißt ein andauerndes Zusammenleben mit diesen anderen in der Kunst – für einen möglich wäre“6, ohne am System der Konkurrenz zu scheitern bzw. in diesem einfach mitzuspielen.
„Die Akademie“, schreibt Verwoert (und ich ergänze: die Klasse), „ist ein Kristallisationspunkt für die in der gesamten Gesellschaft verbreitete Unsicherheit im Umgang mit der Erfahrung, dass ich und alle anderen uns gleich singulär fühlen. Das Gute an der Akademie [der Klasse] ist, dass es hier Mittel und Wege gibt, mit dieser Unsicherheit umzugehen und alternative Formen des Umgangs mit dem geteilten Gefühl auszuprobieren. […] Die Akademie [die Klasse] ist überhaupt einer der wenigen verbliebenen gesellschaftlichen Räume, wo Zeit dafür da ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Was hat mein Traum mit dem der anderen zu tun? In welchem Verhältnis steht mein Wunsch nach der Anerkennung meiner potenziellen Singularität zu dem Wunsch nach derselben Anerkennung, den die Leute um mich herum hegen? Inwiefern lässt sich dieses Verhältnis als gesellschaftliches Verhältnis und als Grundlage möglicher sozialer Beziehungen begreifen? Wie
könnten diese Beziehungen dann aussehen? […] Weil hier die Fantasie des Marktes noch nicht gänzlich institutionell verankert ist und das ökonomische Realitätsprinzip noch nicht vollkommen greift, kann die Akademie [die Klasse] ein Ort zur Entwicklung anderer Realitätsprinzipien sein. […] Das wäre ein Entwurf eines guten Lebens, der aus dem Zusammenleben an der Akademie [in der Klasse] hervorgehen kann, […], sich die Bedingungen der eigenen sozialen Existenz nicht von den bestehenden Verhältnissen diktieren zu lassen, sondern sich die Mittel und Möglichkeiten, diese Bedingungen zu gestalten, gemeinschaftlich anzueignen.“7
Qualität und Potenzialität dieser spezifischen institutionellen Struktur finde ich in Verwoerts Text, den ich hier nur in Hinblick auf seine grundsätzliche Blickrichtung zu skizzieren vermag, sehr gut umrissen und nahe an meiner eigenen Erfahrung und meinem Verständnis der
Klasse als einem vielstimmigen Resonanz-, Denkund Handlungsraum. Sie erscheint mir nach wie vor in ihrer Verbindlichkeit und als soziales Gefüge eine relevante und probate Struktur für künstlerische Lehre und Entwicklung: Sie ermöglicht und unterstützt die Entwicklung, Erprobung und Reflexion künstlerischer Artikulationen in unterschiedlichen Settings, sie regt durch ein diverses Gruppengefüge und mannigfache Kooperation mit externen Partner*innen den Wechsel von Perspektiven an und öffnet damit sowohl Blick wie Horizont, und sie gibt der Entwicklung bzw. Transformation von Einsichten und Haltungen Zeit und Raum. In der gemeinsamen Auseinandersetzung wird die Fähigkeit zum Dialog und zur Selbständigkeit im Denken und Handeln ebenso herausgefordert und geschärft, wie Kritik- bzw. Kooperationsfähigkeit und das Bewusstsein für soziale Verantwortung. Die Klasse schafft und sichert also Raum für die individuelle Interpretation, Verhandlung und Gestaltung von Verhältnissen, für die Reflexion des eigenen Geformtseins und das Wagnis neuer Bewegungen in offenen Prozessen – also ohne festgelegte Bestimmung, wo Denken und Praxis notwendig hinführen müssen. Sie bildet ein Kollektiv, in dem Denkprozesse und Arbeitsweisen in Gang kommen, die sich vermitteltem Wissen und bewährten Praxen nicht automatisch anpassen. Vielmehr wird in künstlerischen Projektarbeiten ein Möglichkeitsraum aufgeschlossen. Es werden mögliche Sichtweisen, Konstellationen und Optionen zu begreifen entworfen und erprobt, was – wie Juliane Rebentisch beschreibt – zum Beispiel meinen kann, „lebensweltlich bekannten Erfahrungswelten im Modus einer reflexiven Distanz neu zu begegnen“8. Differenzen und Nichtübereinstimmung werden in der Auseinandersetzung deshalb nicht nur „zugelassen“. Sie sind ein unverzichtbares und konstruktives Element einer kritischen Praxis. Und sie sind ein notwendiger und oft dynamischer Anstoß bzw.
die Grundlage für transformative Prozesse im Kontext von Bildung. In diesem Zusammenhang möchte ich nun die Heterotopie als Denkfigur – bezogen auf die Klasse – ins Spiel bringen.
Michel Foucault prägte mit seinem Radiovortrag von 2004 das Verständnis von Heterotopien9 als Gegenräume, Widerlager, Orte bzw. Zonen realisierter Utopie, in denen die wirklichen Räume einer Kultur zugleich repräsentiert, bestritten oder gewendet werden. Gemeinsam sei allen Heterotopien die Möglichkeit, sich ständig zu verändern und in ihrer Bedeutung zu wandeln.10
Beispielhaft und poetisch beschrieb er etwa Erlebnisräume der Kindheit als eine solche Heterotopie: „Die Kinder kennen solche Gegenräume, lokalisierte Utopien, sehr genau. Das ist natürlich der Garten. Das ist der Dachboden oder eher noch das Indianerzelt auf dem Dachboden. Und das ist – am Donnerstagnachmittag – das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden.“11
Sie als Denkfigur12 auf die eigene künstlerische Abteilung Kunst und kommunikative Praxis zu beziehen, erschien mir – als ich zum ersten Mal beides, Klasse und Heterotopie, in Resonanz dachte – augenblicklich inspirierend und gleichzeitig klärend, da mit dem Begriff plastischer wurde, wie sich Utopie und Realität dieses vielstimmigen und heterogenen künstlerischen und sozialen Raumes gleichzeitig denken lassen.13
In die Klasse einzuladen, um diese mit ihren künstlerischen Ausformungen als heterotopisch-poetischen (heterotopoetischen14) Denk- und Handlungsraum anschaulich und erfahrbar zu machen, ist nun das Anliegen der vorliegenden Publikation.
Zur Gestaltung und Profilierung dieses Raums haben drei Kolleg*innen wesentlich beigetragen, die im Buch mit keinem eigenen Textbeitrag vertreten sind, aber diese Einleitung mit ihren künstlerischen Arbeiten begleiten: Tanja Widmann, Helmut Rainer und Karl Heinz Ströhle († 2016). Ihnen danke ich für ihr großes jahrelanges Engagement! Allen Beiträgen vorangestellt ist ein Text von Daniela HammerTugendhat, die als Kunsthistorikerin viele Jahre an der Universität für angewandte Kunst Wien gelehrt und zugleich international gewirkt hat. Ich danke ihr besonders herzlich dafür, zumal sie so vielen Generationen von Studierenden den Blick auf Kunst geöffnet bzw. vertieft hat. Sie lehrte uns in ganz besonderer Weise, Kunst zu betrachten, zu begreifen, zu schätzen und zu lieben. Johanna Schwanberg, Kollegin und
Direktorin des Dom Museum Wien, hat dies anlässlich eines Festakts als Laudatorin, gewissermaßen stellvertretend, sehr treffend beschrieben: „Von Daniela Hammer-Tugendhat habe ich vermittelt bekommen, dass Kunstgeschichte zutiefst mit allen Bereichen des menschlichen Daseins verbunden ist. Denn über ihre Bildanalysen wird die Welt in all ihrer Komplexität, in all ihrer Schönheit, in all ihrer Grausamkeit, in all ihrer Widersprüchlichkeit erfahrbar. […] Daniela Hammer-Tugendhats Forschungen sind für die Gesellschaft so bedeutsam, weil sie in ihrem Ansatz ‚Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft‘ vor Augen führt, dass Bilder die Wirklichkeit entscheidend mitkonstituieren, so wie umgekehrt Kunstwerke nie losgelöst von den ökomischen, sozialen, politischen, geschlechterspezifischen und sprachlichen Realitäten einer Gesellschaft gesehen werden können. Bei all der Verortung innerhalb geschichtlicher und gesellschaftspolitischer Zusammenhänge lässt sie die Kunst aber immer Kunst sein.“15 Sie kann wie keine andere das semantische Potenzial von Kunst innerhalb diskursiver und sozialer
zeitgenössischer Praxen in seiner Aktualität aufzeigen und gilt zu Recht als eine der Pionierinnen feministischer Kunstwissenschaft. In diesem Sinne freut es mich besonders, dass ihr Beitrag das Buch eröffnet und begreifbar macht, wie sehr sowohl die Kunst vermittelnde als auch künstlerische Praxis im Dialog mit den (Kunst)Wissenschaften bereichert wird.
Die folgenden Kapitel – zur Klasse als heterotopoetische Gemeinschaft (Kap. 1), zu Projekten und einer Poetik des Diversen (Kap. 2), zu künstlerisch forschenden und in der Klasse verorteten differenziellen Praxen (Kap. 3) und schließlich zu diversen Kollaborationen und kontextuellen Gefügen (Kap. 4) – werden jeweils mit einem knappen Text, der jedes Kapitel rahmt, eingeleitet und behandeln sowohl das breit gefächerte künstlerische Produktionsfeld als auch konkrete Lehrformate, ihre konzeptuellen Hintergründe, methodischen Zugänge
und Inhalte. An dieser Stelle sei allen Autor*innen und Studierenden, deren künstlerische und textliche Arbeiten das Buch erst anschaulich machen, herzlich gedankt! Dazwischen eingefügt finden sich einzelne beispielhafte Verweise auf die insgesamt 31 Künstlerkolleg*innen, welche zwischen 2006 und 2023 im Rahmen von Gastprofessuren an der Klasse mitwirkten. Ihre internationale Vernetztheit und unterschiedlichen Expertisen öffneten immer wieder neue Erfahrungsräume und erlaubten, auf aktuelle Themen bzw. Interessen und Fragen, die in der Klasse artikuliert wurden, unmittelbar künstlerisch einzugehen. Im Zusammenspiel mit allen, oft auch außereuropäischen Projektpartner*innen ergab sich dadurch ein äußerst facettenreiches Spektrum an künstlerischen und theoretischen Produktionen, mit sowohl transdisziplinären als auch transkulturellen und an einer dekonstruktiven Pädagogik orientierten Ansätzen. Im Appendix findet sich schließlich auch ein historischer Überblick über die Entwicklung der kunstpädagogischen Studien an der Angewandten, für den dankenswerterweise Marietta Böning, selbst Kulturwissenschaftlerin und meine Projektassistentin im Vizerektorat, Archivmaterial der Universität durchforstete.
Indem die vorliegende Publikation den künstlerischen Auftrag der Abteilung im universitären Kontext im Fokus hat, geht es also in allen Beiträgen um Kunst und Lehre. In manchen Texten wird dies explizit thematisiert, in anderen implizit behandelt. Aber immer ist die Verbindung von Kunst und Lehre wesentlich; die Frage, wie Kunst und künstlerische Prozesse den Studierenden nahegebracht werden können, damit sie selbst ein künstlerisches Wahrnehmen und Begreifen, Denken und Handeln entwickeln können, beschäftigt uns alle. Da Kunst nicht eindeutig ist, bewegen sich auch