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DAS BIERECK:
BEI ZEITENWENDE LETHARGIE VERBOTEN!
Carolin Bock & Dirk Schiereck
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Nicht erst mit der Regierungserklärung zum Ukrainekrieg von Bundeskanzler Olaf Scholz ist der Begriff der Zeitenwende in aller Munde und wird inzwischen für so ziemlich jede größere Veränderung in jedwedem Kontext genutzt. Man könnte fast schon sagen, der Begriff wird inflationär verwendet, wenn nicht bei der Inflation selbst gerade viel von einer Zeitenwende gesprochen würde. Bei einem Wort, das so vielfältig und häufig zur Beschreibung herhalten muss, bleibt es kaum aus, dass die Fälle immer zahlreicher werden, in denen die Proklamation einer Zeitenwende irgendwo zwischen eher übertrieben, reichlich deplatziert und völlig absurd erscheint. Auch die Ankündigungen von Apple, sich Drittanbietern zu öffnen, und von Roger Federer, sich vom professionellen Tennissport zurückzuziehen, wurden in der Presse als Zeitenwende postuliert.
Es geht uns aber hier nicht um die saubere, präzise Formulierung in der deutschen Sprache, sondern um die Eindrücke, die in breiten Teilen der Bevölkerung entstehen können, wenn eine epochale Veränderung nach der anderen durch’s Dorf getrieben wird. Zahlreiche sehr große Veränderungen machen vielen Menschen Angst. Sie befürchten, die mit den Veränderungen einhergehenden persönlichen Anpassungsanforderungen nicht gut bewältigen zu können. Verlustangst prägt ihren Blick auf das Geschehen, und Angst kann hemmend oder sogar lähmend wirken. Starr vor Angst. Das ist ein Ausdruck, den wir oft in diesem Kontext hören. Die zahllosen Zeitenwendeprediger wären gut beraten, einmal festzustellen, wie die Überhöhung jeder Veränderung zur Zeitenwende in aggregierter Form ankommt. Und verstehen Sie uns bitte nicht falsch! Es hat zuletzt Ereignisse gegeben, die sind zweifelsohne als Zeitenwende zu verstehen, und unser Bundeskanzler hat den Begriff hier sehr angemessen eingesetzt. Aber die Rückkehr von Porsche auf den Kurszettel deutscher Wertpapierbörsen ist eine bedeutende Veränderung für das Unternehmen, aber keine Zeitenwende. Und die Entscheidung von
Gonzalo Castro, seine Fußballschuhe an den Nagel zu hängen, schon gar nicht – nicht einmal in der Schweiz. Die Auswirkungen von Unsicherheit und Schrecken konnten zuletzt die Aktionäre der Hypoport AG schmerzlichst erfahren. Der Aktienkurs brach um über 40 Prozent ein, als der Baufinanzierer verkünden musste, dass sein Geschäftsvolumen im zweiten Halbjahr so stark eingebrochen ist, dass die Prognose für das Gesamtjahr klar verfehlt wird und Aussichten für das kommende Jahr kaum möglich erscheinen. Dabei wissen wir doch seit Kostolany, dass wir an der Börse zwar durchaus auch Angst haben dürfen – nur erschrecken, das dürfen wir nie. Was brachte also den Aktienkurs der Hypoport AG zum Einstürzen? Gibt es keine Immobilien mehr zu kaufen? Doch, aber keine Kaufinteressierten. Die Zinsen? Sind gegenwärtig wohl niedriger als zum Jahresende. Die Kaufpreise? Werden in den großen Metropolen kaum sinken. Stabile Preise bei künftig steigenden Finanzierungskosten sollten eigentlich ein hektisches Kaufen wie zur Vorweihnachtszeit auslösen. Aber der Markt ist lethargisch. Notare berichten von 80 Prozent weniger beurkundeten Verträgen. Für Unternehmen ist diese Lethargie noch viel schlimmer als für Konsumenten, denn ihre Investitionen brauchen lange, bis sie umgesetzt und profitsteigernd sind. Wer mit seinen Investitionsentscheidungen wartet, bis sich die Lethargie löst, der gerät hinter den Konjunkturzyklus und riskiert seine Existenz. Deshalb ist Lethargie in der Zeitenwende streng verboten.
Fachgebietsleitung Entrepreneurship, Technische Universität Darmstadt