

Josef Krieg
Vom Wert der Lüge
Wie die Wahrheit wieder gewinnt
Zum Schutz der Umwelt verzichten wir bei diesem Buch auf das Einschweißen mit Folie.
© Claudius Verlag München 2025
Claudius Verlag im Evangelischen Presseverband für Bayern e.V. Birkerstraße 22, 80636 München
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Lektorat: Stenger & Rode GbR, München
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro und Lucida Sans Druck: FINIDR s.r.o, Český Těšín
ISBN 978-3-532-62910-9
7 Einleitung So viel Lüge war nie
15 Kapitel 1 Die Kaufkraft der Lüge
15 Lüge als anthropologische Konstante
17 Politische Täuschung – von Arendt bis Trump
19 Die Ware Information – Kapitalismus und Lüge
23 Die neue Ware: Künstliche Intelligenz (KI)
25 Die Ökonomie der Desinformation
30 Narrative Ökonomie – die Subprimekrise als Mythos
34 Die Sprache mit der Angst
37 Geschäftsmodell politische Lüge
40 Das globale Geschäftsmodell der Lüge
42 Zwischen Rausch und Rückzug
44 Wie Algorithmen Wahrheit und Gemeinschaft bestimmen
49 Plattformkapitalismus und geopolitische Abhängigkeit
52 Der ewige Kreislauf: Mehr Freiheit, mehr Kontrolle
54 Populismus als Systemlüge
60 Verachtung der Politik – Vertrauen in Experten?
64 Diskurserstickung durch Überfluss
68 Der „tiefe Staat“ und seine populistischen Helfer
72 Die ökonomisierte Lüge als kulturelles Leitmotiv
75 Kapitel 2 Plädoyer für eine Kultur der Wahrheit
75 Sprache als schöpferisches Prinzip
78 Die Macht der Worte
83 Die digitale Kakofonie
85 Fake News im Garten Eden
88 Erzählte Wirklichkeit
90 Was ist Wahrheit? – Drei Wege zur Erkenntnis
93 Wissenschaft macht Wahrheit
94 Wahrheit als göttliches Prinzip
97 Wahrheitsstau im öffentlichen Diskurs
100 Radikal wahrhaftig – die private Entscheidung für die Wahrheit
103 Christliche Kommunikation – Liebe als Wahrheitsform
106 Staunen, hören, vertrauen
109 Kapitel 3 Der neue Klang der Kommunikation
109 Langeweile! Jetzt!
112 Wenn Kirche wieder sagt, was gilt
115 Ein gemeinsames Haus aus Bits und Beten
119 Langer Schatten und neue Chance – Kirchen im medialen Wandel
122 Die Krise der kirchlichen Kommunikation der Gegenwart
125 Ein geistiger Raum in der digitalen Welt
128 Digitale Klöster – die neuen Denk- und Handlungsräume
139 Zentraler Klangkörper – die redaktionellen Medien
143 Meinung und Haltung
148 Redaktion mit Resonanz
149 License to tell the truth – ein neuer Lokaljournalismus
159 Nachhaltig und unabhängig
162 Sanfte Wahrheitsorte
165 Ausblick Europas Stimme gegen das Dröhnen der Plattformen
Einleitung So viel Lüge war nie
Lüge war immer, aber so viel Lüge war nie. Sie ist allgegenwärtig. Sie wird von den großen digitalen Kommunikationsplattformen exponentiell produziert, verstärkt und global verbreitet. Diese Plattformen – längst zu Erzählmaschinen ohne Verantwortung geworden – beeinflussen unaufhörlich das politische Geschäft, die Ökonomie und unser analoges Leben in Gemeinschaften.
Die Plattformen infiltrieren unablässig die tragenden Strukturen unserer Gegenwart. Sie verstärken Ideologien, Narrative und gesellschaftliche Programme – verschaltet mit Kapital und politischer Macht. Sie formen Geist und Körper, Technik und Sprache, Öffentlichkeit und Intimität in einem Anti-Wahrheitssystem, mithilfe von Künstlicher Intelligenz verschmelzen Wahrheit und Wirklichkeit noch mehr – der Mensch wird neu codiert und kontrolliert.
So wohnt die Lüge in unseren Institutionen, nährt sich von unseren Netzwerken, unseren Klicks, durchzieht Medien, Märkte, Milieus. Begriffen, die einst Empörung auslösten – Fake News, Deepfakes, alternative Fakten – stehen wir heute mit einem resignierenden Achselzucken gegenüber. Was wir einst als Angriff auf die Wahrheit empfanden, ist längst zur alltäglichen Kommunikationsform geworden.
Die Lüge nimmt uns die Zukunft. Wir resignieren nicht an der Welt, sondern an ihrer Unlesbarkeit. Wahrheit wird zur Pose, Zweifel zum Distinktionsmerkmal. So ist die Lüge – neben dem Konsumismus und der Technologiegläubigkeit – zum vielleicht wirkmächtigsten Schmiermittel der Postmoderne geworden: geschmeidig, allgegenwärtig, unverzichtbar. Sie glättet Ambivalenz, vermeidet Reibung, verschiebt Verantwortung – und ermöglicht so eine Wirklichkeit, die nicht mehr wahr, sondern nur noch funktional ist. Die zentralen Lügenproduzenten, einst als soziale Vernetzungsorte mit guter Absicht in die Welt gebracht, machen uns zu Zweiflern an der Moderne, dem großen gesellschaftlichen Fortschrittsprogramm. Lüge will keine echte Hoffnung.
Die systemische Lüge ist keine Entgleisung und auch nicht zufällig. Vielmehr ist sie Ergebnis einer neuen politischen Ideologie. Nach den großen Erzählungen des Faschismus und Kommunismus schien zunächst der Liberalismus als das letzte Wort der Geschichte übrig zu bleiben
– als „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Nun jedoch scheint auch der Liberalismus an einen Kipppunkt gelangt zu sein. Mit ihrer „neuen Atomwaffe“ – der Kombination aus unermesslichem Reichtum und weltumspannender digitaler Kommunikation (Steve Bannon) – basteln allen voran amerikanische Milliardärs-Tech-Ideologen an einem System, mit dem sie eine neue Gesellschaft errichten wollen: bevölkert von verführbaren Konsumisten, konservativen Rückzüglern und naiven Techgläubigen, die sich auch noch als erwähltes Volk verstehen dürfen.
Ihre prominentesten Vertreter, darunter der deutschstämmige Milliardär Peter Thiel und US-Vizepräsident James David Vance, betrachten den Menschen als optimierbares Wesen – formbar durch Künstliche Intelligenz, Gentechnik und andere technologische Durchbrüche. Die Rettung des Menschen liegt für sie in der Überwindung dessen, was sie als seine menschliche Begrenztheit sehen. Diese Haltung entstammt einer utilitaristischen Logik, wie sie im Silicon Valley – dem selbst ernannten vierten Rom – über Jahre zur Ideologie geronnen ist – einem Streben nach Effizienz und Perfektion, in dem moralische und soziale Dilemmata als Bremsen gelten. Die transhumanistische Vision vom ewigen Leben und von der Überwindung biologischer Grenzen, lange als moderne Hybris belächelt, tritt heute als neue Religion auf, in der sich technologische Allmacht und metaphysischer Anspruch vereinen.
Wie alle großen Erzählungen beginnt auch diese mit einer grundlegenden Lüge: Gib mir deine Freiheit und Einzigartigkeit – und ich werde dich schützen, bewahren, groß machen. Nicht der Mensch, wie er geht und steht, gilt als wahrer Mensch, sondern der Mensch, der zur Gemeinschaft der richtigen Plattform gehört. Sie kennt ihn, sie lenkt ihn, entscheidet für ihn. Sie verspricht ihm Ewigkeit.
Der Staat wird überflüssig. Gesellschaftlicher Diskurs, demokratische Aushandlung, politische Verantwortung –alles wird zum Relikt eines zu langsamen Zeitalters. Den Verfechtern dieser Logik geht es um Geschwindigkeit, Skalierung, Rendite. Ihre Gesellschaft kennt keine Demokratie, sondern Familien als Erfahrungsräume, in denen sich Kultur, Religion und Tugend des Ichs herausbilden – abgeschirmt, konservativ und digital.
Sie lehnen die Kraft zivilisatorischer Emanzipation ab –nicht, weil sie nicht denken könnten, sondern weil sie lieber glauben. Die Rückkehr zum verlorenen Paradies beruhigt sie mehr als der unsichere Blick nach vorn. Menschen sollen sich nicht mehr selbst finden, sondern sich von der Suche entlastet fühlen. An ihre Stelle tritt eine neue Ständegesellschaft, geführt von Visionären und Vordenkern, die aus Daten und Projektionen zu wissen glauben, was wir wollen und brauchen. Platons alte Prophezeiung, dass es immer Führende und Geführte geben müsse, wird hier
systemisch in der Attitüde technologischer Führerschaft zementiert. Ein geistiges Stoppschild für jede offene Gesellschaft.
In China entsteht seit Jahren so etwas wie das „kommunistische“ Gegenstück: Social Scoring. Der chinesische Staat verfolgt mit diesem System ein Modell, in dem Bürgerinnen und Bürger durch Technik, Medien und Sensorik unter staatlicher Kontrolle zum konformen Verhalten „motiviert“ werden – wer sich anpasst, wird belohnt; wer ausbricht, wird öffentlich sanktioniert. Der Einzelne kann diesem System kein öffentliches Veto entgegensetzen. Sein Sozialverhalten wird nicht nur begleitet, sondern auf den großen Plattformen wie WeChat oder TikTok auch in privaten Chats überwacht, zensiert und – auch öffentlich –korrigiert. So entwickelt sich ein öffentliches Klima, das einen Keil zwischen das tatsächlich Erlebte und die geforderte Realität der Menschen treibt. Die Zensur der COVID-19-Berichterstattung hat dem Regime gezeigt, wie kurz die Lunte ist, wenn Kontrolle und Alltag zu weit auseinanderklaffen.
Europa, insbesondere Deutschland, steht inmitten dieser tektonischen digitalen Verschiebung. Die ökonomische und geopolitische und zum Teil digitale Abhängigkeit von den USA und China schränkt die Handlungsfähigkeit ein. Eine echte strategische Autonomie wäre teuer – politisch wie kulturell. Doch sie ist notwendig. Europa muss aus
seiner Zuschauerrolle heraustreten, sich im Dreieck USA–China–Russland behaupten und zugleich die inneren Feinde der Demokratie, die illiberalen Bewegungen, kleinhalten. Die wehrhafte Demokratie wird mehr sein müssen als ein Bekenntnis. Sie wird Haltung und Handlung sein müssen.
Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit wieder zurückzugewinnen. Die gängigen Plattformen, gebaut auf Gewinnmaximierung, Desinformation und Datenverwertung, sind dabei längst zu digitalen Armeen der Gegner unserer Demokratie geworden. Ihre mächtigste Waffe: die systemische Lüge. Hierzu haben wir eine Alternative, ein Gegenangebot. Unsere Antwort ist kein weiterer Algorithmus – sondern eine neue Erzählung: von Beziehungen, von Gemeinschaft, von Sinn. Die Alternative ist eine Menschheitsgeschichte, die durch Werte geschrieben wird, nicht durch Maschinen. Diese Geschichte ist getragen von Werten, die universell und zugleich gewachsen sind – gewachsen aus Humanismus, Glaube und Demokratie. Sie ist dem ehrlichen Streben nach Wahrheit verpflichtet, einem Streben, das auf echter Gemeinschaft und Zuversicht beruht.
Haben wir die Kräfte, die diesem neuen Maschinenmenschentum etwas entgegensetzen können? Wer kann Bindung stiften, ohne zu kontrollieren? Wer Gemeinschaft denken, ohne auf Ausgrenzung zu setzen? Die europäische Tradition, maßgeblich geprägt von Christentum und Auf-
13 klärung, sieht den Menschen nicht als isoliertes, technischchemisches Produkt, sondern als soziales und kulturelles Wesen, das auf Gemeinschaft ausgerichtet ist. In der europäischen Kulturgeschichte sind technischer Fortschritt und Ethik keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Technik ist hier Werkzeug und niemals Selbstzweck – eingebettet in einen moralischen Rahmen, der die Würde des Einzelnen und den sozialen Zusammenhalt betont.
Wer sind in Europa die letzten Giganten, die viele Menschen an sich binden? Es sind trotz ihres unbestreitbaren Mitgliederschwunds insbesondere die christlichen Kirchen. In Deutschland haben sie immerhin über 38 Millionen Mitglieder – etwa die Hälfte der Bevölkerung –, in Europa über 550 Millionen. Doch viele dieser Kirchen sind gegenwärtig sprach- und konzeptionslos, zu sehr mit sich selbst beschäftigt oder eingebunden als politisches Sprachrohr – wie etwa die russisch-orthodoxe Kirche. Abgesehen von autoritären Instrumentalisierungen müssen sich die Kirchen – aus Eigeninteresse und aus Verantwortung für ihren eigenen Auftrag – überlegen, welche aktive Rolle sie in der Gestaltung der Zukunft spielen wollen: als Trägerinnen einer froh machenden Botschaft und als Erben eines Denkens, das Wahrheit als Auftrag und Gemeinschaft nicht als Mittel, sondern als Ziel versteht. Doch welche Rolle kann man Christen und christlichen Kirchen in einer Welt zuweisen, die scheinbar den Glauben an
Wahrhaftigkeit verloren hat? Können sie helfen, Gemeinschaft neu zu denken? Haben sie einen originären Beitrag für eine digitale Welt, die menschlich bleiben will?
Dieses Buch ist eine Reflexion darüber, wie die Lüge systemisch ihren Wert steigert – und wie wir die Wahrheit, die uns frei macht (Joh 8,32), zurückgewinnen können.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, wie wir in analogen und digitalen Räumen Gemeinschaften des Staunens und der Wahrheitssuche aufbauen können – als Antwort auf den allgegenwärtigen Marktwert der Lüge.
