Grau, Alexander: Die Zukunft des Protestantismus

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Alexander Grau

Die Zukunft des Protestantismus

Jesus spricht: „Werdet Vorübergehende.“

Thomas-Evangelium, Logion 42

Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht

Grüfte und Grabmäler Gottes sind?

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

7 Vorwort

11 Einleitung Der Stand der Dinge

26 Kapitel 1 Rettungsversuche

55 Kapitel 2 Gottes Sterben

79 Kapitel 3 Gottes Tod

96 Kapitel 4 Freiheit und die Weltlichkeit der Welt

120 Fazit Das protestantische Prinzip

143 Anmerkungen

147 Literatur

Noch ein Buch über Religion? Über den Protestantismus sogar? Braucht es das noch? Hat sich das Thema Glaube nicht erledigt – vom Protestantismus ganz zu schweigen? Fluten zudem nicht jedes Jahr unzählige Bücher über Kirche, Religion oder Spiritualität den Buchmarkt? Ist das Thema in der deutschen Verlagslandschaft nicht überrepräsentiert? Fast scheint es mehr Bücher über den Glauben zu geben als Gläubige.

In der Tat: Bücher über Kirche, Religion und Glauben gibt es mehr als genug. Und es gehört auch zu den Realitäten unserer Zeit, dass diese Themen Autoren mehr zu beschäftigen scheinen als das Lesepublikum. Dass dieser Essay doch noch geschrieben wurde, hat vor allem einen Grund: Überfliegt man die Titel der Verlagsprogramme, die sich mit dem Themenkreis Religion, Religiosität, Glaube und Kirche befassen, so lassen sich diese grob in zwei Lager teilen: Da sind zum einen jene Bücher, die aus

einer subjektiven Perspektive von persönlichen Glaubenserfahrungen ihrer Autoren berichten, von individuellen Glaubenszweifeln, von spirituellen Erfahrungen, von Aufenthalten in Klöstern, Wanderungen auf dem Jakobsweg, meditativen Erlebnissen, persönlichen Schicksalen und dem Ringen mit Religion und Kirche. Und da sind zum anderen jene Veröffentlichungen, die sich zumeist mit Hingabe der Kritik an der Institution Kirche widmen. Dabei geht es dann beispielsweise um den Zölibat, die Kreuzzüge oder die Hexenverbrennungen, um Macht und Herrschaft, um Frauenfeindlichkeit und Sexismus, um Hierarchien und Demokratiedefizite. Doch das vorliegende Buch will weder das Genre der guten alten Kirchenkritik bedienen noch von persönlichen Glaubenserfahrungen oder spirituellen Erlebnissen berichten. Diese Aspekte sind im Grunde nachgeordnete Phänomene. Beide basieren auf einer grundlegenderen und umfassenderen Entwicklung: der Säkularisierung, also dem Verlust des Christentums als den Alltag bestimmende kulturelle Kraft. Erst dieser Prozess ermöglichte die kritische Auseinandersetzung mit der Institution Kirche ebenso wie die Suche nach neuen Glaubenserfahrungen.

Die Säkularisierung der Alltagskultur zerstörte den essenziellen Kernbestand des Christentums: den Glauben an Gott. Religiöser Glaube und die Wirklichkeit einer technisierten und naturwissenschaftlich erschlossenen

Welt passen für die meisten Menschen nur schwer zusammen. Diese Entwicklung – ich betone das mit Nachdruck – wird im Folgenden weder beklagt noch kritisiert. Aufklärung, Säkularisierung und die damit einhergehende Entzauberung der Welt werden im vorliegenden Buch nicht verteufelt, im Gegenteil. Die leitende Frage muss vielmehr sein: Was bleibt in einem postreligiösen Zeitalter vom Christentum, insbesondere in seinem protestantischen Verständnis, übrig? Hat sich der Protestantismus im gewissen Sinne zu Tode gesiegt? Scheitert er an seinem Triumph?

„Gott ist tot! Gott bleibt tot!“, lässt Friedrich Nietzsche den tollen Menschen rufen. Diese Diagnose ist der Hintergrund, vor dem sich die Frage nach der Zukunft nicht nur des Protestantismus, sondern des Christentums im Allgemeinen stellt. Dass wir das aus dem Blick verloren haben und Glaubensfragen lieber in Gestalt von Debatten über Institutionen, Skandale oder gesellschaftspolitische Haltungen führen, sagt mehr über den Glauben in modernen Gesellschaften als viele tiefschürfende Analysen.

Das vorliegende Buch ist also nicht der soundsovielte Versuch, der Botschaft der Bibel eine mit dem Denken der Moderne kompatible Lesart abzuringen. Es erzählt auch nicht von persönlichen Glaubenserfahrungen. Vielmehr suchen die folgenden Seiten eine Antwort auf die Frage zu finden, ob und, wenn ja, wie protestantisches und

christliches Denken in einer spätmodernen, durchtechnisierten, rationalen und wissenschaftlich orientierten Welt möglich ist – und was das bedeutet.

Wenn im Folgenden von der Zukunft des Protestantismus die Rede ist, dann ist damit weder eine Institution gemeint noch eine Amtskirche oder Glaubensgemeinschaft, sondern eine religiöse Überzeugung, eine Denkfigur, ein intellektueller Weltzugang. Von der Zukunftsfähigkeit dieser inneren geistigen Haltung bin ich zutiefst überzeugt, da sie letztlich im Einzelnen und seiner Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität wurzelt.

Die Diagnose und ihre Konsequenzen werden gläubige und kirchennahe Menschen vielleicht als Provokation empfinden – auch wenn sie für theologisch Bewanderte so neu nicht sind. Doch angesichts der fortschreitenden Säkularisierung, des Erfolgs nichttheistischer Spiritualitätstechniken in der Alltagskultur, eines sich ausbreitenden religiösen Fundamentalismus sowie des Erstarkens dogmatischer und engstirniger Ersatzreligionen ist eine illusionslose Bestandsaufnahme ebenso notwendig wie entsprechende Schlussfolgerungen. Dafür will der vorliegende Essay ein Anstoß sein.

Wiesbaden, im Juli 2025

Einleitung Der Stand der Dinge

Die Sehnsucht nach Orientierung ist groß. Neue Formen der Spiritualität avancieren zum Lifestyle. Die Esoterikbranche boomt. Kaum eine Absonderlichkeit ist abwegig genug, um nicht doch Anhänger zu finden. Selbst vollkommen rationale Menschen suchen Hilfe beim Schamanen oder schwören auf die Wirkung von Magnetbändern, Globuli und Mondsteinen. Der Mensch der Spätmoderne, er ist von einem tiefen Sinndefizit erfasst.

Das liegt auch daran, dass vor allem in Westeuropa vielen Menschen der Bezug zu jeder Form von Transzendenz abhandengekommen ist. Neu ist dieses Phänomen nicht. Spätestens seit den frühen 1960er-Jahren wird es intensiv diskutiert.1 Inzwischen ist es allerdings zu einer Massenerscheinung geworden.2 Im Alltag zeigt sich diese Entwicklung in veränderten Wertevorstellungen, einer säkularisierten Alltagskultur, aber auch in der Weltlichkeit populärer Spiritualitätsmoden wie Yoga oder anderer

Meditations- und Entspannungspraktiken. Zumindest in ihrer westlich entschlackten Form handelt es sich dabei um ganz diesseitige, vollständig physische Techniken, allenfalls oberflächlich garniert mit Symbolen exotischer Spiritualitätsfolklore. Im Mittelpunkt steht der eigene Körper, das eigene physische Wohlbefinden. Dass hierbei angeblich die Einheit von Körper und Geist zelebriert wird, wie einschlägige Phrasen glauben machen wollen, unterstreicht dabei unfreiwillig den vollständig diesseitigen Charakter dieser Religionsderivate.

Aller traditionellen Götter beraubt, betet der Mensch der westlichen Moderne nunmehr sein persönliches IchIdeal an. Und wo früher ein Pfarrer versuchte, mit Verweis auf eine transzendente Welt den Menschen Halt zu vermitteln, geben heute Coaches, Personal-Trainer und Psychotherapeuten Rat für die ganz weltliche und individuelle Erlösung. Das muss naturgemäß scheitern, sorgt für Depressionen und Frustrationen und treibt die Menschen immer weiter in die Spirale vermeintlicher Selbstoptimierung.

Ein damit einhergehender Aspekt ist die geradezu religiöse Aufladung gesellschaftspolitischer Vorstellungen. Es ist alles andere als ein Zufall, dass spätestens seit der Französischen Revolution politische Ideologien quasireligiösen Status erhielten. Besonders deutlich wird diese Tendenz bei den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und

13 ihrer Aufwertung politischer Programme ins Klerikale. Aber auch heutzutage verrennen sich nicht wenige politische Bewegungen in geradezu religiöse Denkkategorien. Man ist gefangen in einem manichäischen Weltbild. Es gibt nur das Gute und das Böse, Weltenrettung oder Weltenuntergang. Man wähnt sich in einem geradezu apokalyptischen Endkampf, in dem es um nicht weniger als die Erlösung der Welt und ihre Errettung vor dem Bösen geht. Die Weltgeschichte entlarvt sich als politische Heilsgeschichte, die auf ein Endziel zuläuft. Das Auftreten einer Gruppierung, die sich „Letzte Generation“ nennt, ist nur die logische Konsequenz einer solchen säkularen Apokalyptik. Entsprechende politische Vorstellungen werden mit einem an Fanatismus grenzenden Glaubenseifer vertreten.

Der Zerfall der letzten großen „politischen Religion“3 in Gestalt des Kommunismus Ende des 20. Jahrhunderts hat offensichtlich ein politreligiöses Sinnvakuum hinterlassen. Die so entstandene politspirituelle Lücke wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend von politischen Bewegungen, Aktivisten und NGOs gefüllt, die sich nicht einfach nur als Mitbewerber in einem demokratischen Prozess verstehen, sondern als Gesandte höherer politmoralischer Wahrheiten. Ihr Erfolg verdankt sich weniger den von ihnen thematisierten realen Problemen, sondern dem tiefen Bedürfnis nach Lebenssinn und normativer

Orientierung. Das ist auch der Grund dafür, dass diese Bewegungen nicht einfach nur pragmatisch tagespolitische Ziele verfolgen, sondern mit missionarischem Eifer das Leben aller verändern wollen.

Entsprechend gibt man sich als Erleuchtete oder Erweckte. Man geriert sich als Märtyrer der allein wahren Weltsicht und gewinnt so Halt und moralische Eindeutigkeit in einer mehrdeutigen Welt. Wie diesseitig dieses politspirituelle Sinnangebot ist, zeigt sich allerdings schon daran, dass das inszenierte Märtyrertum eher symbolischer Natur ist und zumeist nicht die Komfortzone des Wohlstandbürgers verlässt.

Es ist nicht die Intention dieses Buches, diese Entwicklung irgendeiner Kritik zu unterziehen. Kulturgeschichtlich gab es zu ihr vermutlich keine Alternative. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass sich Herrschaftsformen, Technologien und Wirtschaftssysteme verändern, Religion, Glaube und Frömmigkeitspraxis aber zu irgendeinem Zeitpunkt gleichsam einfrieren. Man kann nicht im 21. Jahrhundert leben, aber auf eine Glaubenskultur des 18. Jahrhunderts hoffen. Die Welt bleibt bekanntlich nicht stehen, Religionen und ihre vorgeblichen Wahrheiten ebenso wenig.

Umso wichtiger ist daher, die hinter diesen Entwicklungen stehenden gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Prozesse zu verstehen. Seit der Aufklärung haben

insbesondere protestantische Theologen versucht, die zunehmende Kluft zwischen der Vorstellungswelt einer antiken Erlösungsreligion und der Wirklichkeit einer zunehmend technischen und durchrationalisierten Welt zu überbrücken. Das hat zugleich dazu geführt, dass die protestantische Theologie der Moderne die entsprechenden Veränderungen religiöser Vorstellungen nicht nur begleitet, sondern forciert, geprägt und gestaltet hat.

Wie dicht die protestantische Theologie über Jahrzehnte am Puls der Zeit war, zeigt sich unter anderem an dem öffentlichen Interesse und der massenmedialen Begleitmusik, mit der theologische Debatten von der Öffentlichkeit verfolgt wurden. Von David Friedrich Strauß’ berühmten Bestseller Das Leben Jesu im Jahr 1808 bis zur sogenannten Gott-ist-tot-Debatte, die es im Jahr 1966 sogar auf den Titel des TIME Magazine brachte4, erstreckt sich eine Phase von etwa hundertsechzig Jahren, in der theologische Grundlagenfragen die westlichen Gesellschaften in einem heute kaum noch vorstellbaren Maße beschäftigten.

Diese Epoche markiert zugleich die letzte große Ära der Theologie, die mit Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß begann und im 20. Jahrhundert mit Ernst Troeltsch, Friedrich Gogarten, Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich endete. Dass die Genannten ausschließlich Protestanten waren, ist dabei kein Zufall.

Während sich der Katholizismus über Jahrzehnte in einem

Kampf gegen die Moderne verzettelte – man denke nur an die von Papst Pius IX. formulierte Schrift Syllabus errorum von 1864 oder die Einführung des Antimodernisteneides durch Pius X. im Jahr 1910 –, zogen große Teile des städtischen, protestantischen Bürgertums ihr Selbstbewusstsein daraus, Speerspitze der Modernität zu sein. Darauf musste die protestantische Theologie reagieren.

Über Religion in unserer Gegenwart und ihre mögliche Zukunft lässt sich also nicht sinnvoll nachdenken, ohne die Entwicklung des protestantischen Denkens der letzten zweihundert Jahre vor Augen zu haben. Gerade weil die protestantische Theologie dabei die Grenzen des theologisch Denkbaren ausreizte und das aus traditioneller Sicht Undenkbare zu denken versuchte, ist das vorliegende Buch hoffentlich auch für Menschen interessant, die weder dem Protestantismus als Konfession noch dem Christentum nahestehen, sondern an theologischem Denken, an Religionsphilosophie oder Mentalitätsgeschichte interessiert sind.

Die Moderne, in der wir leben, ist – selbst im globalen Maßstab gedacht – eine ganz wesentlich durch den Protestantismus geprägte Moderne. Der Protestantismus markiert im Guten wie im Schlechten den Rahmen, in dem sich andere Religionen oder Konfessionen im 21. Jahrhundert positionieren werden. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Letztlich war es das Christen-

17 tum selbst, das der Moderne langfristig den Weg bereitete, indem es der Welt einen ersten Schub der Entzauberung bescherte, Dämonen und Naturgeister verbannte, Gott in die Transzendenz abschob und den Einzelnen, seine Sehnsüchte und Befindlichkeiten aufwertete.

Insbesondere die Vorstellung vom menschgewordenen Gott, von einem Logos, der sich in einem Sterblichen manifestiert, pulverisierte geradezu die Vorstellungswelt der Antike. Langfristig führten diese Ideen zu einer Supernova wissenschaftlicher, sozialer, künstlerischer, ethischer und politischer Revolutionen. Denn wenn Gott sich in einem gewöhnlichen Sterblichen zeigt, in einem Handwerkersohn, geboren in einem Stall und gekreuzigt wie ein Verbrecher, hat dann nicht jeder Mensch etwas Göttliches? Ist nicht jeder Mensch dann gleich wertvoll, gleich wichtig?

Hat er dann nicht die gleichen Rechte, unabhängig von sozialem Stand, Herkunft oder Geschlecht?

Um es pointiert zu formulieren: Ohne Christentum kein Humanismus, keine Aufklärung, keine Französische Revolution, kein Liberalismus, kein Sozialismus. Und ohne Christentum keine Säkularisierung und kein Atheismus. Es war das Christentum, so wie es sich im Westen als paulinisches, von der griechischen Philosophie geprägtes Christentum durchsetzte, das nicht nur die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit langfristig auf die Agenda der Kulturgeschichte schrieb, sondern auch jenen

Individualismus und rationalistischen Skeptizismus, der sich schließlich gegen den Glauben selbst wendete.

Ein entscheidender Faktor bei dieser Entwicklung war die Reformation. Diese war Ausdruck einer sich wandelnden Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters. Langfristig erwies sie sich als Beschleunigerin der religionskulturellen Modernisierungsprozesse der Neuzeit. Martin Luthers Theologie stärkte dabei mit Nachdruck, was schon immer im Christentum angelegt war, jedoch durch die Institutionalisierung des Glaubens in der Spätantike, die Verwerfungen der Völkerwanderung und die Denkschablonen mittelalterlicher Feudalgesellschaften über Jahrhunderte verdeckt wurde: die Bedeutung des Einzelnen und der religiösen Subjektivität im unmittelbaren Verhältnis zu Gott. Für den Protestantismus im Besonderen wie für das Christentum im Allgemeinen gilt daher, dass seine Krise zugleich seine Vollendung markiert. Die Auflösung des institutionalisierten Christentums und das Abwandern von Fragen nach Lebenssinn und Orientierung in die Alltagskultur sind nicht Ausdruck eines Niedergangs christlicher und protestantischer Religiosität, sondern ihr finaler Triumph.

Der Preis dafür ist offensichtlich: Zu Hunderttausenden verlassen die Menschen die beiden großen Konfessionen. Die christliche Botschaft in ihrer ursprünglichen Form – über Jahrhunderte kaum bezweifelte Gewissheit,

Heilswissen und Prägekraft der europäischen Kultur –wird kaum noch gehört. Mehr noch, die meisten Menschen wüssten nicht einmal zu sagen, worin sie besteht. Mehr als die dürftige Auskunft, dass es irgendwas mit Nächstenliebe und Friede zu tun hat, ist selten zu bekommen. Eine ursprünglich hochkomplexe Kosmologie und Metaphysik wird reduziert auf ein paar wohlfeile Moralbotschaften. Die nach Orientierung und Sinn suchenden Gesellschaften der Moderne sind unempfänglich geworden für die Bilder und Sprache des Christentums.

Warum ist das so? Wie konnte es dazu kommen? Und was bedeutet das für die Zukunft? Wer sich solche oder ähnliche Fragen stellt, ist gut beraten, gedanklich erst einmal reinen Tisch zu machen, sich von Wunschvorstellungen zu befreien und die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nüchtern zu betrachten. Die größte Illusion, von der man sich verabschieden muss, ist die Idee, dass Fragen nach der Bedeutung der Religion und der Rolle der Kirchen in einer modernen Welt von allgemeinem Interesse sind. Das sind sie nicht. Das zu betonen, gebietet die intellektuelle Redlichkeit.

Im Grunde eignen sich die Themen Religion und Kirche inzwischen nicht einmal für einen Abgesang. Allenfalls eine Handvoll theologischer Profis, engagierter Laien und letzter Bildungsbürger sind noch an diesen Themen interessiert und blicken mit einem Gefühl des Verlustes

oder der Trauer auf die seit Jahrzehnten ablaufende Entwicklung einer umfassenden Entfremdung unserer Gesellschaft von der Sprache, den Symbolen und Institutionen des Christentums. Nicht einmal die Kritik an Religion und Kirche interessiert mehr. Was gestern noch Skandale verursachte, wird heute allenfalls belächelt. An die Stelle eines interessierten Agnostizismus ist Gleichgültigkeit und Unkenntnis getreten. Damit sind wir im finalen Stadium des Niedergangs des Christentums als Volksreligion angekommen.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich die Kirchen auflösen oder Menschen sich nicht mehr als Christen verstehen werden. Doch diese Christen und die Kirchen, in denen sie sich organisieren, werden eine Minderheit sein – und sie werden eine Weltanschauung vertreten, die mit dem, was über Jahrhunderte als Christentum verstanden wurde, nicht viel zu tun hat.

Eine besondere Rolle kommt dabei wiederum dem Protestantismus zu. Im Vergleich zum Katholizismus spielen bei ihm Überlieferung, offizielle Lehre, Institution und Tradition eine weniger bedeutende Rolle. Aus diesem Grund ist er nicht nur in der Lage, sich Strömungen des Zeitgeistes, intellektuellen Entwicklungen und kulturellen Trends anzupassen, sondern diese auch nachhaltig zu prägen. Bis weit in das 20. Jahrhundert war das auch so. Doch inzwischen hechelt zumindest der offizielle Gremi-

21 enprotestantismus dem Zeitgeist eher hinterher, als ihn zu formen. Das ist oftmals lächerlich, meistens entwürdigend und fast immer weit entfernt von dem, was einmal Protestantismus war: ernsthafte Innerlichkeit und liberale, aufgeklärte Bürgerlichkeit. Stattdessen flieht man zumeist in ein unappetitliches Amalgam aus linken Politphrasen und moralischem Kitsch, garniert mit Spiritualitätsfolklore aus dem bunten Angebot des weltweiten Religionsmarktes. Angesichts dieser Situation, aber auch vor dem Hintergrund von Austrittszahlen, aufgegebenen Kirchengebäuden und zusammengelegter Gemeinden, prognostizieren nicht wenige dem Protestantismus in Deutschland und in Europa eine ebenso düstere Zukunft wie dem Christentum im Allgemeinen.

Doch das ist vielleicht übereilt und vor allem einseitig gedacht. Denn es koppelt den Erfolg des Protestantismus an Gottesdienstbesuche, Kirchenmitgliedszahlen oder klassische Glaubensbekundungen. Das allerdings ist eher katholisch und vollkommen unprotestantisch argumentiert. Wer die Zukunft des Protestantismus abschätzen will, ist gut beraten, ihn an seinen eigenen theologischen und intellektuellen Grundlagen zu messen. Das wird im Folgenden versucht. Allerdings gehört es zur intellektuellen Seriosität, darauf hinzuweisen, dass es letztlich unmöglich ist, die Denktradition des Christentums wirklich zu verlassen. Insbesondere scharfe Kritiker des Christentums,

die sich gegen seine Glaubensinhalte, Institutionen und deren angebliche Verlogenheit wenden, erweisen sich fast immer in ihrer moralischen Ernsthaftigkeit und ethischen Rigorosität als zutiefst christlich. Kaum etwas ist christlicher, als all die antireligiösen, antiklerikalen, laizistischen und säkularen Vereinigungen, Denker und Gruppierungen, die sich unter dem Fähnchen eines moralischen Humanismus gegen das Christentum und seine Kirchen wenden. Denn ihre Kritik beruht auf Werten und Normen, die es ohne das Christentum nicht gäbe. Was sich heute als säkularer Humanismus präsentiert, ist im Grunde nichts anderes, als eine radikale christliche Ethik ohne entsprechende Metaphysik. Tom Holland betont in dem Vorwort zu seinem imposanten Buch Herrschaft. Die Entstehung des Westens daher zu Recht, dass die Grundannahmen, mit denen wir alle aufgewachsen sind, nicht aus der klassischen Antike stammen und noch weniger aus der menschlichen Natur, „sondern ganz klar aus der christlichen Vergangenheit dieser Zivilisation. Der Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der Zivilisation des Westens war so tiefgreifend, dass er unsichtbar geworden war.“5 Gerade dort, wo wir meinen, nichtchristlich zu sein, sind wir es zumeist in besonderem Maße.

Das hat auch damit zu tun, dass das Christentum unser Verständnis davon, was eine Religion ist, erheblich geprägt hat. Gerade dort, wo Religion religionspsycholo-

gisch, religionsanthropologisch oder religionssoziologisch als Symbolsystem, als Kontingenzbewältigungspraxis oder als Weltdeutungserzählung interpretiert wird, zeigt sich ein Bild von Religion und Glaube, das zutiefst von christlichen Vorstellungen durchdrungen ist. Denn ohne die Idee, dass Religion eine persönliche Glaubens- und Frömmigkeitspraxis ist, die einen Bezug zwischen einem Individuum und einer transzendenten Größe herstellt, sind solche religionswissenschaftlichen Deutungen kaum vorstellbar.

Mit dem globalen Siegeszug westlicher Lebensart und Kultur hat sich auch deren Vorstellung von Religiosität globalisiert. Selbst Religionen, die im Grunde nicht in das monotheistische Schema passen, werden unter dieser Perspektive betrachtet und eingeordnet. Die Zukunft des Protestantismus und des Christentums wird sich also in einer Welt ereignen, deren Denkmuster, Gewohnheiten und Alltagskultur weit über den christlichen Kulturraum hinaus faktisch von ihnen durchdrungen sind. Das macht die Situation so ambivalent.

Dabei erhebt das vorliegende Buch nicht den Anspruch, in die Zukunft zu schauen. Vielmehr soll zunächst verdeutlicht werden, was den Protestantismus im Innersten ausmacht. Nur dann lässt sich entscheiden, ob dieser Kernbestand protestantischer Weltauffassung zukunftsfähig ist oder nicht. Dabei wird sich zeigen, dass

der Protestantismus keine starre Lehre oder Ansammlung von Dogmen darstellt, sondern ein intellektuelles Prinzip, das sich gegen jede Form vermeintlich ewiger Wahrheiten, zeitloser Ideen, weltlicher Erlösungsfantasien und uniformen Denkens wendet. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die protestantische Theologiegeschichte seit der Aufklärung grob skizzieren. Dies geschieht nicht in der Absicht, eine Theologiegeschichte zu schreiben, sondern um anhand der Entwicklung der protestantischen Theologie die gravierenden Umformungsprozesse moderner Religiosität zu umreißen.

Insbesondere seit Schleiermacher haben protestantische Theologen versucht, auf den Glaubwürdigkeitsverlust traditioneller religiöser Sprache und Bilder zu reagieren. Eine Geschichte moderner protestantischer Theologie ist daher immer zugleich eine Geschichte der intellektuellen und spirituellen Bedürfnisse und Sprachbilder der Moderne, ohne die sich über die Zukunft der Protestantismus – aber auch anderer Religionen und Konfessionen – nicht sprechen lässt.

Die folgenden Kapitel bieten daher einen kurzen Abriss protestantischer Theologiegeschichte, beginnend bei Schleiermacher und anderen religionspsychologisch geprägten Ansätzen, über die Vertreter der historischen Bibelkritik bis zu den bedeutenden Theologen des 20. Jahrhunderts wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Dietrich

Bonhoeffer, Friedrich Gogarten und Paul Tillich. Darauf aufbauend werden, angelehnt an Ludwig Wittgenstein und Ernst Tugendhat, die Grundlagen eines intellektuell redlichen Verständnisses religiösen Denkens und Sprechens skizziert. Abschließend zeigt sich: Protestantismus ist eine Religion für freie Menschen, ein Bollwerk gegen autoritäre Ideologien, Kollektivismus, Gemeinschaftskitsch, gegen Uniformität und den Wahn ewiger Wahrheiten. Er wird überall dort eine Zukunft haben, wo Menschen für ihre Freiheit kämpfen, für Rationalität, intellektuelle Eigenständigkeit und den Abschied vom Prinzipiellen.

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