

Jörg Phil Friedrich Republik in der Krise
Was eine lebendige
Demokratie ausmacht
7 Einführung
11 Kapitel 1 Zwei Mythen von den Anfängen der Demokratie
25 Kapitel 2 Was ist Politik?
47 Kapitel 3 Der Charakter der politischen Institutionen
65 Kapitel 4 Die undemokratische Republik
91 Kapitel 5 Warum Parteien disziplinieren
121 Kapitel 6 Ist eine demokratische Republik möglich?
143 Kapitel 7 Auf der Schwelle
157 Anmerkungen
Demokratie ist derzeit in aller Munde. Sie steht auf dem Spiel und soll verteidigt werden. Das haben sich allerdings ganz verschiedene Gruppierungen auf die Fahnen geschrieben. Die einen fürchten um die Stabilität der politischen Institutionen der Republik und meinen, die Demokratie gerate in Gefahr, wenn sich Skepsis über das Funktionieren von Parlamenten und Regierungen, Gerichten und Behörden verbreitet, die anderen halten genau diese Institutionen in ihrer aktuellen Erscheinung für das Ende der Demokratie. Die einen verknüpfen moralisch hohe Ziele wie die Bekämpfung von Klimawandel, Umweltzerstörung und Armut im Wesen mit der Demokratie, die anderen meinen, dass Demokratie im Namen dieser hehren Ziele gerade ausgehöhlt wird.
Aber vielleicht sind gerade all diese Diskussionen und Konflikte der Beleg dafür, dass zwar die Republik in der Krise ist, die Demokratie aber heute so lebendig ist wie
schon lange nicht mehr. Vielleicht ist all diese Unübersichtlichkeit, dieses widerspruchsvolle Chaos im Grunde das, was Demokratie in ihrem Wesen ausmacht.
Dass Demokratie und Republik nicht das Gleiche sind, daran erinnert noch die Tatsache, dass es im Mutterland der modernen Staatsgebilde, den USA, zwei politische Parteien gibt, von denen die eine sich demokratisch nennt, während die andere sich als republikanisch bezeichnet. Im Alltag sprechen wir fast nur noch von Demokratie, wenn wir die politische Organisationsform der Staaten bezeichnen wollen, die Republiken genannt werden. Es scheint, als wäre dies das demokratische Ideal der Herrschaft aller in den modernen Großgesellschaften durch ihre Verfassung als Republik gesichert. Aber das ist nicht selbstverständlich. In diesem Essay will ich zeigen, dass sich eine Republik weit von dem Anspruch entfernen kann, demokratisch zu sein oder Demokratie zu sichern.
Um Klarheit über das Problem, das uns beim Anblick der politischen Situation in den sogenannten demokratischen Staaten der Welt in Sorge versetzt, zu bekommen, ist es nötig, von hier ab begrifflich zu trennen zwischen Demokratie und Republik. Die begriffliche Trennung fällt schwer, weil wir es so sehr gewohnt sind, von „der Demokratie“ und von „demokratisch“ zu sprechen, wo wir eigentlich „die Republik“ und „republikanisch“ meinen. In diese missverständliche Sprechweise mischt sich der normative,
moralische Anspruch, dass Politik demokratisch sein sollte. Eine reibungslos funktionierende Republik muss aber nicht zugleich demokratisch sein, vielleicht soll sie es auch gar nicht, vielleicht muss sie auch durch demokratische Prozesse außerhalb ihrer Institutionen immer wieder zur Demokratie gezwungen und getrieben werden.
Ich spreche also im Weiteren von der Republik und von republikanisch, wenn ich von den politischen Institutionen spreche, die durch bestimmte Verfassungsgrundsätze definiert sind und die diesen Grundsätzen wenigstens formal genügen. Diese Grundsätze werde ich in diesem Buch mit Blick darauf beschreiben, ob sie tatsächlich, wie es der Anspruch der zugrundeliegenden Verfassungen meist ist, auch eine Demokratie erzeugen, und warum es möglich ist, dass das im Laufe der Zeit verschüttet wird, ob das problematisch ist und schließlich, welche Formen anderer politischer Aktivitäten dafür sorgen können, die Republik sozusagen in der Nähe der Demokratie zu halten.
Kapitel 1 Zwei Mythen von den Anfängen der Demokratie
Demokratie bedeutet die Umsetzung des Anspruchs, alle Mitglieder der Gesellschaft gleichberechtigt an der politischen Macht zu beteiligen – zumindest, wenn sie das wollen. Die Republik, so könnte man sagen, ist die Antwort des demokratischen Souveräns auf das Misstrauen, das er sich selbst gegenüber in politischen Fragen empfindet. Der Demos, das Volk, schafft sich oder akzeptiert wenigstens die Republik mit ihren politischen Institutionen, weil er befürchtet, dass bei einer wirklichen Demokratie in einer komplexen Gesellschaft, in der Menschen unter ganz verschiedenen Lebensbedingungen und mit ganz unterschiedlichen Zielen, Wünschen, Sorgen und Hoffnungen zusammenleben, nicht viel herauskommen kann, was langfristig wirklich gut ist in dem Sinne, dass es die Existenzbedingungen möglichst aller und jedes Einzelnen sichert.
Es gibt allerdings auch noch eine schwache Form des demokratischen Anspruchs an die Republik, in der es darum geht, dass sie im Interesse des Demos, des Volkes wirkt. In unserer technischen Gegenwart hat sich die Meinung ausgebreitet, dass das politische System als Republik funktionieren müsse, dass das republikanische politische System am besten wie eine gut entworfene und ausgereifte Maschine geräusch- und reibungslos arbeiten müsse und problemlos gute Produkte, nämlich allgemein anerkannte Entscheidungen zur Lösung auftauchender Probleme hervorbringen müsse. Das politische System ist in dieser Sicht ein Apparat, der Probleme erfasst, noch bevor sie überhaupt ernsthaft problematisch geworden sind, und die richtigen Prozesse zu ihrer Beseitigung in Gang setzt, noch bevor aus ihnen Krisen entstanden sind. Das Demokratische an diesem Apparat soll im Grunde dann gar nicht sein, dass das Volk an der Problemlösung beteiligt wird, sondern dass diese im Interesse aller oder der Mehrheit, für das Wohl des Volkes gelöst werden und zudem auch die Interessen kleinerer Gruppen und Minderheiten wahrt und befördert, die im Rahmen von Verfassungsgrundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit unterstützt werden sollten.
In dieser technischen Vorstellung sind sich verschiedene Gruppierungen, die sich um die Demokratiefähigkeit der Republik auf ganz gegensätzliche Weise sorgen, vielleicht sogar einig. Der Streit geht eher darum, dass die einen mei-
nen, dass die Institutionen, die es heute in den sogenannten demokratischen Staaten gibt, diese Funktion eigentlich ganz gut erfüllen würden, wenn man sie nur machen lassen würde und wenn der Apparat nicht immer wieder durch Störenfriede, externe Kritiker und womöglich durch unlautere Einzelpersonen, die sich in den Mechanismus einschleichen, gestört würde, während die anderen meinen, dass der Apparat seine Funktion eben nicht erfüllt, weil er nicht das produziert, was gut fürs Volk ist, sondern die Interessen von Einzelgruppierungen, moralischen Eliten, ökonomisch Mächtigen oder von denen, die zum Apparat selbst gehören, befördert.
Der Mythos von der Demokratie in der Antike
Als Fluchtpunkt aller Vorstellungen, die sich auf die Demokratie berufen, dient ein Mythos, nämlich der von der Gesellschaft, in der dieses Wort entstanden ist, dem sogenannten alten Griechenland, in dem die Volksherrschaft als eines der politischen Modelle der Machtorganisation und Entscheidungsfindung in Stadtstaaten bestimmt wurde. In diesem Mythos sind alle freien Bürger der Stadt vollkommen gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung in allen politischen Fragen beteiligt, sie kommen öffentlich zusammen, diskutieren, beratschlagen und entscheiden gleichberechtigt und gemeinsam.
