

Tradition oder Innovation
Wolfgang L. Brunner
Tradition oder Innovation
Ein Dilemma, das keines sein sollte
„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern.“
Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard 1
Die Welt befindet sich in einem fortwährenden Wandel, und die einzige Konstante im Leben ist der stete Fluss der Veränderung: Es ist nichts von Dauer. Es existiert ein kontinuierlicher Prozess des Entstehens und Vergehens –des Werdens und Sterbens. Der Blick auf den natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten verrät bereits den unablässigen Wandel. Dieser stete Wechsel lässt sich metaphorisch als Ausdruck für die vielfältigen Facetten des menschlichen Daseins ansehen. Er fungiert als Symbol für den Lebenszyklus und die unablässigen gesellschaftlichen Veränderungen. Im Strom von Wandlungen liegt die Chance zur persönlichen Entwicklung und zum Gedeihen einer Gesellschaft. Der Frühling steht für Neuanfang und Wachstum, während der Herbst Veränderungen und Rückgang repräsentiert. In der politischen Arena folgen die Entwicklungen einem ähnlichen Rhythmus. Wahlen und politische Entscheidungen können als Frühling des Wandels oder als Winter
der Verkrustung betrachtet werden. Der Begriff „Eiszeit“ kommt nicht von ungefähr, wenn Irritationen oder Störungen auf dem diplomatischen Parkett wahrzunehmen sind. Wirtschaftliche Zyklen spiegeln sich ebenfalls im Sprachgebrauch wider; ihre Ausprägungen sind den Jahreszeiten entlehnt. Ein „Frühling“ deutet auf einen Aufschwung hin, während ein „Winter“ auf eine Rezession verweist.
Die rhythmische Wiederkehr der Jahreszeiten beeinflusst nicht nur die Natur und die Zusammenhänge des menschlichen Lebens, sondern prägt auch traditionelle Feste und Feiern. Die Veranstaltungen sind nicht nur gesellschaftliche Zusammenkünfte, sondern tragen zur Pflege kultureller Traditionen und Identität bei. Besonders bäuerliche Feste folgen dem Rhythmus der Jahreszeiten, bedingt durch die vielfältigen, an die Natur gebundenen Aufgaben in der Landwirtschaft. Die Arbeitswelt hat sich jedoch längst stark gewandelt. Eine Vielzahl der Berufstätigen widmet sich ihren Aufgaben üblicherweise jahrein, jahraus in einer klimatisierten Umgebung, unabhängig von äußeren Wetterbedingungen. Aber auch hier hat in jüngster Zeit mit den Möglichkeiten der digitalen Welt wiederum ein grundlegender Wandel eingesetzt: Beschäftigte nutzen diese Errungenschaften, um auch außerhalb der traditionellen Büroumgebung ihrer Tätigkeit nachzugehen. Angestellte, aber auch Selbstständige, machen Gebrauch von der Gelegenheit, sich weitgehend von den üblichen
Arbeitsroutinen zu lösen. Schlagworte wie „Work-LifeBalance“, „Homeoffice“ und alternative Bürokonzepte wie „Co-Working“, „Workation“ und „Tiny Office“ bezeichnen diesen Umstand. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes ist allgegenwärtig und stellt eine Bereicherung des Arbeitslebens dar. Obwohl dessen Vielfalt vor gerade einmal einem Dutzend Jahren so gut wie unbekannt war, erlaubt die Verbreitung mobiler Endgeräte wie Notebooks, Tablets und Smartphones es vielen Beschäftigten, zu überschaubaren Kosten vernetzt zu sein und flexibel und unabhängig von Tageszeit und Ort arbeiten zu können. Die Digitalisierung treibt diese Entwicklung in rasantem Tempo voran. Informationen können in Echtzeit abgerufen werden, Entscheidungen können unverzüglich umgesetzt werden. Globales Handeln in Sekundenbruchteilen ist insbesondere bei Finanztransaktionen zur Norm geworden. Der Fortschritt hat die Art und Weise, wie Menschen arbeiten und kommunizieren, radikal verändert.
Das Aufgeben von Gewohntem einerseits und das SichÖffnen für Neues andererseits ist eine komplexe Fragestellung, die verschiedene Facetten des individuellen Lebens, des Zusammenhalts einer Gemeinschaft und der Umwelt umfasst. Der Blick richtet sich auf zwei Hauptbereiche: auf die individuelle Ebene in Bezug auf Ernährung und Lebensfreude sowie auf die Ebene der Umwelt, in der zum Teil Jahrhunderte alte Traditionen gedeihen – oder
10 aufgegeben werden (müssen). Hier soll unter anderem die Betrachtung der Leberkässemmel, seit eh und je in Bayern beheimatet, als exemplarischer Ausgangspunkt dienen.
Mit dem Aufkommen moderner Zeiten erlischt nicht automatisch alles Alte, Überkommene und Traditionelle. Trotz des Fortschritts auf zahlreichen Gebieten mögen Menschen das Gewohnte und Liebgewonnene. Menschen brauchen den Bezug auf traditionelle Gepflogenheiten und Handlungsweisen, wenn sie die Bestimmung ihres Daseins vornehmen: Wie sieht meine Vergangenheit aus, wie meine Gegenwart und vor allem meine Zukunft? Mit dem Wort „Zukunft braucht Herkunft“ gab der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Wiedereröffnung des Halberstädter Domschatzes 2008 einen Gedanken des Philosophen Odo Marquard wieder.2 Demzufolge ist für die Identität eines Individuums oder einer Gesellschaft das Bewusstsein der eigenen Geschichte von großer Bedeutung.
Die Frage, wie Tradition und Fortschritt miteinander in Einklang gebracht werden können, ist jedoch nicht einfach zu klären. Ihre Beantwortung erfordert eine intensive gesellschaftliche Debatte. Es handelt sich nicht nur bei diesem Thema um die grundsätzliche Frage, auf die eine Gesellschaft eine Antwort finden muss: Welchen Stellenwert haben ihre Traditionen und wie geht sie künftig damit um?
Kapitel 1 Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Fortschritt ist nicht nur in der Gegenwart und Zukunft verankert, sondern erfordert auch einen Rückblick in die Vergangenheit.
Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz formulierte das so: „Die Bewahrung erreichten Fortschritts wird so selbst zu einer zentralen Aufgabe. Das ist ein Aspekt eines zeitgemäßen Fortschrittverständnisses.“3 Eine moderne Gesellschaft sieht insbesondere im citius, altius, fortius4 , im „schneller, höher, weiter“ einen Fortschritt. In einer Bestandsaufnahme zeigt sich für eine Gesellschaft wie in Deutschland und vielen anderen Länder der westlichen Welt, dass bereits ein hohes Maß an Fortschritt erreicht worden ist. Nun gilt es nicht mehr, neue Herausforderungen in den Vordergrund zu stellen, sondern den erreichten Fortschritt zu bewahren und gleichzeitig das historische, gesellschaftliche und kulturelle Erbe zu erneuern.
Wie sensibel eine Gesellschaft ist, zeigt sich darin, dass ein kleiner Auslöser, wenn die Zeit dafür reif ist, eine große Wirkung entfalten kann. Die „68er-Revolution“, die 1965 mit dem Summer of Love in San Francisco begann, betonte die freie Entfaltung des Einzelnen und führte weltweit zum Bedeutungsverlust traditioneller Umgangsformen und einem Nachlassen des Gemeinschaftsgefühls. Damit war zwar ein Loslösen vom bisherigen Fortschrittserbe verbunden, doch dies verkörperte zugleich die Vision einer besseren Zukunft.
Inzwischen hat das Erreichte in vielen Bereichen der Gesellschaft zu einem hohen Niveau geführt. Doch das Ausruhen auf dem Erreichten birgt Gefahren für die Zukunft.
Das Erbe des Fortschritts droht zu schwinden. Denn je größer die bisherigen Errungenschaften, desto mehr steht auf dem Spiel. Fortschritt bedeutet, das fragile Erbe des bis dato erlangten Fortschritts zu bewahren und weiterzuentwickeln. Der Fortschrittsglaube findet ohnehin seine Grenzen, sobald der individuelle Wohlstand schrumpft.
Zeit ist Wandel
Unter statischen Bedingungen wird sich eine Gesellschaft nicht positiv entwickeln, es droht eher eine Verschlechterung. Ohne Eingriffe, d. h. ohne fortschrittsfördernde Maßnahmen, kommt es zu einer Verschlechterung des
Zustandes. Stillstand bedeutet Rückschritt – insbesondere dann, wenn sich eine Gesellschaft nicht an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen vermag. Das Verharren auf dem Status quo führt unweigerlich zu einer Verringerung des Wohlstands, da Chancen der Zukunft nicht wahrgenommen werden. Negative Entwicklungen treten auf vielen Feldern ein, wenn keine Maßnahmen zur Problemlösung und Anpassung ergriffen werden. Jede Vorhersage muss als Anstoß verstanden werden, um die Notwendigkeit einer Neuorientierung und eines proaktiven Handelns zu erkennen. Die gesellschaftliche Entwicklung lässt sich dabei als ein stetes, dynamisches Spannungsfeld zwischen zwei Kräften verstehen: der Schwerkraft des Bewahrens und den Fliehkräften des Veränderns.
Die Schwerkraft des Bewahrens repräsentiert den Wunsch, bestehende Zustände, Strukturen und Traditionen zu erhalten. Das Althergebrachte vermittelt ein Gefühl der Stabilität und Verbundenheit mit der Vergangenheit. Politische, wirtschaftliche und soziale Institutionen besitzen ohnehin eine Tendenz zur Selbstbewahrung. Sie sind darauf ausgelegt, bestehende Machtstrukturen und Ordnungen zu schützen und zu erhalten. Darüber hinaus kennt eine Gesellschaft Werte und Normen, die konservierend wirken. Sie geben Orientierung und Halt, indem sie klare Erwartungen und Regeln für das Verhalten innerhalb der Gemeinschaft setzen. Im Gegensatz dazu stehen die
Fliehkräfte der Veränderung; sie treiben Fortschritt und Entwicklung voran. Diese Kräfte sind dynamisch und disruptiv, indem sie Bestehendes hinterfragen und neue Wege öffnen. Innovationen verändern die Lebens- und Arbeitsweise von Menschen; sie treiben wirtschaftliche und soziale Transformationen an. Erkenntnisse und Entdeckungen führen zu einem Wandel des Verständnisses der Welt und der Möglichkeiten, sie zu gestalten. Das Zusammenspiel dieser Kräfte ist umfassend und vielschichtig. Einerseits sichern die Schwerkräfte des Bewahrens Stabilität und Kontinuität, die notwendig sind, um eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Andererseits sind die Fliehkräfte der Veränderung unerlässlich für den Fortschritt und die Anpassung an neue Herausforderungen. Da sich eine Gesellschaft in einem ständigen Balanceakt zwischen diesen beiden Kräften befindet, muss sie sich für einen Mittelweg entscheiden. Dem Begriff Tradition pflegt der Begriff Innovation gegenüberzustehen. Innovation bedeutet jedoch nicht notwendigerweise die Abkehr von Tradition, sondern setzt sie weiterhin voraus.5
Augustinus hat den Aspekt der Zeit in seinen „Bekenntnissen“ im Sinne eines Kontinuums aufgefasst. Seiner Meinung nach gibt es drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; genau besehen würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangen-
15 heit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft.6
Knapp formuliert: Die Zeit ist sowohl Erinnerung als auch Anschauung und Erwartung. Das menschliche Leben ist somit eine kontinuierliche Aneinanderreihung unzähliger Augenblicke, die sich in zeitlicher Abfolge zu einem Lebensweg zusammensetzen. Die Menschen werden in diese Welt geboren, und eines Tages verlassen sie sie wieder. Der „Tod von Altötting“ stellt eindrucksvoll diese unausweichliche Realität dar. Diese etwa 50 Zentimeter große Skelettfigur, aus versilbertem Holz gefertigt, thront auf einer sieben Meter hohen Standuhr in der Stiftspfarrkirche von Altötting. Die Figur zeigt den Tod in der Gestalt eines Sensenmannes, der im Rhythmus der Uhrzeit seine Sense schwingt. Bei jedem unerbittlichen Schlag der Uhr lässt, so heißt es, irgendwo auf der Welt ein Mensch sein Leben. Die Uhr mit dem Sensenmann verkörpert die Endlichkeit des menschlichen Daseins. Trotz dieser Gewissheit halten die Menschen an ihrem Leben fest, blicken auf ihre Vergangenheit meist positiv zurück und wagen einen Blick in eine ungewisse Zukunft. Obwohl das Leben zwangsläufig auf einen unvermeidlichen Ausgang zusteuert, treffen sie unaufhörlich in die Zukunft gerichtete Entscheidungen für sich selbst und andere. Jeder individuelle Lebensweg wird von zahlreichen solcher Entscheidungen geformt. Auf gemeinschaftlicher Ebene entwickelt sich die Welt durch die Summe dieser unzähligen Entscheidungen weiter. Mit
Heraklit lässt sich dieser Sachverhalt bündeln in der Feststellung panta rhei – „Alles fließt“.
Menschliche Entscheidungen führen oftmals zu Unsicherheiten, bei einem selbst und den davon Betroffenen. Menschen pflegen auch deswegen Liebgewonnenes, ihre Gewohnheiten und Traditionen. Der Blick auf Neues irritiert, sobald Herausforderungen auf die Menschen zukommen. Einerseits klingt es beruhigend, wenn am Althergebrachten festhalten wird, andererseits ist auch die Notwendigkeit zur Veränderung erkennbar. Es ist zwangsläufig, dass fast immer das Neue das Alte verdrängt. Dass das menschliche Leben dieser Dynamik unterworfen ist, weiß schon die Bibel. Der göttliche Auftrag an die Menschheit lautet: „Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!“ (Genesis 1,28).
Traditionen im Fluss
Der Begriff Tradition ist schwer abzugrenzen und definiert sich erst im Rückblick als aktive Gestaltung von Kontinuität.7 Traditionen sind somit als perpetuierende Handlungen angelegt, obwohl das Kontinuum, dem sie folgen, nicht ewig währt. Sie beginnen eines Tages, entwickeln sich im Laufe der Zeit und können teilweise oder vollständig verschwinden. Es lohnt sich zu untersuchen, wie Tra-
17 ditionen entstehen, was sie begründet und vor allem, wie sie enden können.
Veränderungen im menschlichen Leben sind auf zahlreiche Faktoren zurückzuführen, darunter wissenschaftliche Entdeckungen, sich wandelnde Präferenzen der Gesellschaft, politischer Wille, wirtschaftlicher Wandel, religiöse Überzeugungen, Kriege, Naturkatastrophen und vieles mehr. Diese Faktoren können das Schicksal von Traditionen maßgeblich beeinflussen. Nicht jede Tradition erlischt für immer. Manchmal pausiert sie für eine gewisse Zeit und erlebt dann eine Wiedergeburt – aufgrund des menschlichen Verlangens nach Bewährtem und Vertrautem. Der Verlust einer Tradition kann tiefgreifende Folgen für eine Gesellschaft haben. Da Traditionen einen wesentlichen Teil der kulturellen Identität einer Gemeinschaft ausmachen, spiegeln sie deren Geschichte, Werte, Normen und Bräuche wider. Wenn eine Gesellschaft ihre Traditionen verliert, droht sie ihre Wurzeln zu verlieren, was Identitätskrisen und ein Gefühl der Entfremdung auslösen kann. Ein Traditionsverlust führt dazu, dass wichtige kulturelle Gewohnheiten und Kenntnisse verloren gehen. Dies wiederum führt zu einem Mangel an historischem Wissen und kulturellem Erbe, was die Entwicklung und den Fortschritt einer Gesellschaft behindert. Der Verlust von Traditionen kann den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft belasten, da Traditionen dazu beitragen, Gemeinschaften zu
formen und Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft aufzubauen und zu stärken. Darüber hinaus spielen Traditionen eine Rolle bei der Übertragung von Wissen und Fähigkeiten. Traditionelle Handwerkskünste, landwirtschaftliches Know-how und wissenschaftliche Kenntnisse werden von Generation zu Generation weitergegeben. Wenn diese Errungenschaften verloren gehen, führt das zu einem Verlust von Fähigkeiten und Kenntnissen.
Die Verwendung des Begriffs Tradition verleitet dazu, alles Alte oder Althergebrachte mit ihm in Verbindung zu bringen. Um das Verständnis zu vertiefen, ist es zunächst wichtig, den quantitativen Aspekt zu betrachten: Ab wann kann ein Gegenstand als traditionell betrachtet werden? Die Frage nach dem Beginn einer Tradition ist nicht trivial; Tradition ist mehr als nur eine Frage der Dauer. Es geht vielmehr um die Überlieferung von Werten, Praktiken und Identität über die Zeit hinweg. Dabei spielen nicht nur objektive Kriterien wie das Alter eine Rolle, sondern auch die wahrgenommene Bedeutung, die ein Meinungsgegenstand für Einzelne und eine Gesellschaft besitzt. Traditionen sind also nicht nur durch die bloße Fortdauer von etwas Altem definiert, sondern auch durch die Verbindung zu Werten, die über Generationen hinweg weitergegeben werden. Die Frage, ob etwas als traditionell betrachtet wird, hängt somit von einer komplexen Wechselwirkung zwischen histo-
rischen, sozialen und kulturellen Faktoren ab. Traditionen sind nicht in Stein gemeißelt; sie können im Laufe der Zeit neu interpretiert werden, was die Vielschichtigkeit dieses Begriffs weiter unterstreicht.
Identität und kulturelles
Gedächtnis
Der Rückblick auf Vergangenes basiert nicht nur auf dem Gedächtnis eines menschlichen Individuums. Jan Assmann schreibt: „Was dieses Gedächtnis aber inhaltlich aufnimmt, wie es diese Inhalte organisiert, wie lange es was zu behalten vermag, ist weitestgehend eine Frage nicht innerer Kapazität und Steuerung, sondern äußerer, d. h. gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen.“8 Assmann nennt es daher „kulturelles Gedächtnis“; es speist Traditionen und Kommunikation, aber es geht nicht darin auf. Traditionen bilden ein komplexes Phänomen. Sie sind ein Zeugnis der tief verwurzelten kulturellen Identität und historischen Kontinuität, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. So gesehen handelt es sich – mit Aleida Assmann – hierbei um eine besondere
Form der menschlichen Kommunikation, „bei der Nachrichten nicht wechselseitig und horizontal ausgetauscht werden, sondern vertikal entlang einer Generationenlinie weitergegeben werden.“9 Eine Gesellschaft erhält über Generationen hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung formt.
