Steinkühler, Martina: Christin bin ich trotzdem

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Martina Steinkühler

CHRISTIN BIN ICH TROTZ DEM


Quellenverzeichnis: S. 119-121 Aus: Janne Teller, Nichts: Was im Leben wichtig ist. Übersetzt von Sigrid Engeler. Carl Hanser Verlag, München 2010, S. 11, 24, 26, 33. S. 136–139 In: entwurf. Zeitschrift für den ev. Religionsunterricht (3/2014). Friedrich Verlag GmbH, Seelze S. 142–144 In: Dirk Schliephake (Hrsg.), 12 kreative Gottesdienste mit Mädchen und Jungen. Dienst am Wort, Die Reihe für Gottesdienst und Gemeindearbeit, Band 139. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2011, S. 46 f. S. 145-146 Martina Steinkühler (Hrsg.), Freiräume. Evangelisches Religionsbuch für Mittelschulen 5. Claudius Verlag, München, 2017, S. 61

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INHALT Vorwort Meine Passion: Was man alles gefallen lässt

9 13

Verkündigung

18

Schulischer Religionsunterricht

40

Bibel

59

Meine Vision: Die Sehnsucht der Menschen und das Heilige Gottes

72

Raum zum Leben – Wo ist Zuhause?

76

Lebenszeit – Wann ist „Leben“?

91

Sinn im Leben – Was zählt wirklich? Meine Mission: Glauben ohne Probe, Zwang und Zweck

108 126

Haben und Nötig-Haben – die Frage nach dem Zuhause

131

Sein und Werden (Sinn im Chaos)

151

Kommen, Gehen, Wiederkommen (Freiheit und Bindung im Wechselspiel)

158

Zurück auf Start Nachwort

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Ich habe einen Traum … von einer Kirche ohne Dach … in der die Menschen eingeladen sind, ihre Akkus aufzufüllen, ihre Fragen zu klären, Hoffnung zu erleben und auf Leben zu hoffen; dass da noch mehr ist als die Gesetze gesunden Menschenverstands und menschlichen Ermessens. … in der die Menschen nicht angepredigt, sondern wahrgenommen werden in dem, was sie suchen, sei es nun „kirchlich“ oder „kitschig“ oder irgendwo dazwischen. … in der die Menschen nicht glauben müssen, was „richtig“ ist, sondern in der sie erproben dürfen, was für sie richtig ist – in der Auseinandersetzung mit Gewährsleuten, die ihre eigenen Wege mit Gott durch Raum und Zeit erzählt und bezeugt haben. … in der Expert*innen der christlichen Glaubenstradition offen und absichtsfrei ihr Wissen zur Verfügung stellen – zu jedwedem ernsthaften, spielerischen, heiligen Gebrauch, der nachgefragt wird. … in der die Menschen nicht nach ethischen oder theologischen Vorstellungen darüber beurteilt werden, was das sei: christlich, sondern sein dürfen, verweilen dürfen, wieder gehen dürfen. ... deren Mission es ist, das Leben reicher, erfüllter und wertvoller zu machen ohne Angst um sich selbst.

Kurz: Ich habe einen Traum von einer Kirche, die so ist wie der, nach dem sie heißt. 7



Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser, schon während ich meinen Traum aufschreibe, höre ich es rufen: „weichgespült, Kirche light, anbiedernd, populistisch!“ „So billig darf Kirche sich nicht verkaufen, so positionslos darf sie dem Volk nicht nach dem Munde reden!“, schlimmer noch: „Zeitgeist!“ Und ich höre noch mehr: „Gott ist nicht nur lieb. Gott hat dunkle Seiten. Der verlangt auch Opfer. Der verschenkt doch nichts. Wo kommen wir da hin? Es muss auch mal wehtun!“ Jedoch: Das Leben selbst, das Leben tut weh! Religion ist zuerst eine Bewältigungsstrategie, ein Versuch, mit dem Leben, so wie es nun einmal ist, zurechtzukommen, einen Sinn darin zu finden und, wenn möglich, Augenblicke des Glücks. Die Frage ist doch nicht: Wie dunkel und hart muss Gott sein, damit die Menschen ihn ernstnehmen? Die Frage lautet: Wie heilsam muss es sein, zu glauben – das heißt: Hoffnung und Vertrauen ins Leben zu haben –, damit es rettet, befreit und trägt? Damit es eine echte Alternative ist zu den Gesetzen des menschlichen Verstandes und des nackten Überlebens. 9


Ostern bedeutet: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Religion bedeutet: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Rechtfertigung bedeutet: Mensch, gib dir getrost und ruhig Mühe – aber du musst nicht perfekt sein. Lass dir an göttlicher Gnade genügen. Der Glaube hat ein Gegenüber. Und das ist geheimnisvoll. Nie ganz zu begreifen, meistens nur zu ahnen. Aber wenn es sich zeigt, dann überwältigend. Oft abwesend, halb vergessen. Und doch: da und wahr. Weiß der Glaube, und nur er. Der Name, den ich diesem Geheimnis gebe, ist Gott. Und ich weiß von ihm, was die Zeug*innen erzählt haben. Und ich sehe ihn mit Jesu Augen. In Jesu Gesicht – Jesu Gesichtern – immer wieder neu. Heute will ich nicht mehr schweigen über mein Leiden an all den Vorbehalten, den verpassten Chancen, am ewigen Gebremst-Sein und Gebremst-Werden. Ich ertrage es nicht mehr. Es macht so unfrei und so klein. Und was schlimmer ist: Aus meiner Sicht verdirbt es die Samen, die längst ausgesät sind, damit etwas Gutes und Befreiendes wachsen kann. Ich habe genug von Richtigkeiten, ich habe zu wenig von so manchem Gottesdienst, ich leide mit denen, die suchen und nicht finden, da, wo „es“ nach meinem Verständnis zu finden sein müsste … Ich denke das schon lange. Ich will, dass sich das ändert. Machen kann ich’s nicht. Aber ich kann darüber erzählen, wie ich es gerne hätte. Ich schreibe es auf. Ich glaube, es ist wichtig, wie auch immer es aufgenommen wird. Das liegt dann nicht mehr bei mir. Ich bin Erzählerin. Ich bin eine Erzählerin, die schreibt, bevor sie redet. Meine Welt sind Worte, Geschichten. Aber auch damit wurde schon viel bewegt, nicht wahr? Schöpfung, Evangelium, Reformation, Protest … Also erzähle ich für Sie, meine mir unbekannten Leserinnen und Leser, in der 10


Hoffnung, dass Sie innerlich mitgehen mögen, dass Sie Ihre eigenen Sehnsüchte gespiegelt oder gebrochen sehen in dem, was ich erzähle – und dass Sie eigene Positionen hinzufügen. Was kommt da auf Sie zu? Beziehungsweise wie mache ich aus meinem Ärger, meiner Hoffnung und meinen Ideen ein lesbares Buch? Im ersten Drittel zeige ich beispielhaft und grundsätzlich, was mich stört – gemäß der Pädagog*innen-Weisheit: „Störungen haben Vorrang!“ Die Störung ist produktiv, sie fordert Reaktion, Reflexion und Veränderung. Wobei es sich verhält wie mit aller Kritik: Sie ist subjektiv und selektiv. Ich gehe von mir aus, von dem, was ich erlebe und wie ich es empfinde. Dabei stelle ich die vielen guten Erfahrungen hintan und konzentriere mich auf die weniger zahlreichen, an denen ich mich reibe. Daher vorbeugend: Vieles gefällt mir in meiner Kirche, an den Menschen in ihr, an meiner Religion. Umso ungeduldiger macht mich das andere. Meinen Ärger entfalte ich in drei Aspekten: Gottesdienst, Religionsunterricht und Umgang mit der Bibel. Dabei argumentiere ich jeweils aus unterschiedlichen Rollen heraus. Zum Gottesdienst äußere ich mich als Gemeindeglied, als teilnehmende Beobachterin. Zum Religionsunterricht als Akteurin in Aus- und Fortbildung sowie als Schulbuchautorin. Zum Thema Bibel spreche ich schließlich als eine, die seit Jahrzehnten um einen zukunftsfähigen Umgang ringt mit einem Buch, das gelegentlich schon als „Bestseller ohne Leser“ bezeichnet worden ist. Im zweiten Drittel wird’s empirisch: Ich schaue mich abseits von Kirche, Gemeinde und Glaubensprofis um: Was treibt Menschen um? Wo spüren sie möglicherweise Leerstellen in ihrem Selbst- und Weltverständnis, wo haben sie 11


Fragen und Bedürfnisse, die im weitesten Sinn mit Glauben zu tun haben? In Songtexten identifiziere ich die Themen Raum, Zeit und Sinn. Hier werden widersprüchliche Erfahrungen verarbeitet, Sehnsüchte artikuliert, Zweifel, Ängste und Hoffnungen. Oder auch nur Fragen. Beinahe nie geht es in diesen Songs um christliche Religion, selten um ein explizit „höheres Wesen“, aber ganz oft um ein Ich und ein Du, um Beziehungen und Verluste. Um Träume und Wege. Fragmente von Deutungen. Mit offenem Ende. Ich nehme Sie mit zu einer assoziativen Umschau. Ich nehme an, dass Sie sie beim Lesen durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen ergänzen und bereichern werden. Wie verbinde ich meine Kritik an der Kirche und meine Beobachtungen im Alltag? Ich wünsche mir, das christliche Haus so weit zu öffnen, dass die Suchenden und Fragenden aus Teil 2 dort gern und erwartungsvoll vorbeischauen – einmal oder regelmäßig, als Durchreisende, Besuchende, Stammgäste oder gar Dauermieter. Je nach Lebenslage, Anspruch und Neigung. Daran möchte ich bauen. Zuerst durch Abbau der in Teil 1 genannten Ärgernisse, sodann durch Aufbau gemäß den in Teil 2 gesammelten Motiven. Die dazu benötigten Bausteine nehme ich aus den drei Bereichen, über die ich professionell nachgedacht und mit denen ich experimentiert habe: christliche Tradition. Zielgruppen. Grenzen (die der anderen und eigene). Wie alle Autor*innen solcher Jetzt-reicht’s-Bücher muss ich beteuern: a) dass ich bei aller Schelte der Sache an sich verbunden bin; aber b) dass auch ich eines noch nicht gefunden habe: die Patentlösung. Sie wissen schon: Christin bin ich trotzdem! Martina Steinkühler im Reformationsjahr 2017 12


Meine Passion: Was man alles gefallen lässt

Passion hat mit Leiden zu tun – und zugleich mit dem Brennen für eine Sache. In meinem Fall: Ich bin Christin mit Leidenschaft. Und manches an der Gestalt des Christentums schafft mir Ärger, Sorge und Leid. Von Windrad, Wüste und Wehen

Norddeutsche Idylle, ein Dorf wie ein Museum. Die ehemaligen Katen der Lohnarbeiter sind entkernt worden. Außen gute alte Zeit, innen der letzte Schrei der Spätmoderne. Wir hängen an dem Schönen der Vergangenheit, aber leben wollen wir in der Gegenwart mit Ausblick auf das Meer beziehungsweise die Zukunft. Sie sind teuer, diese entkernten Katen, richtig teuer. Zum Leben für die, die sie sich leisten können, sind sie zu klein. Aber als Ferienhäuser, wenn Saison ist fürs Segeln und Surfen, eignen sie sich. Zeitweise raus aus der Großstadt und gar nicht weit weg. Im weiteren Umfeld, in den weniger hippen, weniger musealen Dörfern hat sich neben den Alteingesessenen 13


eine neue Klientel angesiedelt: junge Erwachsene, weder reich noch arm, aber gut ausgebildet. Die haben Ideale. Sie wollen anders leben, auch ihre Kinder anders aufwachsen lassen. Mit Milch direkt vom Bauern, mit der Natur als Spielplatz und … – na ja, Netz gibt’s zum Glück ja trotzdem. Sie ziehen ihr eigenes Gemüse und an Schafen schätzen sie die Wolle und die Milch. Das Fleisch würden sie nicht anrühren. Die glatte Oberfläche kam in den Jahren, in denen ich dort (im Pfarrhaus) mit meiner Familie lebte, arg in Bewegung. Erst kräuselte sie sich, dann schlug sie Wellen, hohe, mit Gischt oben drauf. Was war geschehen? Ein Projekt der Energieversorger. Nein, nicht was Sie denken! Weder Kohle noch Atom. Ein Windrad sollte aufgestellt werden, alternativ, ohne Gifte und Rückstände. Das „Museums“-Dorf kam dafür wegen der Denkmalschutzauflagen nicht infrage, dafür aber die umliegenden Dörfer. Die Alten nahmen’s gelassen. Die Neuen liefen Sturm: Die Turbinen sind nicht gerade leise. Und das Ding ist nicht schön. Schatten macht es auch. Ich will das nicht vertiefen. Und auch nicht bewerten. Ich stelle nur fest: Jeder Mensch hat seine empfindlichen Stellen, jeder seine rote Linie. Ist die überschritten, sagt er nein. Bei den Sachen, die ihm wirklich wichtig sind. Was und wie viel man sich gefallen lässt, das ist für jede*n anders. Spielräume gibt es auch. Es ist spannend, für sich selbst herauszufinden: Was bin ich bereit hinzunehmen? Was nicht? Wo ist für mich der Punkt, mich aufzuregen? Wann wehre ich mich – mit welchen Mitteln auch immer? Welches sind die Themen, die für mich so wichtig sind, dass ich rote Linien ziehe? Mein Lebensraum, meine Lebenszeit, meine Lebensgestaltung. Plakativ ausgedrückt: Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Dazu gehören Geld, 14


Gesundheit, Gesetze. Bewegung und Kommunikation. Das Streben nach Glück. Allgemeiner gefasst: das, was meine Solidarität und mein Gerechtigkeitsempfinden betrifft. Festgemacht an Menschen und Dingen, denen ich mich verbunden weiß. Auch können das Ideen sein, an die ich glaube. Vielleicht habe ich etwas vergessen. Vielleicht irre ich mich. Aber meiner Erfahrung entspricht das so. Religion, auch meine Religion liegt damit am äußeren Rand eines kreisförmigen Prioritätendiagramms. Ist halt privat. Solange sie keiner verbietet oder alle Kirchen schließt (beziehungsweise die eigene Dorfkirche – auch wenn ich kaum weiß, ob sie katholisch oder evangelisch ist), komme ich klar, muss ich mich nicht aufregen. Ist doch so, oder? So war es jedoch nicht immer. Vor 2000 Jahren gab es einen, der brachte durchaus seine Lebenserfahrungen mit seiner Religion in Verbindung. Der ging davon aus: Die beiden gehören nicht nur zusammen, sondern die bedingen sich. Es gehe drunter und drüber im Land, weil die Menschen nicht nach Gott fragen würden. Und das Land werde deshalb von anderen Mächten unterdrückt und ausgebeutet, weil Gott empört sei über die allgemeine Gottvergessenheit. Gott räche sich (das theologisch offiziell anerkannte Wort ist „Gott straft“). Der Mann wurde ein Prediger in der Wüste und schrie den Leuten ihre Schuld ins Gesicht: den Reichen, dass sie abgeben, den Starken, dass sie sich der Schwachen annehmen, den Mächtigen, dass sie achtsam sein müssten. – Um Gottes Willen! Das ist die eine, die anschauliche und nachvollziehbare Variante. Wir lesen sie bei Lukas im dritten Kapitel. Es spricht aber viel dafür, sich auch der sperrigeren Überlieferungsvariante auszusetzen, die bei Markus und Matthäus 15


erkennbar ist: Der Prediger in der Wüste drohte allen – arm wie reich, aufrecht wie schuldig – mit dem Gericht. Denn sie alle hätten, je auf ihre Weise, vor Gott versagt: Gott nicht ernst genug genommen. Die göttlichen Gesetze entweder missachtet oder aber an Gottes Stelle gesetzt. Sie hätten es sich zu leicht gemacht, sich durchlaviert, sich zufriedengegeben. „Schlangenbrut“ seien sie alle. Was kann man da tun? Der Prediger in der Wüste – Johannes – ruft zur radikalen Umkehr, dazu, das alte Leben zu „ersäufen“ (Luther in seiner Erklärung der Taufe) und ganz neu vor Gott zu treten. Als unbeschriebene Blätter. Wie die neugeborenen Kindlein. Und selbst dann gibt es noch keine Garantie von Johannes. Kein: „Lasst euch taufen und alles wird gut.“ Vielmehr: „Die Axt ist den Bäumen schon an die Wurzel gelegt.“ Und: „Nach mir kommt einer, der die Spreu vom Weizen trennt.“ Du meine Güte. Wie rabiat. Welche rote Linie ist denn bei dem überschritten? Gott ernst zu nehmen, dafür streitet Johannes, den wir „den Täufer“ nennen. Dafür, dass Menschen sich darauf besinnen, dass sie nicht allein sind auf der Erde. Und dafür, dass das Konsequenzen hat. Johannes spricht von „guten Früchten“. Für Jesus von Nazareth – und ich nehme an, Sie haben mit Jesus gerechnet, als ich den „Mann vor 2000 Jahren“ ins Spiel brachte? – gab es wohl die gleiche rote Linie: Denkt daran, ihr lebt im Angesicht Gottes! Aber er zog – auch – andere Konsequenzen. Nicht nur Drohung, sondern vor allem seelsorglicher Zuspruch: Ihr könnt das. Und: Das lohnt sich. Es geht um euch, um Frieden für eure Seelen und für euer Leben. Nach allem, was wir sehen, wollte Jesus eine Erneuerung seiner jüdischen Religion, mehr Echtheit würde man heute sagen, mehr Freiheit und Verantwortung, mehr Himmelreich. Was daraus folgte – unter 16


gewaltigen Transformationen –, war die christliche Kirche. Das Judentum reformierte sich auch, auf eigenen Wegen. Anderthalb Jahrtausende später kam noch einer, für den die Gretchenfrage („Wie hältst du’s mit der Religion?“) Lebensthema war: Martin Luthers rote Linie war überschritten, wenn mit Religion Angst und Geld gemacht wurde. Drohung mit Hölle und Fegefeuer, mit einem Erziehergott, dem sich keiner entziehen kann. Er sah wohl die Folgen, die diese Theologie und ihr Gebrauch für die Menschen hatten; besonders sensibel dafür war er, weil er es am eigenen Leib erfahren hatte: Angst vor dem Vater, Angst vor Gott. Über-Väter, beide! Das verzehrende Gefühl, niemals gut genug zu sein. Martin Luther wollte einen Wechsel in der katholischen (das heißt allgemein christlichen) Theologie, in Lehre und Praxis. Er wollte Bildung und Partizipation. Ein neues Gottesbild, gewonnen aus den alten Schriften. Was daraus folgte – unter heftigen Wehen –, war die evangelische Kirche. Die katholische Kirche reformierte sich auch, auf eigenen Wegen. Die Zeitläufe werden hektischer, die Abstände kürzer. Manchmal frage ich mich, ob es jetzt, 500 Jahre später, schon wieder Zeit sein könnte für einen ähnlich krassen Einschnitt. Nur, dass ich weit und breit niemanden sehe, für den hier eine rote Linie überschritten ist. Die christliche Religion ist längst nicht mehr so eng mit dem Leben der Menschen verbunden. Weder dient sie als Erklärung für politische und soziale Verwerfungen noch regelt sie das Wohlverhalten der Menschen durch Androhung göttlicher Sanktionen. Niemand muss mehr den Menschen mithilfe der Religion vor Gott retten noch mit Gottes Hilfe vor der Kirche. Man glaubt so vor sich hin. Beinahe egal, was Prediger sagen oder die Kirche oder auch Reformer innerhalb und außerhalb der Kirche. 17


Ich denke gerade: Man müsste vielleicht den Menschen vor sich selbst retten. Und ich denke weiter: mithilfe der Religion und mithilfe Gottes. Jedoch frage ich mich: Was ist hier die rote Linie? Und noch gravierender: Wer ist „man“? Nach dem „Glaubensverlust“ (Hubertus Halbfas) – also nach der Emanzipation der Menschen von den großen Heilserzählungen und angesichts ihrer wachsenden Kompetenz, sich in kritischen Abstand zu jedwedem „man“ zu setzen, – kann so ein „man“ nichts mehr bewirken, jedenfalls nicht als vorgeblich höhere Instanz. Das „man“ müsste sich vielmehr gemein machen, auf Augenhöhe begeben, es müsste anbieten und zur Diskussion stellen, was hilfreich und heilsam erscheint. Geduld wäre nötig und Fantasie. Ein Prozess, in dem etwas wachsen kann wie der unbekannte Same, den mein Mann sich neulich aus Afrika mitnahm: Nicht einmal der, der ihn sät, weiß, wie die Pflanze dann einmal aussehen wird. Ich komme später auf Handlungsoptionen zurück. Jetzt, sagt mein Lektor, möchten Sie erst einmal Beispiele. Ruhig solche, über die wir uns gemeinsam ärgern können. Ärgern kann gut und produktiv sein. Es geht dann nicht darum, auf andere zu zeigen. Es geht darum, rote Linien wahrzunehmen. Alternativen zu denken, zu entwickeln, vielleicht auch zu fordern.

Verkündigung Ich habe schon viele gute Predigten gehört. Das werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen verrate, dass viele gute Bekannte von mir (nicht zuletzt mein Mann) Pfarrer*innen sind. Viele gute Predigten, ja. Aber im Folgenden geht es um die anderen. 18


Allein in der Kirche

Ich gehe ausgesprochen gern in den Gottesdienst. Das ist das eine. Das andere ist: Ich bin damit relativ allein. Schon als Konfirmandin, als ich damit anfing, regelmäßig zur Kirche zu gehen, habe ich gesehen: Da gehöre ich zu einer Minderheit. Zu einer Minderheit übrigens, mit der ich gar nicht viel zu tun habe. Zumindest damals waren sie alle unendlich viel älter. Und sie waren nicht besonders „cool“ oder „angesagt“. Das war der Gottesdienst auch nicht. Der Gottesdienst war anders als Fernsehen, anders als Party, anders als Freizeit, Hobby oder auch Schule. Am ehesten noch Konzert oder Theater – aber dann doch eher Laientheater. Vielleicht, sagte ich mir damals, muss Religion so sein. Ich saß also da und gab der Sache eine Chance. Ich bin Jahrgang 1961 und in einer Kleinstadt aufgewachsen. Wir waren überwiegend brav. Auch meine Mit-Konfis saßen da, allerdings seltener und, wie ich heute denke, ohne der Sache groß eine Chance zu geben. Ich war noch einmal die Minderheit. Auch unter den Gleichaltrigen. Wenige Jahre später gab es die Konfis, die dasaßen und Quatsch machten – Horror für jede*n Prediger*in. Heute hat sich das wieder gelegt. Sie kommen, sitzen da, äußerlich brav. Es ist für sie ein Deal, ein Arbeitsbündnis: Wenn nun einmal soundso viele Gottesdienst-Unterschriften im Konfi-Pass dazugehören, damit ich meine Feier bekomme – okay, dann sitze ich eben da. Minderheitserfahrung von Anfang an. Manchmal denke ich so bei mir: Ich gehe hin, nicht aus Solidarität mit der Minderheit, die dasitzt, sondern ihr zum Trotz. Klingt hochmütig, ich weiß. Wahr ist aber: Eigentlich will ich beides: Gottesdienst, weil ich ihn brauche; und cool sein, 19


weil es zu meinem Selbstbild gehört. (So geht es übrigens meinem Sohn mit dem Posaunenchor: Er bläst ganz gern, aber: „Sag das bloß nicht meiner Freundin!“) Dann wiederum fällt mir ein: Die heutigen Konfis halten mich natürlich nicht für cool, sondern einfach für eine aus der Minderheit der „anderen“ – und das bringt mich dazu, mein unbedachtes Statement sofort und gründlich zu relativieren: Vermutlich haben auch andere aus dieser Minderheit, von der ich mich gerade noch ausnehmen wollte, ein ähnliches Selbstbild wie ich: im Leben stehen zu wollen und trotzdem auch Gottesdienst zu brauchen. Und vermutlich empfinden sie wie ich die Kluft, den Bruch zwischen „drinnen“ und „draußen“ – und gehören beidem an. Sind sie das Salz der Welt, von dem Jesus in der Bergpredigt spricht? Ich sitze gern in der Kirche. Das hat etwas mit dem Raum zu tun. Ich sitze immer auf der linken Altarseite, dritte, vierte Reihe. Am Rand, mit Platz neben mir (es sei denn, mein Mann ist dabei; die Kinder sind längst nicht mehr zu überreden). Ich singe gern – manche der Lieder. Ich bin nicht sehr musikalisch. Ich achte auf die Texte. Die geben mir zu denken, mal positiv, oft negativ. Ich singe sie trotzdem. Bis auf einige. Da schweige ich trotzig. Mir gefällt, dass ich in die Liturgie und das Evangelische Gesangbuch hineingewachsen bin. Dass ich mich auskenne, alles mitmachen kann. Dass ich zu Hause bin in diesem Gottesdienst. Auch das hat mit Raum zu tun. (Dass man in der Landeskirche, in der ich jetzt lebe, ein anderes Gloria und Halleluja singt als in der meiner Kindheit und Jugend, das befremdet mich nach all den Jahren noch immer; und für mein Gefühl ist es nicht ganz „richtig“, nicht „wie zu Hause“.) Ich mag die Regelmäßigkeit: sonntags, halb zehn in 20


Deutschland – Gottesdienst. Seit wir keine Ausflüge mehr mit den Kindern machen und nachmittags keine Torte mehr vom Bäcker holen, ist der Sonntag ansonsten nur noch wenig herausgehoben aus dem Alltag. Aber der Gottesdienst am Morgen, der setzt ein Signal. Das hat mit Zeit zu tun. Ich denke gern über Gott und die Welt nach – und hoffe immer, einen Gedanken aufzuschnappen, den ich noch nicht hatte. Den ich mitnehmen und einbauen kann in meine eigenen Überlegungen. Das wiederum hat mit Sinn zu tun. Ich mag Bibelgeschichten. Aber so, wie sie im Gottesdienst angeboten werden, gefallen sie mir eher nicht: vorgelesen oder gelesen und ausgelegt. Dazu später mehr. Ich mag die Ortspfarrer*innen, Typen, an die ich mich gewöhne. An ihre Sprechweise, ihre Bewegungen, ihre Theologie. Das sind asymmetrische Beziehungen, denn ich kenne sie in der Regel viel besser als sie mich. (Jedenfalls, wenn ich nur den Sonntagsgottesdienst besuche.) Ja, es gibt vieles, was ich am Gottesdienst mag, vor allem die Erfahrung, dass eigentlich fast immer irgendetwas bleibt, nachklingt. Sei es, dass mich das eine Gebet angesprochen oder der andere Text neu berührt hat. Was mir den Gottesdienst jedoch gründlich verderben kann, das sind Achtlosigkeit, Belanglosigkeit und Besserwisserei. Rote Linien für mich. Für andere vielleicht eher normal. Was regst du dich auf? So ist das nun mal … Das werden sie schon verstehen …

Die Kirche ist knallvoll. Die, die jetzt noch kommen, lehnen sich an die Mauern. Sitzplätze gibt es keine mehr. Das beeinträchtigt die erwartungsvolle Spannung kaum. 21


Die Kinder werden konfirmiert. All die Verwandten von weither: Sie konnten nicht erwarten, alle Platz zu finden. Wenn sie nur dabei sein dürfen, hören und sehen, was geschieht. Zeugen sein und mitfeiern. Für manche von ihnen ist Gottesdienst wie eine Wundertüte. Sie haben nur eine vage Vorstellung davon, was geschehen wird. Auch das trägt zur Spannung bei. Einzug der Konfirmand*innen zu brausender Orgelmusik. Wie schön sie aussehen, irgendwo zwischen nervös und stolz. Plötzlich erwachsen. Wie ergreifend dieser Augenblick. Die eine oder der andere der Verwandten tastet nach dem Taschentuch. Die Konfirmand*innen nehmen Platz, die letzten Orgeltöne verebben. Der Pfarrer erhebt sich und tritt vor die Gemeinde. Ergraut schon, selbstsicher. Der versteht sein Geschäft. Er öffnet den Mund, um die Anwesenden zu begrüßen. Die Hälse recken sich. Die, die hinten stehen, beugen sich unwillkürlich vor. Hände legen sich hinter die Ohren. Das Geschwisterchen, das fröhlich gluckst, wird angeherrscht. Was ist los? Die weiter hinten sitzen, stoßen sich an. „Wahrscheinlich sind die Lautsprecher kaputt.“ „Oder gar nicht erst eingeschaltet.“ Hier und da Stoßseufzer: „Kirche!“ Der Pfarrer mag ein starker Typ sein und es ist auf keinen Fall sein erster Konfirmationsgottesdienst, aber ab der Mitte der Kirche ist er nicht mehr zu verstehen. Oder nur mit großer Mühe. Der Großvater hinten links schaltet nach zehn Minuten sein Hörgerät ab. „Hat sowieso keinen Zweck“, murmelt er. Enttäuschung macht sich breit. Am Ende murmeln sie hinten lauter, als vorn die Akteure reden. Protest, gepaart mit Langeweile. Dass sie nicht hinausgehen, geschieht nur aus Verbundenheit mit den Kindern. Vielleicht kann man den Segen, den sie bekommen, wenigstens sehen? 22


Die Pointe dieser Begebenheit, die ich wirklich erlebt habe und die, wie ich fürchte, kein Einzelfall ist: Nicht eine technische Unzulänglichkeit und auch nicht ein Versehen ist schuld an der schlechten Akustik. Sondern der Pfarrer – gebeten vom Küster, sich verkabeln zu lassen – hat ganz lässig abgewinkt. „Lassen Sie mal. Ich komm schon durch!“ Und: „Mit Technik hab ich’s nicht so.“ Vielleicht hätte er sich die Mühe machen sollen, sich einmal in den Großvater mit dem Hörgerät hineinzuversetzen. Oder in die eigens eingeflogene Tante aus Amerika. Seine Worte wären es vermutlich durchaus wert gewesen, verstanden zu werden. Und die Konfirmationssprüche auch. (Er sagt übrigens auch: „Lassen Sie mal …“, wenn auf dem Konvent neue Ideen vorgestellt werden. „Mit Methoden hab ich’s nicht so.“) So wie hier fehlt es an vielen Stellen an der Beweglichkeit, von sich selbst abzusehen, und an der Fantasie und Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen. Frust und Fehlkommunikation werden produziert, wo sie eigentlich leicht vermeidbar wären. Im „normalen“ Leben findet man sich möglicherweise damit ab. In der Kirche ist man enttäuscht. Oder verärgert. Sollte die Kirche nicht anders sein? Empathischer, aufmerksamer, stärker bemüht, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ernst zu nehmen? Ist das Personal in den Gemeinden nicht besonders geschult in Menschenfreundlichkeit? Und mehr noch: von innen heraus motiviert zur Nächstenliebe, dem Kennzeichen christlichen Glaubens überhaupt? Ich will nicht fies sein. Aber es ist doch nicht zu übersehen: Die Moderatorin beim City-Lauf, gesponsert von ortsansässigen Firmen, käme nie auf die Idee, es ohne Mikro zu versuchen. Selbst wenn sie privat nicht einmal ihren DVD-Player bedienen könnte. 23


Damit Sie nicht denken, es geht nur um Technik. Es geht auch darum, eine Spielecke für Kleinkinder im Gottesdienst bereitzuhalten (man kann Bauklötze ohne Glöckchen und Spieltiere ohne Quietschton nehmen), Info-Zettel mit dem Gottesdienstablauf auszulegen, Gesangbücher im Großdruck. Es geht darum, unbekanntere Lieder nicht einfach nicht zu singen, sondern mit der Gemeinde zu üben; das Fürbittengebet mit mehreren zu sprechen und die Gemeinde niedrigschwellig zu beteiligen. Wie dankbar stimmen die Kirchgänger*innen in Liedrufe ein (wenn die bekannt sind), wie gern machen sie mit (und sind berührt), wenn sie zum Altar kommen und eine Kerze anzünden dürfen; wie bereitwillig geben sie Auskunft, wenn sie mal nach etwas gefragt werden während der Predigt. Eine engagierte Pfarrerin hat es einmal riskiert, mit einer relativ großen Gemeinde bibliologisch zu arbeiten: „Du bist Marta. Du siehst deine Schwester zu Jesu Füßen. Was geht dir durch den Kopf?“ Ich war überrascht, wie viele sich meldeten, um etwas dazu zu sagen – ins Mikro! Und ich bin überzeugt: Die, die dazu einen Gedanken geäußert haben, werden diese Geschichte so bald nicht wieder vergessen. Es braucht Beweglichkeit und Fantasie im Gottesdienst; das macht Mühe und birgt Risiken. Ich denke aber, das ist kein zu hoher Preis, um zu erreichen, dass Menschen sich wohlfühlen und sich beteiligen können. Und was ich noch denke: Es sind meist weder Angst noch Faulheit, die den Verantwortlichen dabei im Wege stehen. Es ist oft viel banaler: Sie denken einfach nicht darüber nach. Es wird höchste Zeit, hier zu betonen: Das ist alles nicht neu. Und die genannten Mängel sind nicht zu verallgemeinern. Es gibt gute Praxis, richtig gute. An vielen Orten. 24


Um die geht es hier nicht. Ich erzähle nur, was ich erlebe. Und das gehört eben auch dazu, zu dem Bild, das die Kirche nach außen hin zeigt. (Und wie wir wissen, wirkt ein schlechtes Beispiel leider nachhaltiger als etliche gute. Gott sei’s geklagt.) Zum Schluss dieses Kapitels eine besonders krasse Variante von „Das werden sie schon verstehen“: In Zeiten von Stellenstreichungen und Zusammenlegungen von Pfarrstellen in den Gemeinden sind viele Pfarrer*innen regelrecht zu Wanderprediger*innen geworden. Die Logistik kommt da nicht immer mit. Gerade Gastpredigende erhalten nicht immer alle Informationen, die wichtig wären, um sich auf die Gemeinde vor Ort angemessen vorzubereiten und einzustellen. Es ist schon eine Weile her, da brachte einer unserer Söhne seinen Freund Lars mit nach Hause. Und der war sichtlich aufgelöst. „Ihr wisst doch, meine kleine Schwester …“ Ja, das war eine schreckliche Geschichte: Nach langer Krankheit und nach vielen Operationen – ein Wechselspiel aus Verzweiflung und Hoffnung – war sie, gerade als es besser ging, überraschend verstorben. Die ganze Gemeinde hatte Anteil genommen. Das war nun schon einige Monate her. „Sie hatte gestern ihren Tauftag“, sagte der Junge. „Wir dachten – also, meine Mutter dachte –, weil wir doch noch immer nicht damit klarkommen … wir dachten, es könnte uns helfen … also, wir sind gestern alle in den Gottesdienst … die ganze Großfamilie … mein Vater hat vorher angerufen, dass wir kommen … mehr nicht, aber trotzdem … wir hatten gedacht, dass da irgendwas geschieht.“ Was geschehen war: Der Pfarrer, der für die Gemeindepfarrerin die Vertretung übernommen hatte, hatte nichts von dieser besonderen Situation erfahren. Erst eine 25


Viertelstunde vor Gottesdienstbeginn – er kam ziemlich knapp, war zunächst versehentlich zu einer anderen Kirche gefahren –, als er sich über die eng besetzten ersten Bankreihen wunderte, sagte ihm der Küster: „Das sind doch die Beckmanns …“ Die übrige Gemeinde bestand aus zwölf „Stammgästen“ und sieben Konfis; sie alle wussten Bescheid. Der Vertreter, als Ruheständler ein sehr erfahrener Seelsorger, ging mit der Situation folgendermaßen um: Er begrüßte die Gemeinde und fügte hinzu: „Leider habe ich eben erst von den besonderen Umständen erfahren. Ich bitte Sie zu verstehen: Ich kann nicht spontan darauf eingehen. Ich werde meine Predigt wie vorgesehen halten – vielleicht bietet sie Ihnen trotzdem Trost …“ Predigtgrundlage war die „Hochzeit zu Kana“, ein Text übers Fröhlichsein und darüber, dass auch das Feiern dazugehört zu einem Leben in Fülle. Von Lars war darüber nichts weiter zu erfahren, außer: „Es ging um Wein und Tanz und Musik – Papa sagte, wir sind im falschen Film. Und Mama hat zu Hause nur noch geheult … Mein Onkel sagt, er hat es immer gewusst. Und dass er nicht mehr hingeht.“ Sie haben es also nicht verstanden. Mein Mann versuchte zu beschwichtigen. Wie schwer es doch sei, so ein Thema – aus heiterem Himmel. Und dass ein Pfarrer auch nur ein Mensch sei und manchmal auf dem falschen Fuß erwischt werde. Das hat natürlich nichts genützt. Verstandesmäßig nachvollziehbar, klar. Auch für Lars. Aber das Herz ist verletzt. Ich denke mir: Dass der Onkel nicht mehr zur Kirche will, ist nicht das Schlimmste. Viel schlimmer: Diese Familie hat etwas getan, was viele gar nicht mehr können: Der Kirche etwas zugetraut, und zwar im Bereich ihrer Kern26


kompetenz. Anteil nehmen und trösten. Ich bin mir sicher: Der unvollkommenste Trost wäre mehr gewesen als die sicherlich gut durchdachte vorbereitete Predigt. Sogar Gestammel wäre mehr gewesen. Oder eine schlichte Andacht mit Psalmen und Liedern, Gebet und Segen. Besser keine Predigt als diese. Noch einmal: Natürlich kann man den Kollegen verstehen. Natürlich ist auch ein Seelsorger „nur ein Mensch“. Aber darum geht es in so einer Situation nicht. Da geht es um die Menschen, die gekommen sind. Die gekommen sind, weil sie etwas suchen und hoffen. Und wie auch immer: Die hätten einfach nicht so sehr enttäuscht werden dürfen. Wenn Engel reisen

„Liebe Gemeinde, als mein Amtsbruder mich fragte, ob ich seinen Dienst übernehmen könnte, habe ich erst einmal ja gesagt. Aber eigentlich hatte ich gar keine Zeit, mich vorzubereiten, und so habe ich mir eben auf der Fahrt hierher – ich komme ja aus NN, das ist ziemlich weit – ein paar Gedanken gemacht. Was kann ich Ihnen über Himmelfahrt erzählen? Eigentlich bin ich für diese Predigt gar nicht die Richtige, wissen Sie, denn mit Himmelfahrt kann ich persönlich gar nichts anfangen; das ist doch eine Vorstellung, die gar nicht mehr zeitgemäß ist … und eigentlich fahre ich auch lieber ins Grüne …“ Ich übertreibe nicht allzu sehr. Auch das habe ich erlebt, viele Jahre ist es her; die Erinnerung mag es zuspitzen. Das Phänomen: Prediger*innen lassen die Gemeinde oft teilhaben an ihren eigenen Befindlichkeiten rund um den Gottesdienst und sein Thema. Der Grat zwischen „sympathisch-unvollkommen“ und „nervig-inkompetent“ ist 27


aber ebenso schmal wie der zwischen niedrigschwellig und banal. Und wieder fehlt es hier und da an Gespür für die Gemeinde. Die Gemeinde versammelt sich in der Regel nicht aus Interesse an dem Menschen auf der Kanzel, sondern mit je eigenen Erwartungen. Im besten Fall, weil sie etwas sucht. Auch hier sind die Grenzen der Toleranz fließend. Während es die einen noch amüsant finden, wenn der Prediger Witze über das Wetter macht, das er „bei dem alten Herrn da oben bestellt“ habe, reagieren andere bereits allergisch auf den Gemeinplatz von den reisenden Engeln. Eine gepflegte Umgangssprache mit gelegentlich bewusst gesetzten Pointen in Mundart, Jugend-, Werbeoder Zeitgeist-Slang kann bereichernd für die Predigt sein, beliebiges Worte-Machen, wie einem der Schnabel gewachsen ist, eher nicht. „Ich spreche lieber frei“, sollte nicht bedeuten: „Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, meine Gedanken zu ordnen.“ „Die Leute in meiner Gemeinde sind eher einfache Gemüter“, erzählt einer bei der Fortbildung im Pfarrkonvent. „Denen kann ich mit hoher Theologie nicht kommen.“ Er sagt, er habe es sich angewöhnt, die Predigttexte im Plauderton nachzuerzählen und darin hier und da eine Lehre zu verpacken. Man müsste es sich mal anhören, um zu wissen, wie er das macht. Das kann brillant sein, jedoch auch sehr bescheiden. Mich persönlich nerven am meisten die, die mit Gemeinplätzen um sich werfen. „Jeder hat doch schon mal …“ – und dann folgt eine lange Liste von Alle-Welt-Erfahrungen, sei es: bei der Verlosung Nieten gezogen, sein Auto im Parkhaus nicht wiedergefunden, im Kino hinter einem Riesen gesessen oder eine falsche Nummer gewählt und sich dann glänzend unterhalten. – Letzteres ist 28


mir noch nie passiert. Die anderen Beispiele lassen mich relativ kalt. Oder, eine Stufe heftiger: „Geht es nicht jedem so, dass man sich manchmal fragt: Warum lässt Gott das zu?“ – Überschwemmungen, Hungersnöte, Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Artensterben, Luftverschmutzung, Trump an der Macht, schlechte Schulnoten und dieses viel zu kühle Juni-Wetter … Es gehört zu den Eckpfeilern aktueller Predigtlehre, die Gemeinde „abzuholen“ bei dem, was sie kennt und interessiert. Möglichst komplette Aufzählungen gehören – nach meinem Geschmack – nicht dazu. Das andere aber auch nicht: Wenn ich aus dem Alltag von Frau B. Sachen zu hören bekomme, die meilenweit nach erbaulicher Konstruktion riechen, oder aus dem Leiden von Paul C., der weniger Lebenssaft hat als die Strichmännchen im Sonntags-Cartoon in der Zeitung. – Die wären übrigens spannend! Witzig, aktuell und „Finger auf die Wunde“! In der Adventszeit gibt es in Gemeinde XY immer einen Basar und der beginnt mit einer ökumenischen Andacht. Es sind viele Familien da, auch solche, die man sonst nicht in der Kirche sieht. Und Kinder in allen Altersgruppen. Das bedeutet: bloß niemanden überfordern. Gesungen werden „Macht hoch die Tür“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ und „Wir sagen euch an den lieben Advent …“ Die beiden Pfarrer haben rote Zipfelmützen auf. Inhalt der Ansprache: „Niklaus ist ein guter Mann, dem man nicht genug danken kann. Lustig, lustig, trallalallala …“ „War schön kurz“, sagt eine Frau zur anderen, während sie zur Punschbude drängen. „Hat nicht gestört.“ – „Ja“, sagt die andere. „Aber mal ehrlich: Wozu war das gut?“ – „Na ja, zum Advent gehört schon irgendwie die Kirche, oder?“ – „Ja, aber das mit dem Weihnachtsmann, das hatten die Kinder schon in der Schule.“ – „Da war das aber 29


spannender!“, ruft die Tochter dazwischen. „Wir haben einen Film geguckt mit echten Rentieren. Und die Kutsche hatte so Glöckchen dran …“ Nein, „hohe“ Theologie soll es nicht sein. Aber lebens-weise. Lebens-weise auf eine Art, die aus der Glaubenstradition und dem Evangelium zu gewinnen ist. Indem ich mich vorbereite und Theologie betreibe. Und von da aus schaue: Was will ich der Gemeinde heute unbedingt mitgeben (weil das so kein anderer tut) – und wie kann ich es sagen, damit es sie berührt? Da kann es sogar um Rentier Rudi gehen und wir singen von seiner roten Nase. Ich habe mal eine Andacht gehört, da stand diese rote Nase für „Anders-Sein“ und Santa Claus’ Auftrag, dem Schlitten zu leuchten, symbolisierte die Chance, die jeder kriegt bei Gott: aus dem, was er ist und was er kann, das Beste zu machen. So ungefähr. War sehr berührend. Immer wenn ich seither den Weihnachtsschlager von „Rudolph the red nosed reindeer“ höre, wird mir ganz warm: angenommen sein, wider den äußeren Schein – was für eine wunderbare Zusage. Evangelischer – oder auch ökumenischer – Markenkern, barrierefrei. Das geht doch nicht!

Manchmal denke ich, das Leben ist wie Radfahren in der Stadt. Ich fahre jeden Morgen mit dem Rad zum übernächsten S-Bahnhof. Das macht mich fit für den Tag und erspart mir, umsteigen zu müssen. Ich fahre neben belebten Durchgangsstraßen und dann durch ein Wohngebiet mit Tempo 30. Früh morgens rollt da meistens wenig. Ich bin dem Berufsverkehr voraus. Der Radweg an dieser Straße ist vom Fußweg abgeknapst. Autos dürfen mit einem Rad darauf parken. Am 30


Straßenrand stehen alte Kiefern und Birken. Ich habe nie gewusst, wie viel morsches Astwerk und vor allem, wie viele Zapfen diese Bäume haben und abwerfen, sobald der Wind sie zaust. Wie dem auch sei: Dieser Radweg ist eine echte Herausforderung und über einige Strecken einfach nicht befahrbar: viel zu eng, oft zugeparkt, meist bedeckt von dem, was die Bäume abwerfen – vornehmlich auf den Radweg natürlich. So kommt es vor, dass ich auf die Straße ausweiche. Wenn ich es eilig habe, auch prophylaktisch. Ich fahre dann ganz rechts, um bloß niemanden zu behindern, und immer mit schlechtem Gewissen. Ich sollte nicht hier sein. Umso heftiger ärgere ich mich dann, wenn eines der Autos, die mich überholen, vor mir verlangsamt. Und die Fahrerin zeigt überdeutlich auf den Radweg. Oder der Fahrer fährt seine Scheibe runter und schreit: „Fahr doch auf dem verdammten Radweg!“ Warum machen sie das? Ich habe sie NICHT behindert! Und wir sind auch nicht auf der Autobahn. In der Stadt komme ich mit dem Fahrrad ohne Regelbrüche nicht voran. Es ist schier unmöglich. Immer sind es zuerst die Radwege, die blockiert, belaufen und zugeparkt werden. Immer sind es die Radfahrer*innen, die absteigen, die Seite wechseln, an jeder Kreuzung anhalten müssen. Das macht eine selbstverantwortete, sagen wir, Dehnung der Regeln notwendig. Ich kenne jede einzelne Verkehrsregel, ich kenne ihren Sinn, ich halte sie für gut. Und doch entscheide ich hier und da: Ich nehme den Regelbruch in Kauf. Wenn mich die Polizei anhielte und dafür belangte, würde ich das einsehen. Ich würde mich nicht beklagen. Das ist der Deal. Damit komme ich auf meinen Einstieg zurück: Das Leben ist wie Radfahren in der Stadt. Du kommst ohne 31


gewisse Kompromisse, Abweichungen von dem, was hundertprozentig richtig wäre, nicht durch. Nicht, ohne anzuecken, Menschen zu enttäuschen, zu verletzen, sich schuldig zu machen. Solche Schuld bin ich dann bereit zu verantworten und wenn möglich auszugleichen – gegenüber dem Menschen, der betroffen ist. Und vor meinem Gott. Mich stört die Mentalität, die die Leute dazu bringt, Passanten mitzuteilen, dass sie gerade bei Rot über die Kreuzung gegangen sind, dass sie mit ihrem Rad gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung unterwegs sind oder im falschen Ständer parken – all das, obwohl sie selbst in keiner Weise davon betroffen sind. Sie wissen, was recht ist, diese Leute. Und anscheinend muss das raus. Ich finde aber: Wenn sie sich schon in fremde Angelegenheiten einmischen, dann sollten sie sich die Mühe machen, die Perspektive zu wechseln. Solche Leute nenne ich nicht Pharisäer – das ist schon im Neuen Testament eine unangemessene Pauschalverurteilung einer großenteils ernsthaft um Glauben im Alltag bemühten Gruppe. Ich nenne sie einfach Besserwisser. Leider gibt es davon eine ganze Menge auch in den Gemeinden und auf der Kanzel. Moral-Instanzen Eine Spielart von Besserwisserei auf der Kanzel ist es, sich über Banker, Populisten, Politiker oder Terroristen aufzuregen. Das mag zwar richtig und aller Ehren wert sein – aber wozu ist es gut? Mag sein, dass die Gemeinde die Empörung des Predigenden teilt. Das ergibt dann eine allgemein befriedigende Solidarität. Wir gegen den Rest der Welt. Was für ein Kämpfer, unser Pfarrer! In den Kirchenbänken sitzen aber auch einige, die sich hinterher beschweren. 32


Dann erscheint die Predigerin erst recht als Heldin. „Die traut sich was – sogar, wenn sie damit aneckt!“ Im ersten Fall wird ein kollektives schlechtes Gewissen beruhigt: Wir sind auf der richtigen Seite. Im zweiten vor allem das des Predigenden: Ich habe eine christliche Position bezogen; es ist wichtig, Zeichen zu setzen. Nur, dass mit allgemeinem oder vereinzelten Kopfschütteln und Nicken nichts bewegt wird als eben nur der eigene Kopf. Und auch das weitgehend äußerlich. Das ist Stammtisch auf höherem Niveau. Da hilft es auch nicht weiter, wenn die Predigt im zweiten Teil eine Anwendung nachliefert. Wenn nicht nur auf „die anderen“ gezeigt wird, sondern auch auf den Binnenraum: „Seid ihr bzw. sind wir denn so viel besser?“ Es folgen Beispiele im kleinen Stil aus dem Bereich des Allzumenschlichen. Früher wurde bei solchen Gelegenheiten der moralische Hammer gegen die Gemeinde ausgepackt. Heute geht es behutsamer und pädagogischer zu. Die Predigerin klagt nicht direkt an, sondern fordert auf, sich selbst zu hinterfragen und zu erkennen. Und sie macht es vor: an sich selbst. „Aber, seien wir doch einmal ehrlich: Sind wir denn ganz frei davon, so zu denken wie …?“ – „Haben Sie nicht auch schon mal …?“ – „Also, wenn ich mich selbst so beobachte, dann muss ich gestehen …“ Begonnen hat so eine Predigt in der Regel mit einem Paukenschlag – Steuerhinterziehung im großen Stil. Enden tut sie dann mit dem Appell, den Geiz doch nicht ganz so „geil“ zu finden. Ganz ehrlich: Was bewirkt so eine Moralpredigt? Und anders gefragt, in Bezug auf das, was mir persönlich am Herzen liegt: Was bringt sie für die Seele?

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