

Den Schmerz umarmen
Iris Geyer
Den Schmerz umarmen
Wegbegleitung in Sterben, Tod und Trauer
Für meinen Enkel Paul, der mich mit vier Jahren gefragt hat, ob ich schon gestorben sei.



Nachruf
Legt mich heute ins kühle Grab, Wo ich für immer Ruhe hab.
Lasst über mir die Blumen blühen, Die Sonne aufgehen und verglühen. Denkt, dass dies ist des Lebens Lauf, Schauet empor und wachet auf.
Kurt Geyer
Unter Schock: Die erste Trauerphase
Überflutung durch Emotionen: Die zweite Trauerphase
Suchen und Sich-Lösen: Die dritte Trauerphase
Neues Selbst- und Weltbild: Die vierte Trauerphase
Sehnsucht nach Verzeihen
Sehnsucht nach Versöhnung
und Nachabschiedsrituale
ist die Antwort
Einleitung
Der Tod kommt für die Hinterbliebenen immer zu früh, selbst dann, wenn großes körperliches Leiden vorausging, wenn der sterbende Mensch schon lange sterben wollte. Immer kommt der Tod zu früh, zu plötzlich und macht fassungslos, sprachlos.
Die letzte Phase unseres Lebens ist jedoch Lebenszeit, gehört zum Leben und kann gefüllt werden. Sie kann erfüllt sein von Gemeinsamkeit, von einer längst fälligen Aussprache, von Versöhnung, von einer letzten Liebesbekundung, von Leben. Das hat die Hospizbewegung, beginnend mit Cecily Saunders, bewusst gemacht. „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, das ist ihr Motto.
Die Sterbephase als letzte Lebenszeit ist für viele Sterbende die Möglichkeit, noch einen Wunsch zu äußern, Abbitte zu tun oder – und das ist das Wichtigste – ihre Liebe zu zeigen. „Ich hab dich lieb“ sind die wirkmächtigsten Abschiedsworte, die es gibt. „Ich dich auch“ ist die Antwort an einen sterbenden Menschen, die das zu Ende gehende Leben rundet. Sterben ist so individuell wie unser Leben.
Wir haben Vorstellungen vom Sterben, Wünsche dafür. Wie es dann letztendlich sein wird, für jeden und jede von uns persönlich, weiß niemand.
Als Pfarrerin habe ich viele Menschen im Stadium des Sterbens gesehen, ich habe Sterbende begleitet und Verstorbene ausgesegnet. Im Trauergespräch mit den Hinterbliebenen habe ich viel erlebt, bei Beerdigungen unterschiedlichste Reaktionen beobachtet: heftige Trauer, Schuldgefühle, Erleichterung …
In diesem Buch fasse ich meine Erfahrungen mit Sterben, Tod und Trauer und meine Deutungen zusammen. Tatsächlich meine ich, Klassifizierungen für die Arten von Sterben gefunden zu haben. Vor allem geht es in diesem Buch jedoch um die Frage, wie wir mit dem Trauerschmerz umgehen können, um ihn allmählich zu einem Teil unserer Persönlichkeit, einer inneren Seite von uns werden zu lassen. Anders formuliert: Als Heilpraktikerin für Psychotherapie ist es mir stets wichtig, Lösungen zu finden, lebbare Lösungen, und auch deutlich zu machen: Wir machen nichts weg. Aber wir integrieren es in Ihre Persönlichkeit.
Die Trauer bleibt ein Leben lang. Sie wandelt sich zwar, doch sie wird immer zu einem Hinterbliebenen gehören.
Nach dem Tod eines geliebten Menschen ändert sich alles. Auch der Blick auf sich selbst und die Perspektive auf die Welt, das Lebensgefühl wird sich ändern, ja: wird sich ändern müssen. Erst dann und ganz all,mählich zeichnet sich eine Zukunftsperspektive ab.
Viele beschreiten den Weg des Kampfes: Sie kämpfen gegen Trauer und Abschiedsschmerz an, wollen diese nicht zulassen. Durch die Hintertür, über Gefühle von Wut, Aggressionen oder die Ausprägung einer Depression kommt die Trauer jedoch wieder herein und zeigt ihr Gesicht auf andere Weise, im Körper oder in wilden Gefühlen.
Trauer ist keine Krankheit, und die Trauer ist nicht unsere Feindin. Sie ist eine normale Reaktion auf einen Verlust. Trauer ist einfach die andere Seite der Medaille Liebe. Sie ist der Preis, den wir bezahlen müssen, wenn wir jemanden geliebt haben, der gegangen ist.
Trauer lässt sich nicht übergehen. Die Trauer und der Trauerschmerz lassen sich jedoch umarmen. Wir können uns mit ihm anfreunden. Wer einmal Trauer, Schmerz, Abschied erlebt hat, kann – nach eigener Beziehungsarbeit, nämlich Beziehungsarbeit mit sich selbst – gut damit leben, die Trauer ins eigene System integrieren, ohne dass der Gedanke an diesen Tod noch einen heftigen Stich ins Herz versetzt. Irgendwann verliert der Schmerz seine Wucht, er altert, verändert sich.
Auch die Trauer ist für jeden Menschen anders.
Freilich gilt: Jeder Mensch trauert anders, Frauen trauern anders als Männer, Kinder trauern anders als Erwachsene. Es gibt keine Regeln, kein Richtig oder Falsch. Als Referentin im Trauercafé in München, im „Café für die Seele“ des Evangelischen Bildungswerks, werde ich nicht müde, diese Unterschiedlichkeit des Trauerns zu betonen.
Trauer und Trauerschmerz werden dann, wenn sie bearbeitet sind, zu einem inneren Anteil des oder der Hinterbliebenen. Sie werden zum inneren Repertoire hinzugefügt. Sie machen einerseits innerlich reicher und andererseits empathischer für fremde Trauer und fremden Trauerschmerz.
All das gilt freilich auch für andere Abschiede und Verluste: Den Umgang mit Trennungen, gewollten oder ungewollten, von Menschen, Haustieren, vertrauter Umgebung, von Vorstellungen, die sich nicht oder nicht mehr realisieren lassen, von Wünschen, die sich nicht mehr erfüllen werden. All das will betrauert sein. All das bereitet uns Schmerzen. Ebenso wie eine anders geartete Trennung mitten im Leben, die Trennung von körperlicher oder mentaler Gesundheit.
Zu einer anderen Art Abschied zwingt uns die Demenzerkrankung unserer Lieben. Demente Menschen sind zwar noch da, doch ihre Persönlichkeit verändert sich, und die Person, die wir früher gekannt haben, verschwindet allmählich. Die Sprache geht verloren, alltägliche Handgriffe werden nicht mehr erinnert, können nicht mehr ausgeführt werden. Manche Erkrankte bemerken selber, dass sie den Satz nicht zu Ende führen, die Kaffeemaschine nicht mehr in Gang setzen oder das Kleidungsstück nicht mehr anziehen können. Manche werden deshalb wütend und aggressiv, andere resignieren. Auch dieses Vergehen, dieses Verschwinden fordert ein Trauern, ein Abschiednehmen.
Lassen Sie mich zum Schluss dieser Einleitung eine stilistische Bemerkung zum Buch machen. An vielen Stellen spreche ich von den Angehörigen des oder der Sterbenden. Mit den Angehörigen sind die Menschen
gemeint, mit denen die oder der Sterbende verwandtschaftlich verbunden ist. Manchmal ist auch von den Zugehörigen die Rede. Damit möchte ich alle Menschen mit einbeziehen, die der oder dem Sterbenden in irgendeiner Weise verbunden sind, ihr oder ihm nahestehen. Meist gebrauche ich diese Begriffe synonym.
Sie werden zudem bemerken, dass ich einmal die weibliche, einmal die männliche Form verwende, von der Sterbenden und dem Sterbenden rede. Mit diesem Abwechseln möchte ich von allen Geschlechtern sprechen und nicht in eine Engführung verfallen. Auch bei Aufzählungen kommen die Grammatikformen alternierend vor: Die Ärztinnen und Pfleger, die Philosophen und die Anthropologinnen zum Beispiel.
Am Ende des Buchs finden Sie einen Anhang mit Impulsen, Hinweisen, Anregungen, Ritualen und kleinen Übungen. Diese sollen als alltagstaugliche Hilfestellungen dienen und Möglichkeiten aufzeigen, wie Sie mit den unterschiedlichen Gefühlen im Zusammenhang mit Sterben und Trauer umgehen könnten.
Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich in Ihrer Trauer, Ihrem Schmerz und Ihrer Gefühlslage durch mein Buch ernst genommen und verstanden fühlen.
Die verschiedenen Arten des Sterbens




Den letzten Schritt allein gehen
Sterben schmerzt. Sterben hat Gewicht. Für die Betroffenen und die, die das Sterben miterleben. Aus dem Leben hinauszugehen, ist eine ebenso fordernde Aufgabe wie die, ins Leben hineinzukommen.
Die meisten von uns sterben hochbetagt, nach langer Krankheit, hat sich doch unsere Lebenserwartung im Lauf der letzten einhundert Jahre mehr als verdoppelt (Schulz 2018, S. 34.36). Über die Hälfte der Deutaschen erreicht ein Alter von über achtzig Jahren, statistisch gesehen. Etwa 20 Prozent der Menschen in Deutschland sterben in Pflegeeinrichtungen. Der Wunsch, zu Hause, in gewohnter, geborgener, geschützter Umgebung zu sterben, nimmt zu. Auch die Pflegemöglichkeiten durch ambulante palliative Versorgung.
Doch was sagt die Statistik schon über jeden Einzelnen von uns? Jeder stirbt seinen eigenen, persönlichen Tod. Und niemand weiß, wie es geht.
Angehörige gehen für einen Moment aus dem Zimmer des Sterbenden. Nur kurz einen Kaffee trinken, draußen etwas anderes sehen, hören, riechen, im Freien durchschnaufen, sich dehnen und strecken. Häufig ermutigt jemand vom Pflegepersonal dazu: „Machen Sie doch eine Pause, gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus, oder trinken Sie wenigstens einen Kaffee in der Cafeteria.“
Doch genau dann, in diesen wenigen Augenblicken, haucht der oder die Sterbende den letzten Atem aus, schließt die Augen für immer, und die Angehörigen haben das Gefühl: Jetzt kommen wir doch zu spät.
Häufig entstehen deshalb im Nachhinein Schuldgefühle und Selbstvorwürfe: Wären wir doch bloß geblieben. Diese kleine Zeit hätten wir auch noch durchgehalten! Ganz so erschöpft war ich doch gar nicht! Wir wollten sie oder ihn auf keinen Fall allein lassen, wollten helfen und den letzten Schritt begleiten.
Doch viele Sterbende wollen genau das nicht. Sie wollen den letzten Schritt allein gehen.
Vielleicht können sie den letzten Schritt nicht machen, weil und wenn die Lieben da sind. Die Anwesenheit der Angehörigen scheint sie zu halten, in diesem Leben festzuhalten. Sie könnten in der Liebe zu den Angehörigen steckenbleiben. In der Gegenwart ihrer Lieben können sie nicht gehen. Sie brauchen die Ruhe, ihre eigene Entscheidung, ihren eigenen Zeitpunkt für das Verlassen dieses Lebens und das komplette Loslassen. Weil mir das sehr oft berichtet wurde, nenne ich diese Art des alleinigen Sterbens den „Klassiker“.
Advent 2012. Das Telefon klingelt. Meine Schwester mit aufgeregter Stimme: „Es geht zu Ende mit Mama. Gerade hat das Heim angerufen.“
Meine Tochter und ich stürzen sofort ins Auto und rasen los. Dreieinhalb Stunden durch, immer in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen.
Wir kommen nicht zu spät.
Meine Geschwister stehen um das Bett meiner Mutter, die Enkelkinder auch. Meine Schwägerin hat eine Kerze angezündet.
Wir sitzen da, erzählen ein bisschen, singen Adventslieder. Meine Mutter hat die Advents- und Weihnachtszeit immer geliebt und auch uns die Liebe zu den Liedern mitgegeben.
Irgendwann verabschieden wir uns – meine Mutter ist wach, klar und wirkt gar nicht mehr so, als ob sie bald sterben könnte. Der Besuch und das Miteinander haben sie wieder aufleben lassen. Das mochte
sie ja schon immer: wenn alle beieinandersaßen, sich austauschten, miteinander feierten. Ja, dass alle kamen, das war für sie ein Fest.
Ungefähr eineinhalb Wochen lang blieb sie so stabil. Sie scheint von diesem Fest gezehrt zu haben. Oder war es die vermeintliche Verbesserung vor dem Ende?
Nach den eineinhalb Wochen kommt wieder ein Anruf. Ich springe in den Zug, melde mich in der Arbeit ab. Nach meiner Ankunft fahre ich mit meiner Schwester gleich ins Heim. Unsere Mutter isst und trinkt kaum mehr. Ich weiß, dass es ein Todeszeichen ist, wenn ein Körper sich verschließt, der Schluckreflex nicht mehr richtig funktioniert, der Körper nichts mehr verträgt.
Einmal füttere ich sie, mehr schlecht als recht. Angehörige halten es schwer aus, wenn ein lieber Mensch nichts mehr isst. Wir denken immer, sie oder er muss doch wieder zu Kräften kommen.
Ich kleckere und sage: „Ach, deine Iris kleckert mal wieder.“ Ich war schon immer die Unpraktische in der Familie. Meine Mutter schaut mich an und antwortet: „Meine Iris.“
Das waren die letzten Worte, die sie überlegt und selbstständig sprach. Auch jetzt, da ich das niederschreibe, muss ich weinen. Es war berührend und ein riesengroßes Geschenk meiner Mutter an mich.
Diese zwei Worte klangen voller Liebe, ohne Wenn und Aber. Es waren Worte, wie sie sich jeder Mensch wünscht: Worte, erfüllt von bedingungsloser Liebe.
In den nächsten Tagen waren meine Schwester und ich täglich für Stunden bei meiner Mutter. Meine Schwester kümmerte sich liebevoll um den Körper meiner Mutter, mit Cremes, mit weichen Kissen unter den Knien und den Füßen.
Ich sang alle verfügbaren Advents- und Weihnachtslieder, und konnte unsere Mutter sogar dazu animieren, immer einmal auch mitzusingen. Doch ihr Singen war etwas Automatisches. Da kamen Töne von Melodien, gelernt in ihrer frühesten Jugend.
In Stress kamen wir, als meine Mutter am Abend begann, unruhig
zu werden. Wir kümmerten uns um Schmerzmittel, was sich allerdings als schwieriges Unterfangen herausstellte. Denn Schwestern und Pflegekräfte dürfen nichts verordnen. Ärzte und Ärztinnen sind abends oder nachts nicht zu erreichen. Die Unruhe kam spät abends.
Erst am nächsten Tag bekamen wir Medikamente.
Stets wird propagiert: Niemand soll im Sterbeprozess Schmerzen leiden müssen. Aber meine Mutter hatte Schmerzen, zumindest deuteten wir die Unruhe so. Wir litten mit.
Das Singen und Pflegen der Haut und des Körpers ging am nächsten Tag so lange weiter, bis eine Ärztin kurz ihren Kopf ins Zimmer streckte und sagte: „Es ist auch gut, wenn ein Mensch in dieser Lebensphase mal Ruhe hat.“ Daraufhin saßen meine Schwester und ich nur noch schweigend am Bett meiner Mutter, lauschten auf ihren Atem, sprachen, nahmen eine Zeitlang ihre Hand oder berührten sie sanft streichelnd am Schlüsselbein, oberhalb der Brust. Hin und wieder sagten wir ihr: „Du darfst gehen, wenn du möchtest.“
Um zwei Uhr in der Früh sage ich zu meiner Schwester: „Sollen wir nicht mal nach Hause fahren?“
Sie: „Endlich sagst du mal was!“
Wir fahren, trinken zu Hause noch ein Glas Wein. Es ist aufwühlend und beängstigend und zutiefst existenziell, was wir da gerade erleben.
Nach einer Stunde Schlaf steht meine Schwester neben meinem Bett, weckt mich: „Das Heim hat angerufen. Sie ist gestorben.“
Wir ziehen uns an und fahren wieder zu ihr.
Nie hätten wir Kinder gedacht, dass unsere Mutter allein diesen Schritt gehen möchte. Wir waren der Meinung, dass sie unsere Gegenwart möchte, vielleicht sogar braucht. Heute sind wir der Überzeugung: Sie konnte nur allein gehen. Sie brauchte uns nicht. Sie brauchte unsere Berührungen nicht mehr. Wir brauchten das.
Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod. Die meisten sterben tatsächlich lieber allein.
Freilich kenne ich auch andere Fälle: Dass jemand in den Armen der
Lieblingstochter oder des Ehemanns, der Ehefrau, des Freundes, der Schwester stirbt.
Unsere Mutter ging den letzten Schritt allein. Wir Kinder hätten das nicht erwartet. Wir haben unsere Mutter an dieser Stelle ganz falsch eingeschätzt. Das zeigt: Sogar der letzte Atemzug kann noch eine Überraschung für die Lebenden bereithalten.
Daraus haben wir gelernt: Es ist gut, den Sterbenden zuzutrauen, dass sie sich den für sie passenden Zeitpunkt zum Sterben aussuchen und die Entscheidung selbst treffen, wann sie – poetisch gesprochen –über die Regenbogenbrücke gehen wollen.
Was wir auch gelernt haben: Die Liebe zur Familie, zu den Kindern, Enkeln hält hier auf der Erde fest. Anscheinend muss das Band zwischen denen, die sich mögen, weit gedehnt sein, gelockert, damit man gehen kann.
Tatsächlich wollte unsere Mutter schon seit längerer Zeit sterben. „Bitte bete für mich, dass ich sterben kann“, sagte sie immer wieder. Dahmit brachte sie mich zunächst in eine ziemliche Zwickmühle. Denn von meiner inneren Haltung her war ich im Zweifel, ob ich für den Tod beten durfte und sollte. Bislang betete ich immer für das Leben, für Gesundheit, ein Überleben. Ganz allmählich jedoch änderte sich meine Einstellung: Wenn es wirklich jemandes Wunsch ist, und wenn der Körper deutlich signalisiert, dass er am Ende ist, darf man um einen sanften Tod bitten, finde ich.
Diese innere Einstellung hat sich durch meine unzähligen Besuche in „meinem“ Altenheim noch verstärkt. Wie oft verließ ich das Heim mit der Frage im Herzen: „Ist es wirklich ein Segen, dass wir so alt werden?“
So viele alte Menschen fristen ein Dasein, das – zumindest von außen betrachtet – erbarmungswürdig ist. Also: Weshalb nicht um den Tod für jemanden bitten, der lebenssatt und des Lebens müde ist?
Manchmal, so hörte ich von anderen, ist der Körper auch eines noch jungen Menschen einfach so verbraucht und geschwächt und die Organe derart in Mitleidenschaft gezogen, dass sie anfangen, ihren Dienst zu
versagen, zum Beispiel durch einen Tumor. Dann fügt sich der Geist, gibt sich geschlagen und willigt ins Sterben ein.
Meiner Schwester war es wichtig, die Haut, den Körper meiner Mutter zu pflegen. Manche Angehörigen scheuen sich davor, einen sterbenden Menschen anzufassen, empfinden sogar Ekel.
Manche Sterbende fühlen sich, als ob sie Aussätzige wären, ansteckend. „Man meidet sie“, so Karin Simon (Simon 2023, S. 27). Andere wiederum suchen geradezu die Hand, um sie zu berühren und zu streicheln.
Ob meine Mutter es beruhigend fand, dass ich hin und wieder zwischen Hals und Schlüsselbein von einer Seite zur anderen strich, weiß ich nicht. Ich hoffte, sie würde das angenehm und beruhigend finden.
Wer im Leben eher körperliche Distanz gewahrt hat, wird diese vermutlich auch im Sterben schätzen. Doch wenn ein inniges Verhältnis bestand und Berührungen und Umarmungen in der Beziehung üblich waren, wird es willkommen sein, auch in der letzten Lebensphase Berührungen zu spüren. Vielleicht haben sich jedoch auch diesbezüglich die Wünsche verändert.
Simon schreibt: „Alles, was einem Säugling gefällt, gefällt auch einem sterbenden Menschen“ (Simon 2023, S. 111).
Meine Schwester und ich waren dankbar für die Anregung der Ärztin, dem sterbenden Menschen auch Ruhe zu gönnen. Einerseits ist es gut, sich normal zu verhalten und sich normal zu unterhalten, nicht auf Zehenspitzen zu gehen oder zu flüstern, sondern dem Leben Raum zu geben. Doch im Nachhinein betrachtet haben wir beide – sicher aus Unsicherheit – ständig ein Programm abgespult in den in unserer Familie üblichen Rollen: Meine Schwester als die Praktische, ich als die fürs Geistig-Spirituelle Zuständige. Als wir still wurden, wurde das Dasein noch intensiver.
Tatsächlich ist es eine große Auszeichnung und ein Geschenk, jemanden im Sterben begleiten zu dürfen.
ZUR
PERSÖNLICHEN VERTIEFUNG
Wie war es beim Tod Ihres geliebten Menschen?
Ging er oder sie den letzten Schritt allein oder durften Sie dabei sein, als sie oder er den letzten Atemzug tat?
Waren Sie kurze Zeit aus dem Sterbezimmer gegangen und genau dann ist der Tod erschienen?
Hielten Sie Ihren lieben Menschen im Arm?
Fühlen Sie sich durch Ihre Begleitung – auch wenn sie vor dem Schlussakkord endete – beschenkt und ausgezeichnet?
Haben Sie auch die Erfahrung von Unsicherheit gemacht – was soll ich tun, wenn jetzt das Atmen aufhört? Soll ich eine Schwester rufen, soll ich einfach still dabeibleiben?
Was soll ich sagen, was tun, wenn der Sterbende nicht mehr sprechen kann?
Wussten Sie auch nicht, ob eine Berührung erwünscht ist oder nicht, ob Plaudereien angebracht sind oder nicht?
Konnten Sie Ihrem geliebten Menschen noch sagen, was wichtig war? „Ich liebe dich.“ Oder: „Ich mag dich.“ Oder: „Danke für alles, was du für mich getan hast, danke für alles, was du mir geschenkt hast an Liebe, an Zeit, an Zuwendung?“
Vielleicht waren es bei dem Abschied, den Sie erlebt haben, eher die Gesten, die Blicke, die gesprochen haben?
Zwischen Hoffen und Bangen
Sehr häufig ist während des Sterbeprozesses eine Phase zu beobachten, in der es dem sterbenden Menschen wieder besser geht.
„Es geht aufwärts“, sagen und denken die Zugehörigen. „Der Tod muss doch noch etwas warten.“
Bei meiner Mutter war es so. Plötzlich ging es wieder sichtlich besser. Als die ganze Familie bei ihr war, erzählt, gesungen, sich verabschiedet
hat, da lebte sie noch einmal auf. Sie aß und trank wieder besser, wirkte belebt und lebendig.
Diese Verbesserung des Allgemeinzustands hält meist nicht lange an. Danach geht es häufig sehr schnell und sehr steil bergab.
Für die Angehörigen ist das eine besonders anstrengende Zeit. Sie gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt: Einmal geht es hoch, dann wieder hinunter, dann vielleicht noch einmal hoch.
Liegt der Sterbende im Krankenhaus, werden die Angehörigen genau in dieser Zeit gegenüber den Ärzten, Ärztinnen und den Pflegekräften ungeduldig oder gar aggressiv: „Da muss man doch etwas machen können!“ – „Tun Sie doch endlich etwas, damit der Zustand stabil bleibt!“
Meist ist diese Verbesserung das, was Sterbeammen wie Karin Simon das Reisefieber (Simon 2023, S. 62) nennen. Wissenschaftler sprechen von terminaler Luzidität (Schulz 2018, S. 55).
Der Koffer ist gepackt, alle Zeichen stehen auf Aufbruch. Doch plötzlich hat der oder die Sterbende Appetit, die Wangen bekommen wieder Farbe, die Augen leuchten. Manche Demente sprechen noch einmal ganz klar, so wie vor der Demenz. Die klaren Augenblicke könnte man auch „das Licht am Anfang des Tunnels“ nennen (Schulz 2018, S. 55).
Spätestens jetzt können die Profis einschätzen, dass die Medikamente oder Therapiemaßnahmen keine anhaltende Verbesserung mehr bringen werden. Doch den Angehörigen zerreißt es fast das Herz. Denn worauf sollen sie sich einstellen?
Dieser Zustand zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit bringt eine unangenehme Spannung. Für die meisten Menschen ist es leichter, sich mit der Klarheit des Todes auseinanderzusetzen als in diesem ungewissen Schwebezustand zu verharren, in dem man die Hoffnung auf Besserung auf keinen Fall aufgeben mag.
