Ourghi, Abdel-Hakim: Die Liebe zum Hass

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Die Liebe zum Hass

Abdel-Hakim Ourghi

Die Liebe zum Hass

Israel,

7. Oktober 2023

Für meine Töchter Ines und Mariam

Vorwort

Der 7. Oktober 2023 war ein sonniger Herbsttag, weder zu warm noch zu kühl. Für mich war es ein Samstag wie jeder andere, ein Tag der Erholung im Kreis der Familie. Nach dem Frühstück beginnt dieser Samstag wie gewohnt mit dem Einkauf auf dem Wochenmarkt in der Wiehre in Freiburg. Dann setze ich mich ins Marktcafé und verschaffe mir einen Überblick, was die Zeitungen so schreiben, was es im Internet Neues gibt. Ich rufe die arabischen Nachrichten von Al Jazeera auf. Was ich dort sehe, kann und will ich anfangs nicht glauben. Die Hamas hat Israel in Israel angegriffen? Die Nachricht ist ein Schock, ich bin mir nicht sicher, wie ich sie einordnen soll. Ich prüfe die Information auf den Webseiten westlicher Presse. Und sehe in den sozialen Medien Videos von den grausamen Verbrechen, die sich gerade ereignen. Es werden immer mehr.

Zunächst war ich überrascht, dass die Hamas in der Lage war, ein derart brutales Massaker zu verüben. Doch völlig überraschend erschienen mir die Geschehnisse dann doch nicht. Schon vor dem 7. Oktober war ich davon überzeugt, dass der politische Islam und die islamisch-radikalen Terroristen jederzeit zu solchen Taten bereit sind, wenn sie die Möglichkeit und die Mittel dazu haben.

Und sofort wird mir noch etwas anderes klar: Unsere Israelreise ist geplatzt. Eigentlich wollte ich Anfang November 2023 mit muslimischen, katholischen und evangelischen Studierenden zu einer

interreligiösen Reise nach Israel aufbrechen. Es wäre die zweite solche Reise gewesen. Eine erste im Herbst 2022 war ein großer Erfolg. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen mit unvergesslichen Erinnerungen und der Überzeugung zurück, dass Frieden möglich sei. Ich wollte mit diesen Reisen auch einen Beitrag zum interreligiösen Dialog zwischen Muslimen und Juden leisten.

Ich rief meinen Kollegen und Freund Ulrich Rebstock an. Er war mit dem Motorrad unterwegs im Schwarzwald. Ich fragte ihn, ob er schon die Nachrichten gelesen oder gesehen habe. Er verneinte.

Wie viele andere recherchierten wir nun fieberhaft. Assoziationen zum 11. September 2001 tauchten auf. Überall herrschte Bestürzung, Empörung und Trauer. Manche äußerten die Befürchtung, dass es mit dem Frieden zwischen Juden und Muslimen nun endgültig vorbei sei. Die Stunde des Hasses hatte geschlagen. Was man anfangs nur sorgenvoll vermutete, dass es zu vielen Opfern unter der israelischen Zivilbevölkerung gekommen war, wurde traurige Gewissheit. Im Lauf des Tages und an den darauffolgenden Tagen wurde das volle Ausmaß des Verbrechens immer klarer.

Die Ereignisse des 7. Oktober, aber auch die Lage der hilflosen Bevölkerung in Gaza und im Libanon, die von Hamas und Hizbullāh als unschuldige Schutzschilde missbraucht wird, lassen mich nicht los. Die Trauer ist bis heute ungebrochen. Der 7. Oktober bedeutete eine Zäsur: Eine Rückkehr zur Normalität war und ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht mehr möglich. Die Folgen des 7. Oktober sind bis heute fester Bestandteil meines Alltags. Das Thema beherrscht zunehmend die Auswahl meiner täglichen Lektüre, hat sich fast schon zu einer Art Besessenheit entwickelt.

Dabei sind für mich nicht nur der barbarische Genozid an wehrlosen Israelis von Belang, sondern auch der stark wachsende

islamische Antisemitismus und die massiv um sich greifende Israelphobie. Der 7. Oktober und seine Folgen haben gezeigt, dass der islamische Antisemitismus ein weitverbreitetes Phänomen ist. Ihn auszudrücken und auszuagieren ist kein Tabu mehr. Im Gegenteil: Er intensiviert sich rapide. Seine Anwesenheit im öffentlichen Raum auch bei uns im Westen ist nicht mehr zu übersehen. Judenfeindliche Auffassungen haben entgegen den ritualisierten anderslautenden Bekundungen an unseren Schulen und Hochschulen ihren festen Platz. Sie werden dort öffentlich ausgesprochen und ausgelebt.

In den vergangenen Monaten ist meine Sorge gewachsen angesichts des bei uns immer weiter zunehmenden islamischen Antisemitismus und der Sympathie, die der Hamas als angeblicher Befreiungsbewegung von vielen entgegengebracht wird. Abgesehen von einigen Beiträgen liberaler Muslime wie etwa von Ahmad A. Omeirate1 in Deutschland oder Kamel Daoud2 in Frankreich beunruhigt mich das ohrenbetäubende Schweigen der im Westen lebenden Muslime angesichts der Gräueltaten der Hamas. Stimmen wie die von Omeirate oder Daoud zeigen zugleich, dass nicht alle Muslime antisemitisch sind. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Menschen im Westen, im Nahen Osten und überall auf der Welt zu stärken und zu unterstützen.

Irgendwann wurde mir bewusst, dass mir diese Lage eine Aufgabe stellt: aus der Perspektive eines liberal-aufgeklärten Muslims auch meine Gedanken zu diesem Thema darzustellen. Gerade für Muslime stellt die Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Judenfeindschaft, Antisemitismus und Israelphobie eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Es ist mit diesem Buch nicht meine Absicht, mich in die israelische Politik einzumischen. Als jemand, der sich mit dem Staat Israel verbunden und seinem Existenzrecht verpflichtet fühlt,

möchte ich jedoch auch einige Gedanken zu einem möglichen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern vorstellen.

In der Zeit seit dem 7. Oktober ist mir zunehmend bewusst geworden, dass der islamische Antisemitismus nicht nur die Menschen in Israel oder die Juden in aller Welt betrifft, sondern alle Menschen in den Ländern des Westens. Er ist zum einen eine Gefahr für die Muslime selbst, weil er der perverse Ausdruck eines Selbsthasses ist, der persönliches und kollektives Scheitern offenbart. Alarmierend ist aber auch, dass der islamische Antisemitismus nicht nur die Existenz Israels ablehnt, sondern implizit die westlich-humanistischen Werte insgesamt infrage stellt.

Die Mehrheit muslimischer Intellektueller zeigt wenig Bereitschaft, sich mit dem Thema muslimischer Judenfeindschaft zu befassen, geschweige denn, sich dazu öffentlich zu äußern. Ein muslimischer Autor muss sich bei diesem Thema um besondere Neutralität, Sachlichkeit und Objektivität bemühen. Er muss ein Liebhaber der Wahrheit sein – und vor allem darf er nicht parteiisch sein. Darum habe ich mich bemüht. Ob es mir gelungen ist, können nur Sie, die Leserinnen und Leser, beurteilen. Und selbstverständlich kann und soll an den Thesen des vorliegenden Buches konstruktive Kritik geübt werden. Die Debatte ist eröffnet!

Bis heute sammle und bibliografiere ich sämtliche greifbare Veröffentlichungen in den mir zugänglichen Sprachen, die sich mit dem 7. Oktober befassen. Als gebürtiger Algerier spreche ich Arabisch und Französisch. Für dieses Buch habe ich viele französischsprachige Quellen zum Thema verwendet, ebenso wie ich Beiträge in der arabischen Presse, insbesondere von Al Jazeera aus Katar, berücksichtigt habe. Dass deren Inhalte mit Vorsicht zu interpretieren sind, weiß ich. Bis heute kommen zu dieser Sammlung täglich weitere Zeitungsartikel und Presseberichte hinzu, die mir verschie-

dene Personen zur Verfügung stellen: Ulrich Rebstock übermittelt mir in der israelischen Tagespresse veröffentlichte Nachrichten; Harry Wiener und Walter L. Blum von der „Gesellschaft SchweizIsrael“ versorgen mich mit sämtlichen Publikationen in deutscher und französischer Sprache, die in der Schweiz erscheinen. Manuela Petzold aus Berlin leitet mir alle englischen und deutschen Presseartikel über Israel und das Judentum weiter, derer sie habhaft wird.

Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ferner erwähnt in der Reihe derer, denen Dank gebührt, sei Robert Dupuis, der meine Fragen immer mit zahl- und hilfreichen Literaturhinweisen beantwortete.

Die Erfahrung von Krieg ist mit tiefem menschlichem Leid verbunden. Krieg ist eine fundamentale Verletzung der Menschlichkeit. So viel Blut wurde in den Konflikten und Kriegen im Nahen Osten vergossen. Unzählige Menschen dort sind von ihren Folgen gezeichnet. Der 7. Oktober 2023 markiert einen neuen Höhepunkt der Gewalt.

Jener sonnige Sabbatmorgen war ein hoher jüdischer Feiertag: „Simchat Tora“, das Fest der Tora-Freude. Es schließt das Laubhüttenfest („Sukkot“) und die jährliche Tora-Lesung ab – ein freudiges Fest, das auch viele nicht religiöse Juden gern feiern.

An diesem Tag kam es im Süden Israels zu einem Massaker: Hamas-Terroristen töteten mehr als 1.200 Menschen, sie verwundeten 5.400 Menschen teils schwer und verschleppten mehr als 240 Menschen als Geiseln. Die Bilder und Videos, welche die Öffentlichkeit erreichten, waren von solcher Grausamkeit, von solcher Unerträglichkeit, dass es sich nur schwer in Worte fassen lässt. Sie zeigten, wie unschuldig tanzende junge Menschen massakriert und abgeschlachtet wurden, sie zeigten entführte Kinder und Senioren, vergewaltigte Frauen.

Der 7. Oktober war ein Moment, in dem das unbegreifliche Böse sich live offenbarte, in dem es für alle Welt sichtbar wurde. Was mich bereits seit geraumer Zeit beschäftigt hatte, drängte sich nun mit neuer Dringlichkeit auf: die Frage, zu welchen Handlungen muslimische Terroristen fähig sind. Offenkundig betrachteten die Täter das Leben ihrer Opfer, unschuldiger Menschen aus der israelischen Zivilbevölkerung, als wertlos – weil sie Juden waren.

Der 7. Oktober war keine Racheaktion der Unterdrückten. Es war von islamisch-radikalen Fanatikern ausgeübte Gewalt, die sich aus islamischem Antisemitismus, Judenfeindschaft und Israelphobie speiste.

Der 7. Oktober war der Versuch, Israel zur Kapitulation zu zwingen – und dieser Versuch wird nicht der letzte sein. Islamischradikale Gruppierungen werden auch in Zukunft auf Gewalt und Terror setzen. Gewalt und Terror sind dabei weniger Mittel zum politischen Zweck, sondern vielmehr Ausdruck des Hasses, der Verachtung und Rache. Auch in Deutschland, wie überhaupt im Westen, wird Antisemitismus verurteilt, meist ohne dass dabei der islamische Antisemitismus klar benannt oder eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen und seinen Protagonisten gesucht würde.

Betrachtet man, wie man im Westen mit dem islamischen Antisemitismus umgeht, erkennt man, dass Erkenntnisverweigerung, Wunschdenken und das Wegschieben unangenehmer Fakten eine große Rolle spielen – eine zu große. Im islamischen Antisemitismus steckt ein Gefahrenpotenzial, das, wenn es sich entladen sollte, nicht mehr kontrollierbare Folgen haben könnte. Diese Entwicklung ist nicht auf Frankreich beschränkt, wo sie schon weit fortgeschritten ist. Diese Gefahr betrifft auch Deutschland und alle anderen westlichen Länder. Solange nichts getan wird, um dem islamischen Antisemitismus aktiv und präventiv zu begegnen, wird

er eine Bedrohung bleiben, die besonders aus politischen Krisen Kapital schlägt.

Immer und überall besteht aber die Möglichkeit, sich für den Weg des Friedens zu entscheiden. Ich sehe mich nicht als Träumer, wenn ich an die Macht des Wortes glaube. Als aufgeklärter und liberaler Muslim bin ich fest davon überzeugt, dass ein friedliches Miteinander von Juden und Muslimen möglich ist. Dieses Ziel kann Wirklichkeit werden! Die Voraussetzung dafür ist, dass Muslime und Juden sich im Alltag begegnen, sich kennenlernen und miteinander sprechen. Die Mehrheit der Muslime, zumal in den Ländern des Westens, lehnt Juden ab, ohne jemals persönlich mit Juden in Kontakt gekommen zu sein. Ähnliche Haltungen nehmen auch manche Juden ein. Deswegen ist es von essenzieller Bedeutung, die Macht der Sprachlosigkeit zu brechen. Wer miteinander an einem Tisch zusammensitzt, miteinander lacht, sich gemeinsam freut und gemeinsam trauert, baut am Frieden mit. Sprache kann nicht nur verletzen, sie kann auch heilen.

Von Anfang an war mir bewusst, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema „islamischer Antisemitismus“ nicht ohne Kontroversen bleiben würde. Für viele gibt es im Palästina-Israel-Konflikt, im Konflikt von Muslimen und Juden, nur ein Entweder-oder: Entweder du bist für uns – oder du bist gegen uns. Die israelische Regierung sowie die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF: Israel Defense Forces) werden für ihr Vorgehen in Gaza und im Libanon, das man als Verbrechen wertet, kritisiert. Nicht berücksichtigt wird, dass Israel um seine Existenz kämpft. Die Verantwortung der Hamas für den 7. Oktober wird von vielen Muslimen verschwiegen. Weil ich all das ausspreche, bezichtigt man mich, als Muslim Verrat zu üben, ein „Zionist“ und pro-israelischer Propagandist zu sein. Einher geht das mit Beschimpfungen oder auch Drohungen.

Tatsächlich haben die Ereignisse des 7. Oktober mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass ich gerade als Muslim den Staat Israel und die Juden in der ganzen Welt zu verteidigen und zu unterstützen habe. Israel ist für mich eine Oase inmitten einer Wüste. Ihre Verteidigung ist eine Aufgabe, die auf globaler Ebene wahrgenommen werden muss. Auch wir Muslime sind dazu verpflichtet, dieses Land und seine Bevölkerung zu beschützen.

Wiederholt wurde ich gefragt, ob ich nicht in Wahrheit Jude sei. Sogar Juden haben sich bei mir erkundigt, ob ich jüdische Vorfahren habe. Man unterstellt mir, ich würde von Israel bezahlt. Für „freundliche“ Beiträge in den sozialen Medien bezahle Israel bekanntlich beträchtliche Beträge, Influencern würden Summen von bis zu 5 000 Euro angeboten: „In Ihrer Klasse ist das sicherlich einiges mehr, oder?“ Daher an dieser Stelle ein klares Bekenntnis: Nein, ich habe keine jüdischen Vorfahren. Ja, ich bin Muslim. Und nein, ich erhalte kein Geld aus Israel.

Mit solchen Anschuldigungen kann man noch leben. Wirklich traurig ist es, wenn Beziehungen zu Personen, die einem nahestehen, abbrechen, nur weil ich eine andere Meinung äußere oder mich für den Frieden zwischen Muslimen und Juden einsetze. Doch ich werde weiter versuchen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Die enge Freundschaft meiner jüngeren Tochter Mariam mit ihrer jüdischen Freundin Zelda bestärkt mich in diesem Engagement.

Mein besonderer Dank gilt der Lektorin Martina Mosthaf und dem Journalisten Markus Springer, die das Buch in eine lesbare Form gebracht und mich mit ihrem Rat unterstützt haben. Mein aufrichtiger Dank gebührt auch Ulrich Rebstock, der das Buch mit wissenschaftlichen Ratschlägen, kritischem und zugleich wohlwollendem Interesse begleitet sowie mit nie versagender Gelassenheit bereichert hat.

Einleitung

Am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 drangen 2.000, vielleicht sogar 5.000 bewaffnete Männer von Gaza nach Israel ein, um zu morden, zu vergewaltigen, zu verstümmeln und zu rauben. Die meisten Menschen, die sie töteten, waren Zivilistinnen und Zivilisten. Es waren Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Seniorinnen und Senioren. Ihr Massaker betitelten die, die es planten, und die, die es ausführten, als „Al-Aqsa-Flut“. Die Al-Aqsa-Moschee befindet sich auf dem Tempelberg in Jerusalem. „Sintflut“ ist ein (auch) koranischer (Koran 29:14) Begriff, der an die biblische Erzählung von der Arche Noah erinnert (1. Mose / Genesis 9,8–17).

Der blutigste Pogrom an Juden seit dem Holocaust war mehr als nur ein weiteres schreckliches Ereignis im unendlichen Konflikt zwischen Juden und Arabern, der seit mehr als hundert Jahren andauert. Jerusalem als heilige Stadt der drei monotheistischen Religionen steht im Zentrum dieses Kampfes: Das religiös-historische Erbe, das Judentum, Christentum und Islam teilen, bildet den Hintergrund auch für die neueste Episode des Konflikts.

Die Spannung, die von diesem Konflikt ausgeht, belastet nicht nur die unmittelbar beteiligten Parteien, sondern die gesamte Welt. In dem Konflikt prallen fundamental unterschiedliche Rechtsauffassungen und Heimatkonzepte aufeinander. Sowohl Juden als auch Araber betrachten das Land als ihr rechtmäßiges Eigentum.

In den Kriegen, die dieser Konflikt auslöste, hat der Staat Israel

seit seiner Gründung 1948 nahezu durchgängig die Oberhand behalten. Frieden haben die endlosen Niederlagen der Palästinenser Israel aber nicht gebracht. Mit dem Endziel der Vernichtung des Staates Israel kämpfen die Palästinenser weiter. Ein Frieden zwischen Juden und Muslimen ist gegenwärtig nicht in Sicht.

Bei seiner Verteidigung und beim Versuch, die für die „Al-AqsaFlut“ verantwortliche Terrororganisation Hamas in Gaza zu vernichten und die verschleppten israelischen Geiseln zu befreien, hat sich Israel den Vorwurf eingehandelt, einen „Genozid“ an den wehrlosen Palästinensern in Gaza zu verüben. Bei diesem Vorwurf und bei der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand gerät in der Regel aus dem Blick, dass es die Hamas und Palästinenser aus dem Gazastreifen waren, die am 7. Oktober einen bis zu diesem Morgen bestehenden Waffenstillstand brachen – und zwar in tatsächlich genozidaler Absicht.

Sie verübten an diesem Tag einen fanatischen und rücksichtslosen Terrorakt, in dessen grotesk übersteigerter Grausamkeit strategische Logik steckt: An der Größe des ausgelösten Leids maß sich der Erfolg. Nach diesem Maßstab können der 7. Oktober und seine Folgen nicht anders denn als Sieg der Hamas über Israel gewertet werden. Den Terrorplanern der Hamas ist es gelungen, Israel in die Lage zu bringen, die ihren Absichten entspricht. Israel befindet sich nun in einem Mehrfrontenkrieg und ist zugleich weltweit isoliert. Israel muss sich nicht nur der Hamas und anderer Dschihadisten in Gaza und der Westbank erwehren, dazu kommen die Hizbullāh im Libanon, die Huthi-Milizen im Jemen oder die schiitischen Milizen in Syrien und im Irak. Bereits zweimal, im April und Anfang Oktober 2024, hat Iran, das hinter dieser Allianz steht, Israel direkt mit Hunderten Raketen angegriffen.

Der 7. Oktober war kein zufälliges Datum. Der 7. Oktober war sorgfältig geplant und in seinen Folgen kalkuliert. Er zielte darauf ab, möglichst großes Leid zu verursachen, die ins Visier genommenen Opfer zu entmenschlichen. Der extreme Sadismus der Täter und die gezielte Brutalität ihrer gut dokumentierten Taten hatten und haben auch bei den Angehörigen, Freunden und Mitbürgern der Opfer schwere Folgen. Viele Menschen auf der ganzen Welt hat diese totale Enthumanisierung tief erschüttert. Das größte Massaker an Juden seit der Schoa betrifft nicht nur die Israelis, sondern alle Juden.

Der 7. Oktober hat weltweit eine Explosion des Antisemitismus ausgelöst. In arabischen Ländern, in der Türkei, vor der Al-AzharMoschee in Kairo und auch im indonesischen Jakarta gingen bereits an diesem schwarzen Samstag Muslime auf die Straße. Auch in Ländern wie Marokko, Jordanien oder Bahrain, die Friedensabkommen mit Israel geschlossen haben, demonstrierten viele Menschen ihre Begeisterung f ür den von der Hamas begangenen Terror. In Marokkos Hauptstadt Rabat brannten Israel-Fahnen und wie in Jordanien, im Westjordanland oder andernorts in der arabischen Welt verteilten auch auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln

Muslime zur Feier Süßigkeiten an Passanten.

An diesem 7. Oktober begingen Juden Simchat Tora, das Fest der Tora-Freude. Einer der beliebtesten Bräuche an Simchat Tora ist es, Kinder in der Synagoge mit Süßigkeiten zu beschenken. Auch diese Parallele gehört zu den vielen Abgründen dieses Tages, an dem abends in der al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg die Sure al-Fatḥ gebetet wurde. Der Name der Sure 110 bedeutet unter anderem „Sieg“. Muḥammad verrichtete dieses Gebet nach erfolgreich abgeschlossenen Eroberungszügen.

Drei Tage nach dem Massaker, am Dienstag, den 10. Oktober

2023, wurde ich abends zufällig Zeuge einer antisemitischen Demonstration in der Innenstadt von Karlsruhe. Anhänger der Hamas, unter ihnen viele junge Menschen und auch Kinder, hatten sich mit palästinensischen Flaggen auf dem Marktplatz versammelt. Die Demonstranten riefen „Allāhu Akbar“ und skandierten auf Arabisch antijüdische Hetzparolen wie: „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Muḥammads Heer wird bald zurückkommen“ (Chaibar, Chaibar, yā yahūd, dschaisch Muḥammad sayaʽūd). Sie riefen „Das Blut des Märtyrers schreit nach deinem Blut“, „Glorreich sind die Stimmen der Waffen, wir sind die Söhne Hamas“, „Mit der Seele und dem Blut werden wir uns dir, Palästina, aufopfern“. Ich war entsetzt und musste gehen.

Der Slogan „Chaibar, Chaibar, yā yahūd, dschaisch Muḥammad sayaʽūd“ wird immer wieder bei Demonstrationen gegen Israel skandiert. Nicht zufällig trugen auch die aus Iran importierten Raketen, mit denen die Terrororganisation Hizbullāh im Sommer 2006 Israel angriff, den Namen „Chaibar-1“. Der Name und der Slogan erinnern an den siegreichen Kriegszug des Propheten und seiner Gemeinde gegen die jüdischen Bewohner der Oase Chaibar im Jahr 628. Chaibar war das erste von der islamischen Gemeinschaft außerhalb von Medina eroberte und unter ihre Herrschaft gebrachte Gebiet. Die Verwendung des Slogans knüpft bewusst an die Eroberungsgeschichte des Frühislam an: Indem sich die muslimischen Demonstranten ebenso wie die islamistischen Terroristen Muḥammad zum Vorbild beim Triumph über die Juden in der Vergangenheit nehmen, träumen sie von einer Erneuerung dieser Siege über den Staat Israel und die Juden in der Gegenwart. Die Karlsruher Lokalpresse berichtete, die Polizei habe einen erfahrenen Beamten mit der Auswertung der skandierten Parolen bei der Demonstration beauftragt. Seiner Einschätzung nach wurden an

besagtem Tag keine Hetzparolen verbreitet. Ob der Polizeibeamte den geschichtlichen und geistlichen Hintergrund der Rufe wirklich verstand?

Zum ersten Jahrestag, am 7. Oktober 2024, herrschte erneut Jubel auf Berliner Straßen. Diesmal wurde der iranische Raketenangriff auf Israel gefeiert. Rufe wie „Widerstand“ und „Allāhu akbar“ (Gott ist groß) wurden laut. Die Teilnehmer der Kundgebung trugen Palästinensertücher und schwenkten palästinensische oder libanesische Flaggen. Auch viele Deutsche ohne Migrationshintergrund haben sich inzwischen mit der Sache der Palästinenser solidarisiert. Für sie ist klar, wer in diesem Konflikt Opfer und wer Täter ist. Auf propalästinensischen Demonstrationen kann man den Eindruck gewinnen, Gaza sei nach dem 7. Oktober (von dem allerdings nie die Rede ist) grundlos von den völkermörderischaggressiven Israelis angegriffen worden. Auf Demonstrationen, die das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza beklagen, ist meist nichts davon zu hören, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als Schutzschilde missbraucht, dass sie f ür die Ermordung von mehr als tausend israelischen Zivilisten und die Geiselnahme von Kindern und Frauen verantwortlich ist. Stattdessen erscheint der Staat Israel in dieser Darstellung als die Inkarnation des Bösen, dessen Vernichtung geradezu moralisch geboten sei. Grundlegend dafür ist der Kampf um die Opferrolle. Die Palästinenser und die Muslime haben in diesem Kampf längst triumphiert. Und die Opferrolle wird sorgsam beschützt.

Häufig zu hören bei Demonstrationen ist die Parole „One genocide does not justify another“ – ein Völkermord rechtfertige keinen anderen. In dem Slogan steckt einiges an Perfidie. Er legt zum einen nahe, es gebe einen ursächlichen Zusammenhang der

nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden mit den angeblich gleichartigen Verbrechen der Israelis an den Palästinensern. Dahinter verbirgt sich die irrige Überzeugung, erst der europäische Judenmord des 20. Jahrhunder ts habe den Muslimen im Nahen Osten Israel „eingebrockt“, als habe es zuvor keine zionistische Bewegung gegeben. Tatsächlich begann das Streben der Juden nach einer sicheren Heimstatt in ihrem historischen Land schon lange zuvor. Und es war von jeher eine Befreiungsbewegung weg von der Unterdrückung als Minderheit in Gesellschaften mit christlicher oder muslimischer Bevölkerungsmehrheit.

In der Parole steckt zudem eine Relativierung der Schoa: In ihr steckt die Behauptung, Israel tue heute den angeblich wehrlosen Palästinensern das an, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg mit den Juden machten. Das erleichtert die Umdeutung der barbarischen Gewalt am 7. Oktober zum Akt des Widerstands und der kolonialen Befreiung. Es befördert eine Kultur des Relativierens und des falschen Kontextualisierens.

Den Muslimen im Westen hätte der 7. Oktober die Möglichkeit geboten, öffentlich in aller Klarheit für die friedliche Koexistenz von Muslimen und Juden, von Muslimen und Nicht-Muslimen einzutreten. Für kurze Zeit hatte ich die Hoffnung, nun würden die Muslime bei uns in ganz anderer Weise in großer Zahl auf die Straße gehen: nämlich um den Terror der Hamas zu verurteilen. Das wäre nicht nur richtig gewesen, es hätte auch gezeigt, dass die Gräueltaten der Hamas nicht im Namen aller Muslime und nicht im Namen des Islam geschahen. Aber das war Wunschdenken, wie sich schnell herausstellte.

Stattdessen ist es seit dem 7. Oktober zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Antisemitismus gekommen. Der islamische Antisemitismus innerhalb der muslimischen Bevölkerung in den west-

lichen Ländern ist nicht mehr nur latent. Er zeigt sich heute ganz offen.

Parolen wie „Free, free Palestine“, „From the river to the sea –Palestine will be free“, der Schlachtruf „Yalla Intifada“ oder die Verleumdung „Zionisten sind Faschisten“ sind keine x-beliebigen, durch Reim, Versmaß und die Meinungsfreiheit gedeckten Äußerungen. Sie sind Ausdruck von Antisemitismus. Für einen Staat Israel wäre kein Platz mehr, wenn zwischen Jordan und Mittelmeer ein Staat namens Palästina existieren würde.

Unheilige Allianzen sind entstanden: Große Teile der politischen Linken, der Kulturszene und des akademischen Betriebs haben sich faktisch an die Seite der islamischen Antisemiten gestellt. Sie tragen dazu bei, die Narrative des islamischen Antisemitismus zunehmend zu normalisieren und mit abnehmender Befürchtung von Repressionen auch immer unverblümter zum Ausdruck zu bringen. Die alarmierende Virulenz des islamischen Antisemitismus ist auch das Produkt einer nur unvollständig gelungenen Integration. Sie ist damit zugleich ein Symptom einer tiefgreifenden Krise in der westlichen Gesellschaft.

Die Islamverbände in Deutschland sind muslimisch-konservativ ausgerichtet. Der Zentralrat der Muslime, die türkische DITIB, die Islamischen Kulturzentren e. V. oder die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland e. V. treten zwar sonst gern, oft und eloquent an die Öffentlichkeit. Zu den Ereignissen des 7. Oktober in Israel haben sie sich bisher nicht geäußert. Von einigen Lippenbekenntnissen abgesehen haben ihre Wortführer die Hamas bisher nicht klar als terroristische Organisation verurteilt. Nach außen wird vonseiten der Verbände gern betont, dass man sich gegen „jeden Antisemitismus“ (und Rassismus und Muslimfeindlichkeit)

wende und dass es in den eigenen Gemeinden keine Antisemiten gebe.

Predigten in den Moscheen haben einen starken Einfluss auf die Einstellungen der Gläubigen. Doch in diesen Predigten ist wenig vom Kampf gegen Judenhass zu hören. Denn nur nach außen hin besteht in den Verbänden das Bestreben, die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, wie sie etwa von der Politik oder beiden Kirchen formuliert werden, im Kampf gegen den Antisemitismus zu erfüllen. Tatsächlich halten die Imame und Wortführer der muslimisch-konservativen Dachverbände die Hamas für eine Befreiungsbewegung und den Kampf, den sie – nach eigenen Angaben – führt, für legitim. Für sie sind auch Hamas-Terroristen Glaubenskämpfer, die die heiligen Stätten in Jerusalem von der israelischen Besatzung befreien wollen. Dabei wäre jede einzelne muslimische Stimme, die sich unmissverständlich und glaubhaft gegen den islamischen Antisemitismus und gegen die Hamas ausspricht, von größter Bedeutung.

Ali Erbaş, der Vorsitzende der Diyanet (türkisches Präsidium für Religionsangelegenheiten), bezeichnete Israel sechs Tage nach dem Terrorangriff der Hamas als „rostigen Dolch, der im Herzen der islamischen Geografie steckt“. Gemeint ist damit die Existenz eines nicht mehrheitlich muslimischen Staats in einem Gebiet, das in seiner Geschichte bereits islamisch erobert war. Was Erbaş, in dieser Funktion auch der oberste Chef der DITIB in Deutschland, aussprach, ist die Überzeugung einer Mehrheit der Muslime, die Israel auch aus diesem Grund sein Existenzrecht abspricht.

Je länger wir den islamischen Antisemitismus verschweigen und zu verdrängen versuchen, desto gefährlicher wird er. Vor allem die deutsche Politik reagiert bei Weitem nicht entschieden genug. Es

fehlt an realistischen und zukunftsweisenden Konzepten zur Bekämpfung des islamischen Antisemitismus.

Aus theologischer Perspektive stellen die Taten am 7. Oktober eine gottesfeindliche Sünde dar. Das Böse hat sich hier jedoch nicht in Gestalt des Satans manifestiert, sondern in Menschengestalt, verkörpert durch die islamisch-radikalen Hamas-Terroristen. Angst davor, die Gefühle der Muslime zu verletzen, darf nicht daran hindern, Böses als Böses zu benennen. Das vorliegende Buch will dieses Böse benennen. Dabei ist es aber entscheidend, die Hintergründe und Folgen des 7. Oktober sachlich-differenziert zu betrachten, um diese in ihrer Tragweite und Bedeutung richtig verstehen zu können.

Antisemitismus muss bekämpft werden, und er kann bekämpft werden – auch der islamische Antisemitismus. Möglich ist dies aber nur, wenn die Sachverhalte öffentlich und ungefiltert angesprochen werden, genauer: wenn die historischen und politischen Verhältnisse im Nahen Osten in ihrer Komplexität thematisiert werden.

Selbstverständlich kann man bei der Interpretation historischer Ereignisse zu unterschiedlichen Meinungen kommen. Die Fakten bleiben davon aber unberührt.

Wie soll ein Frieden aussehen, wenn das Existenzrecht Israels grundsätzlich infrage gestellt ist, wenn der mörderische Kampf um ein „freies Palästina“ in Wahrheit ein Kampf um ein „israelfreies“, also judenfreies Land ist? Was würde passieren, wenn die Palästinenser einseitig die Waffen niederlegten und auf Gewalt verzichteten? Was hätte Israel zu erwarten, wenn es das Gleiche täte? Wenn Sie dieses Gedankenexperiment einmal durchspielen, wie sieht dann Ihr Ergebnis aus?

Selbstredend kann die Politik jeder israelischen Regierung kritisiert werden. Gründe dafür gab es immer, und es wird sie immer

geben. Um zu dieser Überzeugung zu kommen, muss man einfach nur die israelischen Zeitungen lesen. Kritik von außen muss aber sachlich, informiert und differenziert sein, also in einer konstruktiv-zivilisierten Form erfolgen. Hass und Verachtung sind keine solche Kritik, und auch die sogenannte „Israelkritik“ ist deswegen meist keine Kritik, sondern etwas anderes.

Die Gegenwart ist paradox. Israel, das seit mehr als 75 Jahren um seine Existenz kämpfen muss, gilt weithin in der öffentlichen Wahrnehmung als Täter. In merkwürdiger Weise werden an die sicher nicht perfekte, aber doch einzige Demokratie im Nahen Osten völlig andere Maßstäbe angelegt als an alle anderen Staaten. Nicht nur in vielen arabischen oder muslimischen Ländern sind Israel und die Juden Projektionsflächen f ür eigenes und kollektives Versagen in wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Hinsicht.

Die Hamas, ein Ableger der Muslimbrüder, strebt keinen demokratischen palästinensischen Staat an. Sie will einen islamisch-radikalen Staat, in dem gleichberechtigtes jüdisches Leben unmöglich ist. Mit diesem Ziel wie mit ihren Verbrechen am 7. Oktober trifft die Hamas auf große Zustimmung in der breiten palästinensischen Bevölkerung.3

In einem von Tyrannei geprägten System gibt es keine Zukunftsperspektive für diejenigen, die sich für universelle Menschenrechte, die Freiheit des Individuums und die Akzeptanz divergierender Meinungen einsetzen. Ein islamisch-radikaler Staat bedeutet die Unterdrückung von Frauen und die Ermordung von queeren Menschen. Daher ist es unsere Verantwortung, nicht nur Israel vor so einem Staat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu bewahren, sondern auch die palästinensische Bevölkerung vor sich selbst zu schützen: Ein islamischer Staat, der von islamischem Radikalismus geprägt ist, stellt eine Gefahr für alle Menschen dar.

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