

Der Tod der alten Dame
HANS HENTSCHEL
DER TOD DER ALTEN DAME
Gibt es Hoffnung für Mutter Kirche?
Ein persönliches Vorwort
Seit 44 Jahren lebe ich mit einer Geliebten neben meiner Ehefrau.
Diesen provokativen Satz könnte ich auch noch auf einen sehr viel längeren Zeitraum beziehen. Diese Geliebte teilt nämlich tatsächlich die wesentlichen Zeiten meines bewussten Lebens. Solange ich mich zurückerinnern kann, ist sie da. Sie ist im Grunde immer da gewesen.
Meine Eltern haben dafür Sorge getragen, dass die Liebe zu ihr gewachsen ist. Immer mehr Menschen kamen dazu, die mir zeigten, dass diese Liebe sich lohnt und dass ein Leben ohne diese Geliebte ärmer wäre.
Auch wenn ich mit meiner Frau zu zweit war, war die Geliebte dabei. Wir sprachen über sie, wir verteidigten sie gegen ihre Verächter, wir kritisierten sie, wo es uns nervte, wie sie sich danebenbenahm, und sie mischte in der Erziehung unserer Kinder kräftig mit.
Diese Geliebte ist … die Kirche.
Die Liebe meines Lebens gehört der Kirche. Sie ist die Geliebte, die an meinen Alltagen morgens schon am Frühstückstisch saß und abends den Schreibtisch mit mir teilte.
Und sonntags war Besuchstag.
In den Armen der Kirche fühle ich mich bis heute geborgen und der Raum, den sie in meinem Leben einnimmt, ist riesengroß.
Wenn ich allerdings heute auf sie schaue, sehe ich eine alt gewordene Dame, der sich historische Irrtümer, moderne Quengeleien, universale Fehlleistungen aus Vergangenheit und Gegenwart und die schrecklichen Vorwürfe und Tatsachen der sexuellen Übergriffe ins Gesicht gegraben haben.
Der Ruf meiner Geliebten ist zweifelhaft geworden.
Das ist umso trauriger, als es ihr eigentlich immer um Glaubwürdigkeit gegangen ist. Um die Würde des christlichen Glaubens, für den sie einsteht und in ungezählten Dörfern und Städten einfach dasteht.
Wenn ich auf meine Geliebte sehe, Lebensbegleiterin durch gute und durch böse Tage, dann wird der Blick von einem durchdringenden Ton überlagert. Es ist das Tatütata des Rettungswagens, mit dem die Kirche nach traditionsgetragenen Jahrhunderten, nach Stein gewordenen Zeiten, nach selbstverständlichem Da- und Dabeisein in allen Menschentagen auf die Intensivstation des ‚ModerneWelt-Hauses‘ gebracht wird, wo sich neben erschrockenen Funktionär*innen und umtriebigem Verwaltungspersonal auch manche Betroffene wie ich Sorgen um die Geliebte machen.
Da liegt die alt gewordene Dame und die einen geben sie auf, weil man auch einer Hundertjährigen keine neue Hüfte mehr einbaut oder ihr einen Herzschrittmacher einsetzt, andere halten in Treue ihre Hände, von denen sie
sich lebenslang begleitet fühlten, und wieder andere – eine erschreckend größer werdende Zahl – wenden sich ab und lassen die alte Dame ohne weitere Anteilnahme sterben … wann, das weiß man nicht. Und wenden sich dem Leben zu.
Und während diese vielen frisch, fit, frei die Geräusche und Genüsse des Lebens mit allerlei anderen Geliebten teilen, werden auf der Intensivstation all die Register der lebenserhaltenden Instrumente gezogen.
Ob der Tod der alten Dame tatsächlich nah ist oder ob sie Auferstehung aus dem Bett der Intensivstation feiern kann, vermag ich nicht zu sagen.
Ich jedenfalls bin noch nicht bereit, die alte Dame, die Geliebte meines Lebens, aufzugeben.
Was im Folgenden erzählt wird, ist die Geschichte der alten Dame, die Schilderung ihrer Krankheit und einer Diagnose. Es werden Behandlungsmöglichkeiten bedacht, Medikamente vorgeschlagen und eine Reha angedeutet.
Der Tod der alten Dame soll nicht widerspruchslos und ohne den hoffnungsvoll geführten Kampf ums Überleben hingenommen werden.
TEIL EINS
Wie
geht’s denn? –

„Der Rost macht erst die Münze wert“
Ehrlich – der Rost macht erst die Münze wert? Dieses Zitat aus Goethes Faust ist einerseits eine unsinnige Behauptung in der modernen Konsumwelt und von daher unter dem Gesichtspunkt zeitgenössischer Geldwirtschaft eine Unwahrheit. Andererseits kann der Satz für die Hobbygemeinschaft all jener, die leidenschaftlich Münzen sammeln, durchaus wahr sein. Antike Münzen zwar werden in ihrem Wert nicht allein vom Rost bestimmt, aber je älter, je mehr aus der Zeit gefallen eine Münze ist, desto eher kann man davon ausgehen, dass ihr ein gewisser, nicht zu vernachlässigender Wert zukommt. Manche der alten Münzen werden mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis erst vom Rost der Jahrhunderte oder Jahrtausende zu befreien sein, um den tatsächlichen Wert zu ermitteln. Und wenn es kein wirklicher ‚Kaufwert‘ ist, dann ist es der Wert der Wertschätzung.

Unterwegs in eine andere Zeit?
Nicht wenige argumentieren bei den Alterserscheinungen der Kirche – römisch oder lutherisch ist dabei egal –, dass der Rost den Wert der Kirche ausmache. Die so Argumentierenden haben dabei die Tradition und das Jahrhunderte währende Wesen der Kirche im Auge. Ausgedrückt wird
das gern mit den Worten: „Was schon vor Hunderten von Jahren gut, hilfreich und segensreich gewesen ist, kann nicht plötzlich schlecht sein und dem Modernismus oder einer lässigen À-la-mode-Haltung geopfert werden.“
Diejenigen in der Kirche, die unbedingt und gegen die Zeit an den wunderbaren Traditionen festhalten wollen, haben durchaus nicht die Absicht, der Kirche zu schaden, selbst wenn sie diese dem eigenen Geschmack unterwerfen. Stark wollen diese Anwälte der ‚ewig gleichen Kirche‘ das Schwache oder das immer schwächer Werdende schützen und behaupten die Würde und die jahrtausendealte Kraft einer für sie zeitlosen Institution des lieben Gottes höchstselbst. Was dabei freilich übersehen oder überhört wird, ist die Tatsache, dass für eine beständig zunehmende Zahl von Menschen der Rost der Kirche nur ausweist, dass sie ihren einstigen Glanz verloren hat. Relevanz? Fehlanzeige.
Selbst wenn es immer noch eine große Zahl an Antiquitätenliebhaber*innen in der Gesellschaft gibt und selbst wenn viele von diesen Sammler*innen des Alten und Ehrwürdigen ihre Wohnung gern damit schmücken und dabei überhaupt nicht auf Praktikabilität achten, bezieht sich die Liebe zur Antiquität zwar auf Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstände, vielleicht auch noch auf Bücher, nicht aber auf die Kirche, die im Antiquitätenladen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts einen Raum einnimmt, den kaum noch Kunden betreten wollen.
Theodor S., *2002 – Zugbegleiter
„Meine Oma sagt mir, dass der Name Theodor so etwas heißt wie ‚Gottes Geschenk‘, und dann meint sie, dass sie mir davon erzählen muss, dass Gott der große Zampano in der Welt ist. Von mir aus soll der bloß in seiner Kirche bleiben. Ich brauche den nicht und diesen ganzen Kram mit Papst und verkleideten Männern und Kerzen und so auch nicht.
Klar, Theodor hat vom Namen her wohl was mit Gott zu tun, aber ich als Person nicht. Aus der Kirche bin ich ausgetreten, sobald ich mein erstes Geld verdient habe. Der Laden ist doch voll antiquiert!“
Dass dieser ‚Laden‘ von immer weniger Menschen betreten wird, kann auch daran liegen, dass das Türschild, auf dem eigentlich steht: „Du bist willkommen“, entweder so verblasst ist, dass es kaum noch zu lesen ist, oder dass es in einer Schrift geschrieben wurde, die wie die SütterlinSchrift der Großeltern von der nächsten und übernächsten Generation nicht mehr gelesen werden kann, oder dass es sogar in einer unverständlichen Sprache der Kirchengeschichte geschrieben wurde.
Die Kirche steht für viele Menschen – sei es als rostig gewordene Institution oder als zwar ehrwürdige, aber leider nicht mehr zeitgemäße Antiquität – in einem anderen Land als dem Land, in dem sie leben.
