Schenk, Cornelia: Keine Angst vor Krankheit

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Cornelia Schenk Keine Angst vor Krankheit



CORNELIA SCHENK

Keine Angst vor Krankheit Die Kunst, in schweren Zeiten ein gutes Leben zu fĂźhren


Über die Autorin Cornelia Schenk, Jahrgang 1955, berät als Fachfrau für Stress- und Krisenmanagement Unternehmen, Führungskräfte und Selbständige. Ihr Wissen zum Thema Resilienz – Leben und Arbeiten in Balance vermittelt sie in Coachings, Workshops und als Autorin zahlreicher Fachpublikationen. Sie hält auf Fachtagungen Vorträge mit dem Schwerpunkt Sinn- und Werteorientierung in Krisenzeiten.

Copyright © Claudius Verlag, München 2016 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Foto Umschlag: Frau: © Dubova/shutterstock, Wolken: © sutichak/Fotolia.com Umschlaggestaltung: VOGELSANGDESIGN, www.vogelsangdesign.de Layout: Mario Moths, Werl Gesetzt aus der Rotis Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62493-7


Inhalt Vorwort 7

I. Lebensbilder – Bewusstseinskompetenz stärken 1. Der Lastcharakter des Daseins

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2. Weltbild

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3. Menschenbild

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4. Selbstbild

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5. Krankheitsbild

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6. Psychosomatik

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7. Gesundheit erhalten

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8. Der Mensch auf der Suche nach Sinn

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II. Lebenskrise Krankheit – Krisenkompetenz stärken 1. Krise

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2. Krisengedanken

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3. Krisenhaltungen 4. Krisengefühle

80 101

III. Liebe zum Leben – Heilungskompetenz stärken 1. Die Kraft in mir

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2. Magie der Sprache

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3. Von der Seele schreiben

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4. Am Herdfeuer des Erzählens

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5. Hoffnung

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6. Humor

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7. Freude

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IV. Der Lebensweg des Menschen – Weisheitskompetenz erwerben

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1. Lebenswandel

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2. Die letzte Stunde

235

3. Ein Hauch von Ewigkeit

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4. Wege nach innen

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5. Nährende Krankheit

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Schlusswort

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Quellen

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Vorwort Es gibt nicht nur Tausende von Krankheiten, sondern auch Tausende von Gesundheiten. Carl Friedrich von Weizsäcker

In meiner Arbeit erlebe ich, wie zunehmender Stress Krankheiten verursacht und das Leben der Betroffenen auf den Kopf stellt. Zusätzlich erschweren viele Ängste einen gesunden Umgang mit der Krankheit. Sie flüstern uns ein, dass alles hoffnungslos sei, dass wir dem Geschehen hilflos ausgeliefert sind und jede Wahlmöglichkeit verloren haben. Sie lachen boshaft über unsere Frage, ob es auch mit Krebs oder Herzinfarkt gelingen kann, glücklich und erfolgreich zu sein. Hören Sie nicht hin. Das stimmt so nicht Als der Maler Henri Matisse schwer erkrankte, schenkte er weder den Schmerzen noch den anderen Unannehmlichkeiten seiner Krankheit viel Aufmerksamkeit. Für ihn war jeder weitere Tag geschenkte Lebenszeit, die er seiner Kunst widmen konnte. Gezeichnet von seiner Krankheit und bettlägerig, fand Matisse in seinem Inneren eine übersprudelnde Quelle von Lebensfreude, die ihn zum Malen mit der Schere inspirierte. So entstanden Hunderte von Scherenschnitten in Persisch Violett, in Japanisch Grün oder Cadmium Rot. Er pinnte sie an die Wände seines Schlafzimmers und beobachtete Tag für Tag ihre Ausstrahlung und ihr sanftes Erzittern, bei jedem Lufthauch, 7


der durch das Zimmer strich. Nahezu unfähig noch einen Pinsel zu halten, wurden ausgerechnet diese Scherenschnitte zur Krönung seiner Werke und ein Manifest wärmender Schönheit. Matisse macht Mut, weil er einen heilsamen Umgang mit seiner Krankheit pflegte. Was macht Ihnen Mut und was gibt Trost in Ihrer Situation? In jedem Menschen schlummert die Fähigkeit, seine eigene „Matisse-Methode“ zu (er-)finden, wenn er es will. Ich bin immer wieder nach Vorträgen, Seminaren und Gesprächen darauf angesprochen worden, dass es eine große Hilfe wäre, meinen Ausführungen zur Krankheitsbewältigung nachlesen zu können. Oder sie dann zur Hand zu haben, wenn Angst und Krankheit sich zu einer Krise hoch schaukeln. So entstand das vorliegende Buch, dessen Inhalte auf erprobtem Erfahrungswissen aus meiner Tätigkeit im Bereich Stress - und Krisenmanagement aufbauen. Drei Themenbereiche stelle ich Ihnen als Handlungsleitfaden zur Krankheitsbewältigung vor: 1. Ein weltoffener Sinnfinder werden: Wozu ist das alles gut? Welcher Sinn steckt in dieser Situation? 2. Ein furchtloser Nichtstuer werden: Wenn ich nichts ändern kann – loslassen, und sich dem Fluss des Lebens anvertrauen. 3. Ein neugieriger Entdecker werden: Die Geschenke des Lebens an mich und mein Staunen darüber hören niemals auf. Dabei spielt es keine Rolle, was Ihnen fehlt. Entscheidend sind keine medizinischen Diagnosen, sondern Ihre Einschätzung, was sich in Ihrem Leben krank anfühlt, was Sie krank macht und wie Sie das vielleicht ändern können. Und ich möchte dazu beitragen, dass Sie in einer auf Perfektion und Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft nicht im Regen stehen bleiben oder Ihr Leben ins Wasser fällt, sondern Sie 8


sich wie unter einem Regenschirm geschĂźtzt und behĂźtet fĂźhlen. Texte, die mir Einsichten geschenkt und weitergeholfen haben, sind in einem Literaturverzeichnis zusammengestellt worden. Cornelia Schenk Augsburg, im Mai 2016

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I.

Lebensbilder

Bewusstseinskompetenz stärken


1. Der Lastcharakter des Daseins Was fehlt? Krankheit ist ein vielschichtiges Phänomen. In erster Linie beschreiben wir damit körperliche und psychische Störungen, aber wir empfinden auch das Leiden an der Welt, die mitunter harten Bedingungen der menschlichen Existenz als Krankheit. Im umfassenden Sinn ist alles krank, was uns vom Gefühl der Harmonie mit Gott und der Welt trennt. Krank sind wir alle. Unser Kranksein entspricht dem widersprüchlichen, gespaltenen und begrenzten menschlichen Leben. Unser Kranksein drückt sich aus im Fehlenden. „Was fehlt Ihnen denn?“, fragt der Arzt. Uns fehlt das Gefühl der Verbundenheit, der Einheit mit dem, was uns im Leben begegnet. Wir sehnen uns nach dem Heiligen. Krankheit macht den Lastcharakter des Daseins besonders deutlich. Indem wir unser Leben auf Genuss und Wohlgefühl ausrichten, versuchen wir, ihn zu verdrängen. Auch wenn immer ein Stück weit die Angst mitschwingt, solange es noch geht. 
Die folgende Definition von Gesundheit macht ihren schwankenden Charakter deutlich: „Gesundheit ist der Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht des Freiseins von Krankheit und Gebrechen.“ Man kann Gesundheit auch als den störungsfreien Lebensfluss in allen Zellen und Organen, als ein Energiepotenzial psychophysischen Gleichgewichts begreifen. 12


Gesundheit ist ein wichtiger persönlicher und gesellschaftlicher Wert, dessen Bedeutung erst bei Krankheit oder mit zunehmendem Alter erkannt wird. Das heranrückende Lebensende, gesundheitliche Probleme im privaten wie erweiterten Umfeld und eigene Erkrankungen machen die Einschränkungen deutlich, die mit dem Verlust von Gesundheit verbunden sind.

Entlastende Krankheit Offensichtlich entkommen wir durch Gesundheit dem Lastcharakter des Daseins nicht vollständig, selbst wenn wir in ihr einen Indikator für den Grad unserer Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sehen. Gerade dieses Streben nach freier Selbstverwirklichung wird oft zur Anstrengung, weil wir uns ihrer Kehrseite nicht gewachsen fühlen, nämlich unser Tun und unsere Entscheidungen auch zu verantworten. Krankheiten bekommen in diesem Zusammenhang eine nützliche Funktion, die von den Ärzten als „sekundärer Krankheitsgewinn“ bezeichnet wird. Das bedeutet, eine Krankheit zu haben kann auch entlastend sein. Wenn man krank ist, dann müssen die anderen nett zu einem sein, einem Zuwendung und Aufmerksamkeit schenken. Wenn man krank ist, muss man sich nicht mehr mit dem cholerischen Chef und den mobbenden Kollegen herumärgern oder an den ungeliebten Arbeitsplatz zurückkehren. Wenn man krank ist, kann man finanzielle Versorgungsansprüche geltend machen. Wenn man krank ist, darf man sich gehen lassen und muss sich nicht zusammenreißen. Man verlässt die anstrengende Welt des Lebenskampfes und zieht sich zurück in eine gedämpfte Atmosphäre der Rücksichtnahme und Zuwendung. Krankheit schenkt einem das, was man bisher 13


vermisst hat. Mithilfe der Krankheit gelingt es einem, aus dem Schatten der Geringschätzung herauszutreten und zum sonnigen Mittelpunkt zu werden. Erst jetzt, in der Krankheit, sind die anderen aufmerksam, besorgt und einem zugewandt. Das alles sind starke, wenn auch oft nicht gern eingestandene Motive, das Leid einer Krankheit zu ertragen. Dahinter steckt oft eine Lebensangst, die Krankheit als das kleinere Übel erscheinen lässt. Man flüchtet in eine Krankheit. Ein besseres Alibi, um eine tiefe Lebensunsicherheit zu verbergen, scheint es nicht zu geben. Man kann aufatmen, weil man jetzt der Verantwortung, der man sich im gesunden Leben nicht gewachsen fühlt, enthoben ist. Wer krank ist, kann nicht …, das leuchtet jedem ein. Wer krank ist, würde ja …, möchte schon …, aber er kann es leider nicht. Wenn er gesund wäre, ja dann … Der Blick des Kranken verliert die Schärfe, um Freiheitsräume in der Krankheit zu entdecken und Verantwortung für den Krankheitsverlauf zu übernehmen. Eine Umgebung, welche die negativen Haltungen des Patienten spiegelt, verstärkt oder teilt, ist willkommen. Negative Überzeugungen zum Thema Krankheit werden verantwortungslos übernommen und gepflegt. Sie dienen dazu, den gefürchteten Zustand, wieder gesund zu werden, erst gar nicht ins Auge zu fassen, und sie geben dem Kranken recht in der misslichen Einschätzung seiner Lage. Doch recht zu bekommen heißt nicht, recht zu haben, noch weniger, sich gut zu fühlen. Um den Anforderungen und den Aufgaben zu entgehen, die das Leben dem Einzelnen stellt, zahlen solche Kranken lieber den hohen Preis der Selbsterniedrigung. Mit den folgenden Fragen verbinden sich Krankheitseinsichten:

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• Was wäre anders in meinem Leben, wäre ich noch oder wieder gesund? • Will ich unbedingt gesund sein? • Was wird sich dann in meinem Leben ändern? • Was fehlt mir als gesundem Mensch im Leben? • Welche Vorteile könnte mir meine Krankheit bringen? • Wie erleichtert mir meine Krankheit das Leben?

Mit Leib und Leben Je mehr wir daran gewöhnt sind, dass unser Körper gecheckt und gewartet wird, ähnlich wie ein Auto beim TÜV, und je mehr wir diesen Ergebnissen blind vertrauen, umso mehr verlieren wir den Zugang zu dem, was wir fühlen und empfinden. Es entsteht die groteske Situation, dass ein Blutdruckgerät oder ein Computerbild als objektive Faktoren mehr über den Gesundheitswert aussagen als unser subjektives Wohlempfinden. Unser Rationalismus, unsere Hinwendung zu naturwissenschaftlich überprüfbaren Tatsachen machen es uns schwer, einen Zugang zu unserem Inneren zu finden. Nie spürt man deutlicher als in der Krankheit, dass es um einen selbst geht. Es sind die eigenen Schmerzen, eigenen Entscheidungen, eigenen Behandlungen und nicht zuletzt das eigene Sterben. In der Krankheit lernt der Mensch seinen Körper als Leib kennen. Wir halten uns für gesund, wenn wir nichts fühlen und nichts spüren. Wir nehmen dann auch keine Rücksicht auf diesen Körper und halten sein Funktionieren für selbstverständlich. Im Grunde haben wir unseren Körper den Naturwissenschaften überlassen. Die haben ihn erforscht, ver15


messen und kategorisiert. Im Biologieunterricht haben wir alles über den Körper gelernt, über seine physiologischen Vorgänge und biochemischen Reaktionsweisen. Es ist als objektives Wissen gespeichert und hat wenig mit uns zu tun – so lange, bis wir uns krank fühlen und zum Arzt gehen. Die Diagnose lautet dann vielleicht, dass die Prostata, die Schilddrüse, die Niere nicht mehr funktioniert. Und nun wird aus der naturwissenschaftlichen Abstraktion die eigene Drüse. Jetzt erfahren wir am eigenen Leib, was es heißt, wenn die Drüse nicht funktioniert, und erst jetzt bemerken wir in einer Mischung aus Staunen und Erschrecken, welches Wunderwerk unser Körper ist. Bisher sorgten unsere Organe in ihrer vielfältigen Vernetzung für einen reibungslosen Lebensablauf. Keinen Beitrag, keine Anstrengung mussten wir dazu leisten. Wir haben es unserem vegetativen Nervensystem, unserem Herz-Kreislauf-System, unseren Muskeln, Hormonen und Drüsen überlassen. Jetzt erfahren wir den Unterschied zwischen einem Körper, dessen naturwissenschaftlich erforschte Gesetzmäßigkeiten der Medizin und der Statistik gehören, die daraus therapeutische und pharmazeutische Maßnahmen ableiten, und dem persönlichen Krankheitsgeschehen, das damit zu tun hat, dass man leibt und lebt. Das altmodische Wort Leib drückt das subjektive Krankheitsempfinden aus. Der Leib, das ist man selbst. Auf vielfache Weise muss man erfahren, wie sich einem der Leib in der Krankheit, im Schmerz aufdrängt. Gerade die Krankheit mutet uns leibliche Erfahrungen zu, die wenig mit der sterilen klinischen Diktion zu tun haben. Sie rückt uns mit bestürzender Hässlichkeit auf den Leib. Das ist eine subjektive Leiderfahrung, welche die objektive Erkenntnis des kranken Körpers weit übersteigt. Der Ekel davor, was der kranke Körper abstößt und abgibt – Blut, Schleim, Eiter, Exkremente, Hautschuppen –, liegt wohl in der erschüt16


ternden Erkenntnis begründet, dass es uns fremd ist und doch aus uns kommt. Krankheit belehrt uns radikal über unsere Schwäche und Hinfälligkeit. Hier sind wir wieder beim Lastcharakter der Krankheit, der uns zwingt, ihn zu ertragen, und zwar nicht nur uns, sondern auch diejenigen, auf deren Hilfe wir angewiesen sind. Menschen weinen, weil sie über ihr durch Krankheit und Behandlung verändertes Aussehen erschrecken, empfinden Hässlichkeit, sind entsetzt über ihre ungelenk und grotesk gewordenen Bewegungen. Umso bewundernswerter, wie viele nicht mit Selbstverachtung, sondern mit Verständnis auf diese schockierende Kreatürlichkeit des Menschen reagieren. Es ist bewundernswert, dass sie das schaffen in einer Zeit, in der Körper makellos geschnitten und gespritzt werden. Es gelingt ihnen, weil sie Selbstbewusstsein aus ihrer leiblichen Selbsterkenntnis schöpfen. Die Erfahrung der Begrenztheit des biologischen Körpers verhilft zu einem leiblichen Erleben. Der Nationalökonom Friedrich Weinreb weist uns darauf hin: Wir fallen zwar, aber wir stehen auch wieder auf. Wir gehen einen Weg der Krankheit, aber wir vergehen nicht. Im Körper erfahren wir das Zeitliche und Vergängliche, im Leib unser unvergängliches Selbst. Warum sind Sie gut gestimmt oder auch verstimmt, ohne dass man Ihre Stimme vernimmt? Warum sind Sie hartnäckig oder auch hartherzig? Warum müssen Sie Nachrichten verdauen, ohne sie zu essen? Warum ergreifen Sie eine Gelegenheit, während Ihre Hände still in Ihrem Schoß liegen? Warum können Sie jemanden nicht riechen, obwohl er Ihren Lieblingsduft verwendet? Es klingt in jener alten Formel an: wie man leibt und lebt.

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Schmerz Der Lastcharakter einer Krankheit und das leibliche Erleben werden am augenfälligsten, wenn es um Schmerzen geht. Schmerzen sind die schlimmste Begleiterscheinung einer Krankheit. Sie setzen unseren guten Willen, die Krankheit zu bewältigen, außer Gefecht, ja, sie können sogar zu einem eigenständigen Krankheitsbild werden. Schmerz ist aufdringlich. Man möchte ihn los sein, doch er ist nicht abstellbar, sondern muss ausgehalten und erlitten werden. Jeder hat schon erfahren, wie Schmerzen alle Lebensvollzüge außer Kraft setzen können. Zahnschmerz, Kopfschmerz, Bauchschmerz – sie füllen uns vollkommen aus, und wir wünschen nur noch, dass sie wieder aufhören. Chronische Schmerzen machen alle Bemühungen, sich von der Krankheit zu distanzieren und sie zu bewältigen, zur Schwerstarbeit. Der Kopf ist nicht mehr frei, um sich auf Ablenkungen zu konzentrieren. Es ist keine Tugend, den Schmerz tapfer auszuhalten. Zehrender Schmerz muss gelindert werden. Das Leben mit Dauerschmerzen schwächt den Lebenswillen, nimmt die Lebens­freude und führt zu Lebensüberdruss. Es ist ein seltsamer Umstand, dass wir erst durch den Schmerz Körpergefühle entwickeln und uns spüren, wenn auch auf unangenehme Weise. Eine Patientin schilderte ihren Tagesablauf mit chronischen Schmerzen so: „Vormittags kann ich gerade noch das Nötigste machen, ab Nachmittag sitze ich nur noch vor dem Fernseher, um mich zu betäuben. Das ist kein Leben mehr, nur noch vegetieren …“ Diese Patientin hat dadurch große Schwierigkeiten mit ihrer Familie, da die Angehörigen ihr Antriebslosigkeit, ein mürrisches und aggressives Wesen, unsoziales Verhalten, Misstrauen und Rückzugstendenzen vorwerfen. Der Schmerz übernimmt das Kommando über das gesamte Bewusstsein. Wer 18


von Schmerzen geplagt ist, ist einfach nicht mehr ansprechbar. Er ist für die anderen verloren, und auch der Schmerzpatient fühlt schmerzlich Einsamkeit und Isolation. Es ist sein Leid, das keiner von außen nachfühlen kann; und es kann ihm auch keiner abnehmen. Schmerz ist nicht erkennbar wie ein verbundener Arm, aber man sieht die verdrießliche Miene und die hängenden Mundwinkel, fühlt die gedrückte Stimmung, hört die scharfe zynische Stimme und wendet sich ab von einem unsympathischen Zeitgenossen, ohne zu ahnen, dass sich in ihm der Schmerz austobt. Dennoch gilt auch für den Schmerzpatienten, Verantwortung zu übernehmen im Rahmen seiner Möglichkeiten. Man hat herausgefunden, dass aktive Strategien wie zum Beispiel Bewegung, Sport oder körperliche Arbeit den Schmerz erleichtern. Schwerer ist es, durch geistige Betätigung den Schmerz zu verdrängen. Viele bestätigen, nicht lesen, fernsehen oder schreiben zu können, weil ihnen durch den allgegenwärtigen Schmerz Konzentration, Interesse oder Antrieb fehlt. Andere Menschen bleiben passiv und versuchen, den Schmerz anzunehmen und ihn über sich ergehen zu lassen. Sie hoffen, dass der Schmerz, wenn sie nichts mehr wollen, über sie hinwegzieht. Mit diesem Rückzug erleben sie zwar eine Erleichterung ihrer Situation, aber es ist ihnen auch durchaus bewusst, dass damit alle Aktivitäten und Kontakte verhindert werden, die Lebensqualität ausmachen. Menschen, die mit viel Willenskraft gegen Schmerzen kämpfen, verspannen sich oft so sehr, dass der Schmerz noch heftiger aufflammt. Trotz aller Vorbehalte gegen die Nebenwirkungen starker Schmerzmittel sollte man in Verbindung mit einem guten Schmerztherapeuten abwägen, wann eine medikamentöse Entlastung sinnvoll sein kann. Zudem hat eine Reihe von Ärzten, Physiotherapeuten und Psychologen wirksame Entspannungsverfahren ent19



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