Ebert, Andreas (Hg.): Hesychia II

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Inhalt

Einleitung 9 Erleuchtete Augen, erleuchtetes Herz Andreas Ebert

Orthodoxe Stimmen 17 Das Jesusgebet 18 Metropolit Kallistos (Ware) Das Herzensgebet und die Heilung des Menschen 55 Daniel Munteanu Geist und Spiritualität der Orthodoxie 75 Metropolit Serafim (Joanta)

Seelsorgerlich-therapeutische Erfahrungen 93 Dynamik und Synergie von Biografiearbeit und Herzensgebet 94 Cornelius Metzner Die Rolle des immerwährenden Jesusgebets im Konzept des „MTP – Mental Turning Point®“ für mystische Erfahrungen heute 108 Sabine Bobert


Verzeihen und um Verzeihung bitten 121 Eine Kunst, die wir ein Leben lang üben Peter Musto Spiritus contra Spiritum 142 Herzensgebet und Abhängigkeitserfahrungen Stephan Hachtmann

Praxis in Kirchen und Gemeinden 171 Kontemplative Alltagsexerzitien 172 Einübung ins Herzensgebet Andreas Ebert Herzensgebet und Meditationsarbeit als eine Säule für den Gemeindeaufbau 183 Erfahrungen in der evangelisch-lutherischen St. Johannes­ gemeinde in München Sandra Bach Ja, wenn das Kirche ist 189 Projekt Spiritualität im Kirchenkreis Hamburg-Ost Annekatrin Hennenhofer Herzensgebet und Gemeindeentwicklung 196 Erfahrungsberichte Forum Spiritualität in Erlangen Anne Mayer-Thormählen, Ralph Thormählen, Christian Sudermann Mit Menschen unterwegs: Schweigen, Denken, Reifen und Dienen 202 Die Luthergemeinde in Riga Linards Rozentals


Das Herzensgebet mit Kindern (er-)leben 212 Rüdiger Maschwitz

Vernetzung und Weiterführung 225 „Kontemplation in Aktion“ 226 Eine Initiative in Verbindung mit dem Exerzitienhaus Gries Johanna Schulenburg/Joachim Hartmann Herzensgebet und Geistliche Begleitung 235 Peter Musto Vom Wesen des inneren Wortes 247 Äbtissin Gabriele-Verena Siemers Maria und Martha: Maranatha 263 Kontemplation und Aktion im christlichen Gebet Stefan Reynolds Die Zukunft der Spiritualität 281 Katharina Ceming

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren 301 Veröffentlichungen der Autorinnen und Autoren (in Auswahl) 307



Einleitung Erleuchtete Augen, erleuchtetes Herz Andreas Ebert

Anfang Januar 2014 fand in München das zweite europäische Symposium zum Herzensgebet („Hesychia II“) statt. Das Spirituelle Zentrum St. Martin – eine Einrichtung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern – war der Hauptveranstalter. Die Tagung war die Fortsetzung des ersten europäischen Symposiums zum Thema, das im Sommer 2011 im Haus Dorothea in Flüeli-Ranft (Schweiz), durchgeführt worden war. Das Haus Dorothea ist Heimat der Via Cordis (Weg des Herzens), einer von mehreren ökumenischen westeuropäischen Schulen, in denen das Herzensgebet gelehrt, weiterentwickelt und geübt wird. Frucht der ersten Tagung war der Sammelband „Hesychia – das Geheimnis des Herzensgebets“, den ich gemeinsam mit Carol Lupu herausgegeben habe. Schwerpunkt der ersten Tagung war die Begegnung und Vernetzung westlicher Adaptionen des Herzensgebets. Hauptreferenten waren die Gründer bzw. Leiter von drei „Schulen“. Franz Jalics, ungarischer Jesuit, dessen systematischer und methodischer Schulungsweg vom oberfränkischen Haus Gries bei Kronach aus tausende Ordensleute und „Laien“, katholische wie evangelische, geprägt hat, berichtete über seinen Lebensweg und die Bedeutung des kontemplativen Betens mit dem Jesusnamen. Franz-Xaver Jans-Scheidegger, Psychotherapeut und Vater der Via-Cordis-Schule in Flüeli und im deutschen evangelischen Kloster Wennigsen, schilderte ebenfalls, wie er persönlich auf den kontemplativen Weg geführt wurde und wie er das Herzensgebet im Rahmen der von ihm entwickelten Via-

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Cordis-Schulung (eine zehnjährige KontemplationsleiterAusbildung) mit tiefenpsychologischen und anderen therapeutischen und spirituellen Erfahrungen und Einsichten verbunden hat. Der Benediktiner Laurence Freeman aus London schließlich, Leiter der World Community of Christian Meditation (WCCM), zu der weltweit mehrere tausend Meditationsgruppen gehören, setzt das Werk seines früh verstorbenen Mentors John Main fort. Der hatte als junger Mann im Fernen Osten die mantrische Meditation kennengelernt und erst später, als er Mönch geworden war, bei den Wüstenvätern und insbesondere bei Johannes Cassian entdeckt, dass es die Tradition des inneren „mantrischen“ Betens seit frühesten Zeiten auch im Christentum gibt. Altabt Emmanuel Jungclaussen aus dem Benediktinerkloster Niederaltaich, der das Jesusgebet schon seit den 50er Jahren westlichen Menschen nahegebracht hat, konnte aus Gesundheitsgründen nicht an der Tagung teilnehmen. Er beteiligte sich aber mit einem Interview an der Veröffentlichung. Die Lehrer und Schülerinnen und Schüler dieser vier „Schulen“ hatten zuvor kaum Notiz voneinander genommen. Ein Anliegen des Symposiums war, Verbindungen herzustellen und miteinander und voneinander zu lernen. Allerdings fehlten beim ersten Symposium die Orthodoxen. Ihnen ist die Weitergabe und Pflege des Herzensgebets durch die Jahrhunderte zu verdanken. Im Westen war diese Tradition nie sehr stark gewesen und schließlich war sie fast völlig in Vergessenheit geraten. In orthodoxen Klöstern hingegen, insbesondere auf dem Athos, aber auch in Russland, hat es durch alle Zeiten hindurch eine – mal stärkere, mal schwächere – Praxis des inneren Gebets gegeben, die auch literarischen Niederschlag gefunden hat, insbesondere in der mehrbändigen „Philokalia“ (einer Sammlung von Texten zum Jesusgebet aus vielen Jahrhunderten), die lange Zeit im Westen nur in Auszügen zugänglich war.


Als wir beschlossen, ein weiteres Symposium zu organisieren, war erste Priorität, diesmal orthodoxe Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Besonders erfreulich ist, dass es uns gelang, zwei Metropoliten als Referenten zu gewinnen, die ausgewiesene Kenner der Theologie und der Praxis des Jesusgebets sind. Der rumänisch-orthodoxe Metropolit Serafim (Joanta) aus Nürnberg sprach über Geist und Spiritualität der Orthodoxie; der griechisch-orthodoxe Metropolit Kallistos (Ware) aus Oxford gab eine umfassende fundierte Einführung in Theologie und Praxis des Jesusgebets. Den zweiten Schwerpunkt bildeten bei dem Münchner Symposium Beiträge zur Alltagspraxis (Exerzitienarbeit; persönliche Übungswege für Menschen, die nicht im Kloster leben; Meditation im Kontext von Kirche und Gemeindeaufbau; therapeutische Aspekte, Meditation mit Kindern, Vernetzung). Diese bunte Palette spiegelt sich auch in der vorliegenden Veröffentlichung.

Das Herz als Mitte des Menschen Das Symposium widmete sich dem „Herzensgebet“. Die häufigste und verbreiteste Form des Herzensgebets ist das „Jesusgebet“, die rhythmische Wiederholung des Namens Jesu oder einer Anrufung Jesu (meist: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner/unser!“). So wird das Herzensgebet vor allem in der Orthodoxie praktiziert. Ursprünglich, zur Zeit der Wüstenväter, enthielt es aber keine spezifische Anrufung Jesu, sondern bestand aus der Repetition eines kurzen Gebets, zum Beispiel aus den Psalmen. Cassian empfiehlt: „Herr, eile mir zu Hilfe.“ Die späteren Lehrer des Gebets haben dann die Verbindung des Jesusnamens mit dem Atem empfohlen – und auch, die Gedanken vom Kopf ins Herz sinken zu lassen. Daraus leitet sich der

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Name „Herzensgebet“ ab. Verblüffend ähnliche Formen des Gebets und der Meditation finden sich übrigens auch im Buddhismus und in Indien (die „Japas“, Gebetswiederholungen im Atemrhythmus zur Öffnung des „Herzchakras“). Nach biblischer Auffassung ist das Herz das Organ, von dessen Schlag das Leben abhängt, darüber hinaus aber auch die Mitte der Person, Sitz nicht nur der Emotionen – heller wie dunkler –, sondern auch der Gedanken, der Pläne, des Willens und der Weisheit. Die Bitte um ein reines und festes Herz findet sich bereits in den Psalmen, und Jesus preist diejenigen selig, die ein „reines Herz“ haben. Das physische Herz scheint biologisch auf besondere Weise mit dem Hirn verbunden und an wesentlichen Denkund Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein. Patienten, die eine Herztransplantation hinter sich haben, berichten immer wieder davon, wie sich ihre Träume, Ängste und Vorlieben geändert haben, wobei sich mehrfach gezeigt hat, dass sie die Gefühle, Haltungen und Gewohnheiten der Spender „in sich tragen“. Die Synthese der Erkenntnisse aus Hirn- und Herzforschung steckt noch in den Kinderschuhen, aber sie scheint die biblische Einsicht zu bestätigen, dass das Herz weit mehr ist als eine Pumpe und dass es an mentalen und emotionalen Prozessen unmittelbar und maßgeblich beteiligt ist. Ich selbst erlitt kurz nach dem Symposium, das ich geleitet hatte, einen Herzinfarkt. Nach der langjährigen spirituellen Auseinandersetzung mit dem Herzensgebet war ich gezwungen, meinem physischen Herzen Aufmerksamkeit zu schenken. Während der Rehabilitation hat mich besonders der Vortrag einer Psychotherapeutin berührt, die uns am Ende bat, die Augen zu schließen, die Hand aufs Herz zu legen und den Herzschlag zu spüren. Sie sagte: „Schon als wir ein Embryo waren, hat das Herz für uns geschlagen – und dann all die Lebensjahre, in denen es Tag und Nacht


unsere Wege, Umwege und Irrwege mitgegangen ist und für uns gesorgt hat.“ Sie schlug vor, unserem Herzen einmal „Danke“ zu sagen! Das hatte ich zuvor nie getan – und es war eine sehr berührende Erfahrung. Das „reine“ Herz im biblischen Sinne ist das geeinte, das „feste“ und „weise“ und „hörende“ Herz (1. Könige 3,9). Das Herzensgebet ist die spirituelle Übung schlechthin, um das Herz zu reinigen, zu einen und zu stärken und um das „Hören des Herzens“ einzuüben. „Herzohren“ gibt es übrigens auch in der Anatomie: Die auriculae atrii sind Ausstülpungen an den Vorhöfen des Herzens. Ihre Verstopfung kann zu Vorhofflimmern, Schlaganfällen oder Herzinfarkt führen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich das Jesusgebet als das christliche Herzensgebet par excellence durchgesetzt hat. Der Name Jesus bedeutet „Gott rettet“ und ist nach Paulus der „Name über allen Namen“ (Philipper 2). Paulus sagt: „Wer bekennt, dass Jesus der Herr der Welt ist und wer in seinem Herzen glaubt, dass ihn Gott von den Toten erweckt hat, der ist erlöst“ (Römer 10,9). In Epheser 1,18 ist von den „erleuchteten Augen des Herzens“ die Rede. Das spirituelle Herz ist also sowohl ein Hör- als auch ein Sehorgan. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – dieser viel zitierte Satz aus Antoine Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ könnte wohl auch in der Bibel stehen.

Fazit des Symposiums Aufmerksamen Lesern und Leserinnen wird nicht entgehen, dass auch am Ende des zweiten Symposiums viele Fragen offenbleiben: – Die orthodoxe Tradition hat stark asketische Züge, die für den modernen westlichen Menschen nur schwer

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nachvollziehbar sind und gesetzlich und einengend wirken können. Gibt es asketische oder moralische Voraussetzungen, wenn man sich auf den Weg des Herzensgebets begibt? Oder ist dieses Gebet voraussetzungslos? Ist es weniger ein forderndes als ein begnadigendes Geschehen, das im Laufe der Zeit ohne menschliches Zutun seine heilende und transformierende Wirkung entfaltet? Die uralte Frage der „Synergie“ von göttlicher Gnade und menschlicher Beteiligung bedarf weiterer Diskussion. – Was erfahren wir im Raum des kontemplativen Gebets? Unser wahres Selbst, Christus in uns? Ist da ein verschütteter göttlicher Kern, zu dem wir durch das innere Gebet einen neuen Zugang gewinnen können? Dient das Gebet der „Theosis“, der Vergöttlichung oder Gottwerdung des Menschen, wie es die Orthodoxie lehrt? – Was bedeutet „Erleuchtung“ im christlichen Kontext? – Welche Bedeutung hat der Inhalt des Gebets, das ja in allen Traditionen des Herzensgebets als „gegenstandslos“ angesehen wird, als „pures“ Beten ohne Ge­ danken und religiöse Emotionen? Ist es gleichgültig, ob man „Jesus Christus“, „Maranatha“, „Maria“, „Du“, „Licht“ oder „Om“ meditiert? Was bewirken diese unterschiedlichen „Mantren“ in den Betenden? – Wie verhalten sich kontemplative Erfahrungen im christlichen Kontext zu verblüffend ähnlichen Praktiken und Erfahrungen in anderen, insbesondere östlichen, spirituellen Kontexten? Manche dieser Fragen sind nicht rational zu beantworten. Vielleicht müssen sie sogar offenbleiben. Im Untertitel dieses Buches sprechen wir bewusst von Wegen des Herzensgebets im Plural. Es gibt viele Weisen, den Weg des Herzens zu suchen und zu gehen. Keine Lehrautorität kann


die ultimative Methodik des Herzensgebets festschreiben. Dennoch geht es auf all diesen Wegen um das Eine: das „hörende Herz“, das reine und das geeinte Herz als das Organ, das nach Antworten tastet, die der Verstand allein nicht zu geben vermag. Es geht um Umkehr, Transformation und die Heimkehr zu Gott. Vielleicht werden weitere Symposien folgen, die weitere interreligiöse Stimmen zu Wort kommen lassen. Ohne Frieden der Religionen ist Weltfrieden nicht möglich (Hans Küng). Dieser Friede lässt sich aber nicht allein im Diskurs finden – wenn überhaupt. Er erwächst aus dem gemeinsamen Hören auf die Stille und aus dem Nachspüren in jene letzte Wirklichkeit hinein, die höher und tiefer ist als alle Vernunft. Ich hoffe, dass die Beiträge dieses Buches dazu einladen, motivieren und inspirieren. Mein besonderer Dank gilt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, insbesondere den sechs Regionalbischöfen und -bischöfinnen, die die Durchführung des Symposiums ebenso großzügig unterstützt haben wie die evangelische Prodekanatssynode München-Mitte, der Claudius Verlag und der Verein zur Förderung der Meditation in der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Ferner danke ich Ilse Wagenknecht, die das Manuskript aufmerksam durchgesehen hat.

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Orthodoxe Stimmen


Das Jesusgebet Was ist das Jesusgebet? Metropolit Kallistos (Ware) Übersetzung Andreas Ebert

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„Herr, lehre uns beten!“ (Lukas 11,1), baten die Apostel Jesus. Das ist unser aller Bitte an Gott. Wie können wir zum Geheimnis des lebendigen Betens vordringen? Wie können wir vom Gebet, das unsere Lippen wiederholen, und vom Gebet als einer äußeren Handlung zu einem Gebet fortschreiten, das Teil unseres inneren Wesens ist und eine wahre Vereinigung des Geistes und des Herzens mit der Heiligen Trinität? Wie können wir das Gebet so gestalten, dass wir es nicht nur machen, sondern dass wir es sind? Denn das ist es, was die Welt braucht: Menschen, die nicht von Zeit zu Zeit Gebete sprechen, sondern die ständig Gebet sind. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, hörte ich in einer Predigt eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Ich glaube, die Geschichte geht auf den Pfarrer von Ars zurück, aber der Prediger erwähnte seinen Namen nicht: Ein alter Mann verbrachte jeden Tag mehrere Stunden in der Kirche. „Was machst du da?“, fragten ihn seine Freunde. „Ich bete“, erwiderte er. „Beten!“, riefen sie. „Es muss ja ungeheuer viele Sachen geben, die du von Gott erbitten willst!“ Etwas ungehalten antwortete der alte Mann: „Ich bitte Gott um gar nichts.“ „Was machst du denn dann?“, wollten sie wissen. „Ich sitze einfach da und schaue Gott an – und Gott sitzt da und schaut mich an.“ Als Zwölfjähriger dachte ich, das sei eine bemerkenswerte Beschreibung des Gebets, und das denke ich heute auch noch. Aber wie erreichen wir ein Beten in diesem tiefen Sinn, ein Beten des schlichten Schauens, ein Beten, bei dem


sich eine persönliche Begegnung zwischen mir und Gott ereignet? Wo sollen wir anfangen? Als Antwort auf die Bitte der Jünger „Lehre uns beten!“ gab ihnen Jesus das Vaterunser. Das Vaterunser ist tatsächlich das Modell für all unser Beten. Doch neben dem „Gebet des Herrn“, das von Christen überall praktiziert wird, gibt es eine weitere Gebetsweise, die insbesondere in der orthodoxen Kirche gepflegt wird, und zwar das Jesusgebet. Es handelt sich um eine kurze Anrufung, die beständig wiederholt wird, am häufigsten in der Form „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich!“. „Die Brüder in Ägypten“, sagte der Heilige Augustinus im Blick auf die frühen Mönche, „wiederholen immer wieder sehr kurze Stoßgebete, die sie pfeilschnell abfeuern.“ Das Jesusgebet ist genau so ein „Pfeilgebet“. Ein anderes „Pfeilgebet“, das zum Beispiel in der Bewegung praktiziert wird, die John Main (1926–1982) ins Leben gerufen hat – die Weltgemeinschaft für christliche Meditation (WCCM) –, ist die Formel Maranatha, „Unser Herr, komm!“ (1. Korinther 16,22). Das Jesusgebet unterscheidet sich davon, indem es dezidiert auf den heiligen Namen „Jesus“ ausgerichtet ist. Das macht seine unverwechselbare Eigenart aus. Wenn es als regulärer Teil unseres Lebens in Christus treu praktiziert wird, dann kann uns das Jesusgebet tatsächlich zu jenem Gespür für die göttliche Gegenwart führen, von der der alte Mann gesprochen hat: „Ich sitze einfach da und schaue Gott an ...“

Die vier „Stränge“ „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich!“ Das Jesusgebet ist kurz und prägnant – zehn Worte auf Englisch, neun auf Deutsch, nur sieben auf Griechisch

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oder Russisch –, aber zugleich ist es erstaunlich vollständig. In diesem einen kurzen Satz können wir vier kombinierte „Stränge“ oder konstitutive Elemente finden: 1. den Ruf nach Erbarmen; 2. die disziplinierte Wiederholung; 3. die Suche nach hesychia (das griechische Wort für Ruhe oder Stille. Davon leitet sich das Wort „Hesychast“ ab, das jemanden meint, der durch das Jesusgebet oder auf andere Weise innere Ruhe sucht. „Hesychasmus“ bezeichnet die Tradition des kontemplativen Gebets, die vom 4. Jahrhundert an im christlichen Osten entwickelt wurde.); 4. die Verehrung des Heiligen Namens. Wo liegt der Ursprung dieser vier Elemente und wie haben sie sich zusammengefügt, sodass das Jesusgebet entsteht? 1. Der Ruf nach Erbarmen: „Herr, erbarme dich!“, Kyrie eleison, findet sich im liturgischen Gottesdienst spätestens seit dem 6. Jahrhundert; die Verwendung dieser Formel im christlichen Gebetsleben ist womöglich noch älter. Es ist wichtig, das Wort eleos, Erbarmen, in diesem Zusammenhang nicht falsch zu interpretieren. Man darf es nicht als etwas Düsteres oder ausschließlich als Ausdruck von Zerknirschung verstehen, wenn wir um Gottes Erbarmen bitten. Der Ruf nach Erbarmen enthält zwar ein Element der Reue über unsere Sünde; er beinhaltet aber zugleich das Vertrauen zur göttlichen Vergebung. Er bekräftigt, dass Gottes liebevolle Zuwendung und sein Mitgefühl größer sind als meine Zerrissenheit und Sünde. Manchmal bringen die griechischen Väter das Wort eleos, „Erbarmen“, mit elaion in Zusammenhang, was „Olivenöl“ bedeutet. Das ist vermutlich schlechte Etymologie, aber gute Theologie: Das Wort „Erbarmen“ bezeichnet präzise die Liebe Gottes, die ausgegossen ist, um uns zu heilen und zurechtzubringen.


Das Jesusgebet mit seiner Bitte um Erbarmen darf man also nicht als etwas Unheimliches und Finsteres missverstehen. Es ist im Gegenteil ein Gebet voller Licht und Hoffnung. Der Heilige Hesychius der Sinaiter (8. Jahrhundert?) hat den wahren Geist dieses Gebets in den Worten zusammengefasst: „Wenn wir unaufhörlich Jesus anrufen mit brennender Sehnsucht und voller Zärtlichkeit und Freude, dann ist die Atmosphäre unseres Herzens erfüllt von Jubel und Frieden.“ 2. Die disziplinierte Wiederholung: Sie findet sich erstmals explizit bei den ägyptischen Wüstenvätern im 4. Jahrhundert. Ihre tägliche Arbeit war sehr einfach: das Flechten von Körben oder die Anfertigung von Matten. Wie soll ein Mensch seinen Geist beschäftigen, während er solch eintönige und monotone Aufgaben erledigt? Wie konnte der Mönch die Forderung des Apostels Paulus erfüllen: „Betet ohne Unterlass!“ (1. Thessalonicher 5,17)? Die Lösung, die sich bei den Wüstenvätern etablierte, bestand darin, monologia, das „monologische Gebet“, zu üben, das heißt, die Wiederholung eines einzelnen Wortes oder einer gleichbleibenden Formel. Sie erlebten, dass disziplinierte Wiederholung hilft, den Geist zu beruhigen und von der Zerstreuung zur Einfalt zu bringen. Die Formeln, die die Asketen Ägyptens wiederholten, waren oft einzelne Verse der Heiligen Schrift, insbesondere aus den Psalmen, wie zum Beispiel Psalm 51,3 „Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit“ oder Psalm 70,2 „Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen!“. Auch nicht-biblische Formulierungen konnten verwendet werden. Abba Apollo beispielsweise versuchte, eine schwere Jugendsünde zu sühnen, indem er immer wieder sprach: „Als Mensch habe ich gesündigt; als Gott vergibst du!“ Die Geistlichen Homilien, die dem Heiligen

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