city - das magazin für urbane gestaltung 2/2011

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talk

„der westbahnhof hat eine fassung bekommen“

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Neumann + Steiner

WESTBAHNHOF 2.0. Architekt Eric Steiner, gemeinsam mit Heinz Neumann Planer der BahnhofCity Wien West, macht sich im im Interview mit barbara jahn Gedanken über die Wandlung des klassischen Bahnhofs und die neue Rolle der alten Westbahnhofshalle.

Wie es scheint, gibt es den klassischen Bahnhof nicht mehr. Woher kommt diese starke Veränderung? Steiner: Das Reisen hat sich in der Nachkriegszeit ungeheuer verändert. Zur Zeit der großen, räumlich wirklich beeindruckenden Bahnhofshallen des 19. Jahrhunderts war das Reisen mit der Bahn noch von großer Bedeutung, auch mit sehr umfangreichen Vorbereitungen verbunden. Zudem war es ziemlich kostspielig und im Wesentlichen der gesellschaftlichen Elite vorbehalten. Das Ankommen und Abfahren wurde architektonisch inszeniert. Heute bucht man ganz improvisiert, schnell entschlossen und online. Mit der Bahn fahren heute die Pendler zur Arbeit, die Manager zur Besprechung am Laptop arbeitend, und Schüler zur Schule. Diese gravierenden Veränderungen haben die Aura des Reisens zerstört. Das hört sich nach einem Lust und Laune-Prinzip an…. Richtig. Heute hat man diese wunderbaren großen Hallen, in welchen sich, mehr oder weniger unkontrolliert, sekundäre, parasitäre Einbauten einquartieren, bauliche Zufälligkeiten stören das Gesamtbild – das ist jene Realität, mit der es nun gilt umzugehen. Sie haben 2002 den internationalen Wettbewerb gewonnen. Mit welchen gestalterischen Ansätzen sind Sie an den Entwurf herangegangen? Es handelt sich dabei nicht nur um den Westbahnhof, sondern um einen insgesamt 1,5 Kilometer langen Streifen bis zur Johnstraße. Beiderseits der Bahntrasse stagniert die städtische Entwicklung, „Glasscherbenviertel“ sind die Folge. Interessanterweise ist in der Ausschreibung nahegelegt worden, einen großen Teil des Bauvolumens in Hochhäusern unterzubringen. Dieser Empfehlung sind fast alle gefolgt in Kombination mit Überbauungen, Vordächern auf dem Europaplatz etc..

Wir nicht. Für uns war die alte Halle des Westbahnhofes ein wichtiger Nukleus, um den herum etwas Neues passiert. Wir wollten daraus das Zentrum einer neuen Konfiguration machen. Zwar haben wir uns auch eine Variante mit einem Hochhaus an der Mariahilfer Straße überlegt, aber der Untergrund ist geradezu perforiert von der U-Bahn und macht an dieser Stelle – aus unserer Sicht die städtebaulich einzig sinnvolle – die Errichtung eines Hochhauses unrealistisch. War es ein großes Anliegen, auch den Platz, an den man ja schon gewöhnt war, komplett „umzukrempeln“? Das ist unser zweiter Denkansatz: Die Fläche, an der die Mariahilfer Straße in den Gürtel einmündet, war charakterisiert von grünen Restflächen und willkürlicher Bepflanzung, ein Aufenthaltsort für Stadtstreicher und Hunde. Außerdem ist der Gürtel geprägt von beiderseits geschlossener Bebauung, die an dieser Stelle auf einer Länge von über 300 Metern unterbrochen war, wo sich einfach nichts außer ein paar Straßenbahngleisen befand. Das entspricht einfach nicht dem Stadtraum Gürtel. Aus diesem Grund wollten wir mit den Baukörpern wieder an den Gürtel herankommen. Dadurch entstand die u-förmige Vorplatzsituation vor der denkmalgeschützten Halle. Ein wichtiger Punkt des Entwurfs und Teil der Ausschreibung war auch nach einer Lösung zu suchen, den Westbahnhof funktional und gestalterisch näher an die Mariahilfer Straße heranzubringen, denn die Verbindung erfolgte früher praktisch nur unterirdisch. Wir wollten deshalb ein deutliches Signal an diese Ecke setzen, einen Attraktor am Eingang zu etwas Neuem. Von dort aus soll eine Initialzündung stattfinden für die zukünftige Entwicklung der Gebiete beiderseits der Bahntrasse. Was war für Sie die größte Herausforderung bei diesem Projekt?

01 Architekt Eric Steiner hat sich auch persönlich sehr stark mit dem alten Westbahnhof auseinander gesetzt. 02 Ein wesentlicher Punkt des Entwurfs war das Heranrücken des Westbahnhofes an die Mariahilfer Straße in Form eines Attraktors zu etwas vollkommen Neuem.

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Wir wollten die alte Bahnhofshalle zum attraktiven Zentrum eines multifunktionalen Komplexes machen. Nur dann, wenn diese Halle Funktionen hat, die man auch tatsächlich braucht, wird diese später nicht wieder von parasitären Einrichtungen verunstaltet werden. Man musste also ein potentes Zentrum daraus machen, ein engmaschiges Geflecht aus U-Bahn-Station, Verkehrsstation, Einkaufszentrum, Hotel, Büros und einem attraktiven Vorplatz an der Mariahilfer Straße mit Cafés – kurz: einen städtisch verdichteten, wirklich lebendigen Ort für Arbeit, Verkehr und Freizeit. Mit dem markanten, bügelförmigen Gebäude haben wir einen neuen Eingang geschaffen als sichtbares Signal für den Beginn einer Neuentwicklung auf diesem Areal entlang der Bahntrasse. Natürlich war uns klar, dass die nahezu vollflächige Unterbauung durch die U-Bahn es schwierig machen würde, an dieser Stelle ein markantes Objekt zu installieren. Dieses sollte aber einen atriumartigen Binnenraum schaffen, einen Platz, der zu den Verkehrsflächen hin mit gefilterter Transparenz abgeschlossen und doch offen ist. Die Herausforderung, ein solches Gebäude an den Gürtel zu stellen, das einerseits die Baulinie wieder heranrückt und andererseits den Gürtel zu einem erlebbaren Raum macht, der nun wieder eine klare Begrenzung und Raumkante hat, war sicherlich die größte. Haben Sie versucht, die denkmalgeschützte Halle wie ein Schmuckstück einzupacken? Die Westbahnhofhalle ist in diesem Sinne nicht der Hauptdarsteller, funktional aber der Kern, um den sich alles andere herum entwickelt. Damit kann man das große räumliche Potenzial auch wirklich nutzen. In welcher Weise hat die Architektur der Halle dann noch eine Rolle gespielt? Eine sehr große. Weil wir der Meinung sind, dass der Westbahnhof vorher als Einzelobjekt irgendwo in der Gegend herumgestanden ist. Jetzt aber hat er mit den beiden Flanken eine klare räumliche Fassung bekommen. Auch in der Fassadengestaltung der neuen Objekte haben wir versucht, jeden Anklang zu vermeiden und ziemlich neutrale Fassaden auszubilden, die sich vom Westbahnhof völlig unterscheiden. Als Übergang zwischen Alt und Neu haben wir niedrige Ver-

bindungsglieder eingefügt. Im Innenraum haben wir durch sorgfältige Eingriffe die Erlebbarkeit des Hallenraumes erweitert. Hier haben wir einiges geändert, so etwa die beidseitigen Galerien als ein Ort, an dem man wartet, sich trifft, einkaufen geht oder einfach nur dem Treiben zusieht. Mit unseren Einbauten haben wir versucht, möglichst neutral zu bleiben, um die Architektur am Beginn der 50er Jahre zur Wirkung kommen zu lassen. Wie stehen Sie Stadtentwicklungen in diesem Maßstab generell gegenüber? Sehr positiv. Städte baut man weiter. Brauchbare Bausubstanz muss erhalten werden und bekommt neue Nutzungen. Städte sind lebendige Organismen wie auch so große Hallen, die teilweise umgenutzt werden, aber in ihrem Potenzial erhalten bleiben. Man muss immer vom Großen ins Kleine hineingehen. Der Städtebau kam auch beim Wettbewerb zuerst. Die erste Aufgabe war, den Stadtraum zu sanieren. So breite Bahntrassen mitten im Stadtgebiet ziehen Entwicklungen und Funktionen an, die man sich nicht unbedingt wünscht. Sie wirken wie ein eiserner Vorhang, dort stagniert die Entwicklung, „Glasscherbenviertel“ entstehen. Der Gebäudekomplex rund um den neuen Westbahnhof wird diese Stagnation auflösen. Wir sprechen von einer Bahntrasse mit 200 Metern Breite, die trotz Brückenverbindungen derzeit praktisch nie überquert wird. An strategisch wichtigen Punkten könnte man mit Nutzungen besetzte Verbindungen schaffen, um die beiden Bezirksteile miteinander zu vernetzen. Es werden später auch nicht mehr 200 Meter zu überwinden sein, denn die Bezirke werden durch wegfallende Bahntrassen zusammenwachsen. Der Westbahnhof als Anziehungspunkt, als Knotenpunkt, an dem sich täglich 45.000 Menschen bewegen, wird ausstrahlen. Es werden derzeit entlang der Bahntrasse 300 Wohnungen gebaut, dort, wo vorher niemals jemand im Traum daran gedacht hätte. Am Bahnhof entstehen jetzt viele Arbeitsplätze und Büros, und das wird auch auf der Felberstraße passieren. Die Grundstücke werden aufgewertet, und in 20 – 25 Jahren wird man diese „Scherbenviertel“ nicht mehr wiedererkennen. Das ist etwas, was mich ganz besonders freut. Der Startschuss ist mit dem Projekt am Gürtel gefallen. Die Wunde in der Stadt verheilt.

02.11.11 10:14


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