Behörden Spiegel Juli 2021

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Fakten, Hintergründe und Analysen für den Öffentlichen Dienst

ISSN 1437-8337

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de Alles dazu auf

Nr. VII / 37. Jg / 27. Woche

Berlin und Bonn / Juli 2021

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www.behoerdenspiegel.de

“Raus aus alten Denkmustern”

Sehr viel Einfühlungsvermögen gefragt

Als Pensionär zurück in den Dienst

Ralph Brinkhaus fordert eine Staatsmodernisierung ....................... Seite 5

Birgitta Radermacher über Entschädigungen nach dem BEG �������������������������������������������� Seite 7

Harald Schneider als Integritätsbeauftragter der hessischen Polizei .............................. Seite 48

Der Staat als Plattform

Bonn soll Regierungssitz bleiben (BS/rup) Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union, plädiert dafür, Bonn als zweiten Regierungssitz beizubehalten. Der Umzug von bis zu 30.000 Beschäftigten sei teurer als die durch den Corona-bedingten Digitalisierungsschub stark verminderten Dienstreisen zwischen beiden Standorten. Bonn stehe “für einen lebendigen Föderalismus”, weswegen die nächste MPK hier stattfinde. Gestärkt werden solle zudem das internationale Profil des UN-Standortes Bonn. Laschet wolle sich zudem für mehr UN-Konferenzen am rheinischen Standort einsetzen. Ob Bonn neben der Bundeshauptstadt Berlin als zweites politisches Zentrum in einem neuen Koalitionsvertrag einfließen solle, ließ Laschet offen.

Hessens KI entwickelt sich weiter

(BS/sp) Das im letzten Jahr gegründete KI-Zentrum Hessen erhält im Rahmen einer Exzellenzinitiative 40 Millionen Euro Landesmittel für insgesamt sechs Forschungsvorhaben. Das Geld soll genutzt werden, um exzellente Grundlagenforschung, konkreten Praxisbezug mit Antworten auf wichtige Herausforderungen unserer Zeit und den Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft zum Thema KI zu leisten. In der fünfjährigen Aufbauphase richtet das Land 20 zusätzliche Professuren für das Forschungszentrum ein. Anwendungsbeispiele der KI sind z. B. Terminvereinbarungen bei Friseuren. Weitere Informationen zum Bereich KI sind auf Seite 30 zu finden. Auf Seite 26 findet sich ein ausführliches Resümee des Kongresses HEssenDIGITAL.

Datenaustausch per Erlass

(BS/mj) Kreise und kreisfreie Städte in NRW müssen bis zum 30. September 2021 den flächendeckenden Datenaustausch zwischen den Gesundheitsämtern sicherstellen. Bis zum Herbst wolle man so die digitale Kontaktpersonennachverfolgung in den Gesundheitsämtern weiter ausbauen, heißt es seitens der Landesregierung NRW. In diesem Sinne hat das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium sich mit einem entsprechenden Erlass an die Kommunen gewandt. Laut Helmut Dedy, Geschäftsführer des Städtetags NRW, haben viele Städte bereits erprobte digitale Systeme, welche die Kontaktverfolgung auch bei höheren Inzidenzen sicherstellen. Er warnt daher vor einer Softwareeinführung mit der Brechstange. Und Martin Klein, Hauptgeschäftsführer des nordrhein-westfälischen Landkreistags, kritisiert die Mehrkosten für die Gesundheitsämter.

Prozesse, nicht Zuständigkeiten in den Blick nehmen (BS/Jörn Fieseler) In der nächsten Legislatur müsse eines der drei Top-Themen der Bundesregierung die Modernisierung des Staates sein, ist Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, überzeugt. Aber wie soll diese Modernisierung konkret aussehen? Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) hat dazu ein Positionspapier mit mehreren Empfehlungen vorgelegt. Doch was muss reformiert werden – die Verwaltung, die Politik, der Föderalismus? Anstatt sich im politischen Ringen über Zuständigkeiten und Kompetenzen zu verlieren, ist es sinnvoller, pragmatisch vorzugehen. “Durch die Corona-Pandemie und die Flüchtlingskrise hat das Bild eines gut organisierten und gut regierten Landes in der Öffentlichkeit Risse bekommen. Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert”, konstatiert Dr. Johannes Ludewig, Vorsitzender des NKR. Die Folge dieser Kompliziertheit: ein unverhältnismäßig hoher Ressourceneinsatz. “Dort, wo strukturelle Unzulänglichkeiten nicht mehr durch Geld oder die große Einsatzbereitschaft der öffentlich Bediensteten und ehrenamtlich Tätigen ausgeglichen werden können, leiden Wirksamkeit und Qualität staatlicher Maßnahmen”, heißt es im NKR-Positionspapier “Leistungsfähige Verwaltung, zukunftsfester Staat”. Deshalb müsse Strukturfragen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das Krisenmanagement zu verbessern, rückt damit in den Hintergrund. Aus der Notsituation heraus ist der Druck entstanden, den Staatsaufbau zu hinterfragen. Das ist für den NKR keine Frage der Zuständigkeiten. Stattdessen setzt er auf einen Dreiklang aus Maßnahmen, die eine stärkere Selbstreflexion der Verwaltung anstoßen, institutionelles Lernen beschleunigen und einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess einleiten sollen. Dies sei umzusetzen über Audits

Ist der Öffentliche Dienst noch zeitgemäß oder bedarf es einer Verwaltungsreform, bei der Prozesse analysiert und optimiert werden, damit sie wie die Zahnräder eines Uhrwerkes ineinandergreifen und die Plattform Staat und Verwaltung optimal funktioniert? Foto: BS/ Vienna Frame, stock.adobe.com

und Stresstests. Anders Brinkhaus: “Was wir brauchen, ist eine klare Zuordnung von Aufgaben und Finanzen.” Erst komme die Aufgabe. Der Aufgabe folge das Geld. “In der Vergangenheit wurde zu oft nach der Zuordnung von Aufgaben und Mitteln noch zusätzliches Geld vom Bund verlangt. Damit sollten wir Schluss machen”, sagt er zur Begründung (siehe Seite 5). Natürlich kann

man über Gesetzgebungskompetenzen nachdenken und wer für was zuständig ist – die Wirkung dürfte jedoch gering sein. Zwar erfordert die föderale Struktur stets die Bereitschaft zur Reform, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble unterstreicht, aber: “Nichts ist so häufig am Grundgesetz geändert worden, wie jene Artikel, die die Beziehungen zwischen Bund und Län-

dern regeln. Besser geworden ist unsere Verfassung dadurch nur selten.” Anstatt den Föderalismus zu hinterfragen und mehr zu zentralisieren, plädiert der Bundestagspräsident für mehr Pragmatismus und das Subsidiaritätsprinzip: So viel sei möglich ist auf der unteren Ebene zu entscheiden, nur das Notwendigste werde auf höhere Ebenen gezogen.

Zudem wäre es pragmatischer, Verwaltung nicht von den Zuständigkeiten, sondern vom Bürger oder vom Ergebnis her zu denken. Das gilt für hoheitliche Aufgaben ebenso wie für Verwaltungsleistungen für den Bürger. Warum zusammenhängende Themen- und Lebenssachverhalte in abgeschottete Zuständigkeitssilos zergliedern, die einzeln anzusteuern sind? Stattdessen sei eine Matrixstruktur zu etablieren, unterstreicht Brinkhaus für die Bundesverwaltung. Der Ansatz ist gut, muss aber weiterentwickelt werden. Es reicht nicht, eine Matrixstruktur nur auf einer politischen Ebene aufzubauen. Besser ist es, eine Matrixorganisation über alle drei staatlichen Ebenen zu schaffen. Prozesse von Bund, Ländern und Kommunen müssen ineinandergreifen und als Shared Services gestaltet werden. Beim Onlinezugangsgesetz wird dieses Prinzip bereits angewendet. Einzelne Länder entwickeln Prozess-Lösungen mit allen Akteuren, die anschließend von den anderen Ländern und den Kommunen übernommen werden. Das ist die Zukunft. Oder, wie der NKR es schreibt: “Die föderale Arbeitsteilung ist nach dem Prinzip “der Staat als Plattform” strategisch weiterzuentwickeln.”

Kommentar

Zukunft statt Schicksal (BS) Der Bundestag hat sich in seine Sommerpause verabschiedet. Die Politik ist in den Wahhlkampfmodus gewechselt. Weitreichende Entscheidungen werden nicht mehr gefällt. Dennoch fahren Kommunalverbände und Gewerkschaften momentan alles auf, um auf die Situation in den Kommunen aufmerksam zu machen. Mit regelmäßigen Aktionen in den Innenstädten und großflächigen Bannern an Gebäudefassaden werden sie nicht müde, auf ihr Kernproblem aufmerksam zu machen: Ihnen fehlt es massiv an Geld. Die Städte und Gemeinden rechnen mit massiven Einnahmeausfällen und deutlichen, Coronabedingten Ausgabensteigerungen in den kommenden Jahren. Während Bund und Länder im vergangenen Jahr den Kommunen mit einem Schutzschirm offensiv unter die Arme griffen, bleibt bis jetzt ein Signal der Unterstützung aus. Die Städte brauchen aber Planungssicherheit. Bislang müssen sie mit dem Schlimmsten rechnen. Aktuell gilt noch der Ausnahmetatbestand der Schuldenbremse. Spätestens 2023 ist das aber nicht mehr der Fall. Heißt, die öffentliche Hand muss wieder tilgen. Zu Recht weist der Ökonom Prof. Dr. Jens Südekum darauf hin, dass wir auf Sparhaushalte zusteuern werden,

wenn sich nichts grundlegend ändere. Dies wird vor allem die Kommunen treffen, die ohnehin schon strukturschwach sind. Die Lebensqualität der Menschen wird dann stark von ihrem Wohnort abhängen. Glücklich kann sich schätzen, wer dann nicht im Ruhrgebiet wohnt. Die Sache ist wichtig und kann nicht aufgeschoben werden. Die Städte wollen und müssen handlungsfähig bleiben, denn wenn die Zukunft nicht mehr gestaltbar ist, dann ist es keine Zukunft mehr, sondern Schicksal. Und deswegen gibt es für die kommunale Lobby keine Sommerpause, sie ist beharrlich, wenn es um die Zukunft der Städte geht. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung machte jüngst noch einmal deutlich, dass die

Kommunen nicht müde würden, Hilfe einzufordern. Denn alleine werde man es nicht schaffen, so Jung. Bereits für die anstehenden Koalitionsverhandlungen wollen die Kommunen daher ihre Forderungen richtig platziert wissen und schon jetzt an die kommenden Regierenden ein klares Signal senden. Auch die Gewerkschaften haben angekündigt, in dieser Sache Handlungsdruck auf die neue Regierung auszuüben. Eine neue Bundesregierung könne dieses Thema nicht aussitzen, man werde permanent nachbohren. Die neue Bundesregierung wird also nicht um dieses Thema herumkommen. Wenn ein erster Rettungsschirm richtig war, was kann an einem zweiten dann falsch sein? Lora Köstler

Same procedure as last year


Inhalt

Seite 2

Behörden Spiegel / Juli 2021

Die Defizite sind bekannt – die Vorteile auch. Nun gilt es, Hardware und Software, Nutzer und Standorte sowie Institutionen und Kooperationen zu befähigen. Schnell! Foto: BS/©Sergey Nivens, stock.adobe.com

Aufholjagd bei Einsen und Nullen Handbuch der Extraklasse

Digitalisierungsturbo als Dauerbrenner

KI auf Kurs bringen

Von den Grundlagen bis zum Wettbewerbsregister ist alles enthalten ...................................................... Seite 9

Der Öffentliche Gesundheitsdienst im Fokus .............Seite 15

Innovation ermöglichen, Risiken vermeiden ..............Seite 30

Spezialisten gesucht

Polizei muss mit der Zeit gehen

So schmal ist der deutsche Breitbandausbau............Seite 13

Die Volldigitalisierung der Verwaltung erfordert geschultes Personal ..................................................Seite 26

Mit Investitionen dem technischen Fortgang begegnen ...................................................Seite 39

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Viel EU-Geld für die Digitalisierung

Nachholbedarf im Gesundheitswesen .......................Seite 14

Deutscher Aufbau- und Resilienzplan gebilligt ..........Seite 28

Aufgreifschwelle versus Giganetz

Impressum Der Behörden Spiegel wird verlegt von der ProPress Verlagsgesellschaft mbH. www.behoerdenspiegel.de

Innen Spiegel

Fachwissen für den Öffentlichen Dienst Die Sonderpublikationen des Behörden Spiegel

INTERNE REVISION

(BS/df/mfe) Der Behörden Spiegel greift stetig aktuelle Entwicklungen aus allen Bereichen als Sonderpublikationen auf. So wird demnächst das Vorhaben zum neuen Schweren Transporthubschrauber (STH) der Bundeswehr mit Konzentration auf die CH-53K als eigene Broschüre erscheinen. Zudem greift die Magazinreihe “Moderne Streitkräfte” aktuelle Entwicklungen oder Hintergrundwissen auf, um diese Information prägnant und konzentriert dem Leser zu präsentieren.

in Behörden Einrichtung / Aufgabenbeschreibung praktisches Vorgehen / Mehrwert

Ein praxisbezogener Überblick

Behörden Spiegel-Gruppe

ISSN 1617-7320

Magazinreihe

von Ingo Sorgatz Erster Kriminalhauptkommissar, Dipl. Verwaltungswirt (FH)

Moderne

2. Auflage

STREITKRÄFTE Die Digitalisierung der Bundeswehr – der Ansatz der wehrtechnischen Industrie

Behörden Spiegel-Gruppe in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband

Moderne_Streitkraefte_Digi_Bund_final.indd 1

die NATO Support Agency (NSPA). Diese Organisationen haben sowohl im Bereich der gemeinsamen Fähigkeitsentwicklung als auch in der Rüstung neue und zukunftsweisende Prozesse, und Kooperationen geschaffen. Eine weitere Schriftenreihe, die regelmäßig erscheint, ist “Moderne Polizei”. Dessen aktuelle Ausgabe befasst sich besonders mit der digitalen Forensik sowie dem sicheren und mobilen Arbeiten. Die Polizei muss schließlich nicht nur im Analogen, sondern auch im Digitalen mit den Kriminellen Schritt halten. Es wäre für den Rechtsstaat verheerend, wenn Straftäter den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) im digitalen Raum voraus wären und die Sicherheitskräfte diesen Rückstand nicht aufholen sowie ausgleichen könnten. Damit das gelingt, braucht es zeitgemäße technische Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie adäquate rechtliche Befugnisse. Die Corona-Krise war und ist zudem ein Test für die Leistungsfähigkeit der IT-Netze der öffentlichen Verwaltung. Der Bedarf an sicherem Datenaustausch, vor allem auch Telefon- und Video-

Schriftenreihe für die Verwaltungspraxis

der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV)

21.04.2021 08:32:21

In zahlreichen Sonderpublikationen präsentiert der Behörden Spiegel Hintergrundinformationen und aktuelle Entwicklungen in verschiedenen Themenbereichen. Fotos: BS/Archiv

In dem Sonderheft “Military Procurement for Europe – Militärische Rüstung für Europa”, das zweisprachig (deutsch und englisch) im Rahmen der Reihe “Moderne Streitkräfte” erschien, kamen beispielsweise die wichtigsten Akteure der europäischen Rüstung zu Wort. Dazu zählen neben der European Defence Agency (EDA) und der Organisation Conjointe de Coopération en Matière d’Armement (OCCAR) auch

konferenzen ist durch die allseits eingeführte mobile Arbeit größer als je zuvor. Von einem Rückgang bis auf das Vor-PandemieNiveau nach der Krise ist nicht auszugehen: Vielmehr werden Mobilität und IT-gestützte Kommunikation künftig zum Verwaltungsstandard gehören. Im Zuge der allgemeinen Digitalisierung von Verwaltungsaufgaben- und Prozessen steigen darüber hinaus die Anforderungen an Verfügbarkeit, Datendurchsatz und gleichzeitig betriebene Instanzen weiter. Hier wird es auf flexibel und vor allem schnell skalierbare Betriebsmodelle und Redundanz ankommen, um sich krisenfest und einsatzkritisch aufzustellen. Die Netzinfrastruktur hat als Basis für alle digitalen Kommunikations- und Datenaustauschvorgänge eine Schlüsselrolle. Zu ihrer Resilienz gehört auch der Schutz vor externen Bedrohungen wie Sabotage und CyberSpionage. Die Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS) trägt als Betreiberin der Netze des Bundes und des BOS-Digitalfunks die Verantwortung für Verfügbarkeit und Sicherheit grundlegender Infrastrukturen der Kritischen Kommunikation im öffentlichen

Bereich. Der Gedanke der Konsolidierung und ganzheitlichen Betrachtung ist leitend für die strategische Weiterentwicklung der Netze des Bundes zu einem umfassenden Informationsverbund der öffentlichen Verwaltung (IVöV). Die Übernahme der Netze in den Eigenbetrieb der BDBOS ist in vollem Gange. Auch im Digitalfunk der BOS steht der BDBOS erneute Aufbauarbeit bevor: In den nächsten Jahren soll sie im Zusammenspiel mit kommerziellen Anbietern Infrastrukturen und Dienstleistungen für die künftige Breitbandkommunikation der Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehren und Rettungsorganisationen konzipieren, einführen und anbieten. Aufgrund dieser Entwicklungsperspektiven und der Bedeutung sicherer Infrastrukturen für die Kritische Kommunikation hat der Behörden Spiegel in Kooperation mit der BDBOS eine Sonderpublikation “Auf dem Weg zur Kritischen Kommunikation der Zukunft” veröffentlicht. Thematisiert werden unter anderem Netzstrategien und -konsolidierung, Kommunikation und Datenaustausch bei der stationären und mobilen Arbeit sowie der BOS-Digitalfunk. Eine weitere regelmäßig erscheinende Zeitschrift befasst sich mit

dem Glücksspielwesen. Für die Digitalisierung des Glücksspielmarktes in Deutschland markiert der 1. Juli 2021 schließlich einen Meilenstein. An diesem Tag trat der neue Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV 2021) in Kraft. Diese Neuerungen sind ein Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Beiträge zum Glücksspielwesen. Weitere Themenfelder sind Abstandsregeln für Spielhallen und die Privatisierung der Spielbanken in Nordrhein-Westfalen. “Beiträge zum Glücksspielwesen” ist eine Fachreihe des Behörden Spiegel, die viermal im Jahr erscheint. Alle hier genannten Magazine und weitere Sonderpublikationen – wie das jährlich erscheinende “Handbuch der Militärattachés in Deutschland” oder die Publikation “Interne Revision in Behörden” können über die Page des Behörden Spiegel unter www. behoerden-spiegel.de/sonder publikationen bestellt werden.

Fotoquellen Seite 1 Foto 1: BS/Thomas Imo Foto 2: BS/Lorenz Foto 3: BS/Feldmann Beilagenhinweis Einer Teilauflage des Behörden Spiegel liegt eine Beilage der Firma Steyr Arms GmbH bei.

Herausgeber und Chefredakteur Uwe Proll Leiter der Berliner Redaktion Jörn Fieseler Leiter der Bonner Redaktion Guido Gehrt Redaktion Marco Feldmann (Innere Sicherheit, Katastrophenschutz), Jörn Fieseler (Personal, Beschaffung, Vergabe), Dorothee Frank (Verteidigung, Wehrtechnik), Guido Gehrt (IT, ITK-Politik, Haushalt), Michael Harbeke (Online-Redaktion), Ann Kathrin Herweg (Online-Redaktion), Malin Jacobson (Kommunen, Online-Redaktion), Bennet Klawon (Katastrophenschutz), Tanja Klement (Online-Redaktion), Matthias Lorenz (Online-Redaktion), Lora Köstler-Messaoudi (Haushalt, Finanzen), Thomas Petersdorff (Digitale Gesellschaft), Dr. Gerd Portugall (Sicherheitspolitik), Tim Rotthaus (OnlineRedaktion), Paul Schubert (IT, IT-Sicherheit), Benjamin Stiebel (IT, IT-Sicherheit), Dr. Barbara Held (Sonderkorrespondentin Digitalfunk), Gerd Lehmann (Sonderkorrespondent BOS) Parlamentsredaktion Berlin Tel. 030/726 26 22 12, Fax 030/726 26 22 10 Layout Beate Dach, Marvin Hoffmann, Karin Vierheller Verlag Bonn Anzeigen/Redaktion/Vertrieb Tel. 0228/970 97-0, Fax 0228/970 97 75 Verlag Berlin Redaktion/Vertrieb 10317 Berlin, Kaskelstr. 41 Tel. 030/55 74 12-0, Fax 030/55 74 12 57 Anzeigenleitung Helga Woll, gültige AnzeigenPreisliste Nr. 32/2021, Jahresabonnement (12 Ausgaben) 9,80 Euro (inkl. Porto und MwSt.) Bankverbindungen Volksbank Köln Bonn eG BAN: DE25 3806 0186 3015 6470 18 BIC: GENODED1BRS Postbank IBAN: DE24 3701 0050 0022 6905 09 BIC: PBNKDEFF Geschäftsführung Helga Woll Leitung Unternehmensentwicklung und Digitalisierung Dr. Eva-Charlotte Proll Vorsitz Herausgeber- und Programmbeirat Dr. August Hanning, Staatssekretär a. D. Reimar Scherz, Brigadegeneral a. D. Im Falle höherer Gewalt und Störungen des Arbeitsfriedens besteht kein Anspruch auf Belieferung. Für unverlangt eingesandte Manuskripte keine Gewähr. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Zeitung und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen (auch Werbeeinschaltungen) sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages strafbar. Auflagenkontrolle durch

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Berlin und Bonn / Juli 2021

KNAPP

Schritte zur Nachwuchsgewinnung

Personal wächst

Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wollen attraktivere Arbeitgeber werden (BS/Kilian Recht) Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben zwar keine neuen Machtverhältnisse hervorgebracht, könnten aber mit Neuerungen für den Landesdienst aufwarten. So geht es den Regierungsparteien vor allem darum, dem Demografie- und Nachwuchsproblem zu begegnen. Mit manchem Vorhaben gehen die Koalitionäre weite Schritte voraus, mit anderen tippeln sie eher hinterher. Die in Baden-Württemberg wiedergewählte Regierung aus Bündnis 90/Die Grünen und CDU will ihre Amtsstuben interessierten Arbeitnehmern weiter öffnen und frischen Nachwuchs verpflichten. Dafür sollen mobile und flexible Arbeitsmodelle stärker gefördert werden, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Damit einhergehend soll eine moderne Führungskultur geschaffen werden, die zur digitalen und agilen Arbeitswelt passt. Auch die Raumnutzung will Grün-Schwarz in diesem Zusammenhang neu denken. Neue Büronutzungskonzepte stehen auf dem Plan. Denkbar für die Koalitionäre ist eine Arbeitsplatzteilung bei HomeofficeRegelungen, wodurch wiederum Flächen- und Energiebedarfe reduziert werden sollen. Um auch an das richtige Personal zu geraten, will die grünschwarze Koalition ein Dachportal einrichten, das die beruflichen

Möglichkeiten aufzeigt, die das Land zu bieten hat. Besonders technische Fachkräfte will man für den Öffentlichen Dienst gewinnen und Stellen füllen, die dringend zu besetzen sind. Als wichtiges Mittel dazu sehen die Wiedergewählten die Gewährung von Zulagen. Vor allem in der Verwaltung sollen Mitarbeitende gefördert werden, unter anderem durch die Übertragung von mehr Führungsverantwortung. Man will zudem prüfen, ob und an welchen Stellen Führungspositionen womöglich auf Zeit vergeben werden könnten. Die CDU scheint in dieser Konstellation wider Erwarten sogar die Idee einer Bürgerversicherung mitzutragen. Laut Regierungsprogramm soll die Gesetzliche Krankenversicherung in BadenWürttemberg nämlich weiter geöffnet werden. Beamtinnen und Beamte sollen künftig die Möglichkeit bekommen, sich ohne finanzielle Nachteile für die

Die wiedergewählten Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg warten in ihren Koalitionsverträgen mit größeren und kleineren Schritten für den Öffentlichen Dienst auf. Foto: BS/free-photos, pixabay.com

gesetzliche Versicherung zu entscheiden. Das Land würde dann den Arbeitgeberanteil tragen. Die ebenfalls wiedergewählte Koalition aus SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP in Rheinland-Pfalz will sich für eine stär-

kere paritätische Verteilung von Führungspositionen in der Landesverwaltung einsetzen. Auch soll die Verwaltung inklusiver werden. Man bekennt sich laut Koalitionsvertrag zu dem Ziel einer Beschäftigungsquote von

Ein Qualifizierungsticket Neuer Digitalisierungstarifvertrag auf Bundesebene (BS/jf) Braucht man nach 16 Monaten Pandemie noch einen Digitalisierungstarifvertrag, der eine Einigung zum mobilen Arbeiten enthält? Die Antwort ist eindeutig: Ja! Mit dem Regelwerk sind die Verhandlungen jedoch nicht beendet. Der neue Tarifvertrag kommt immer dann zur Anwendung, wenn sich durch die Einführung digital gestützter Arbeitsprozesse oder durch die Fortentwicklung bereits laufender Prozesse die Arbeitsbedingungen wesentlich ändern. In diesen Fällen soll für die Beschäftigten in erster Linie ein gleichwertiger Arbeitsplatz gefunden werden. Idealerweise in derselben Behörde am selben Beschäftigungsort. Ist das nicht möglich, gilt beim Wechsel in

eine andere Dienststelle “Ort vor Behörde”. Scheitern auch diese Varianten, kann sogar ein niedriger bewerteter Arbeitsplatz in Betracht kommen, wobei das Entgelt durch Zulagen gesichert wird. Erst wenn das nicht möglich ist, besteht ein Anspruch auf Qualifizierung für die Tarifbeschäftigten des Bundes. Verbunden mit einer Pflicht zur Teilnahme. Darüber hinaus enthält der Vertrag eine Einigung über mobile Arbeitsformen. Soweit in einer

Dienststelle diese Arbeitsformen möglich sind, muss es dafür eine Dienstvereinbarung mit dem Personalrat geben. “Ob es de facto in jeder Behörde eine Dienstvereinbarung gibt, ist leider nicht bekannt”, sagt Volker Geyer, Fachvorstand Tarifpolitik und stellvertretender Bundesvorsitzender im DBB Beamtenbund und Tarifunion. Zudem greift die Regelung auch, wenn neue Bundesbehörden gegründet werden. Der Vertrag gilt aber nur für die Tarifbeschäftigten des Bundes.

Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat bereits angekündigt, die Regelungen auf das Beamtenrecht übertragen zu wollen. Darüber hinaus bleibt noch mehr zu tun. “Länder und Kommunen sind nun aufgefordert, mit uns Verhandlungen zu führen”, so Geyer. Ob das Thema bei der anstehenden Tarifrunde mit den Ländern im Oktober auf die Agenda kommt, ist jedoch noch offen. Die Gewerkschaften werden ihre Forderungen am 26. August präsentieren.

Menschen mit Behinderung in Höhe von sechs Prozent. Konkret sollen dafür Inklusionsbetriebe und -abteilungen in der Landesverwaltung geschaffen werden. Rheinland-Pfalz soll zudem als Arbeitgeber eine eigene Arbeitgebermarke verpasst bekommen. So wollen die Pfälzer mit anderen Ländern wie Berlin gleichziehen, die bereits eine Marke aufgebaut haben. Ebenfalls in Berlin bereits vorhanden und nun in Rheinland-Pfalz geplant ist die Einführung Dualer Studiengänge im Bereich des Öffentlichen Dienstes. Sie sollen in Kooperation mit rheinland-pfälzischen Hochschulen angeboten werden und eine Antwort auf das Pro­ blem des wachsenden Bedarfs an Nachwuchskräften geben. Für Bedienstete der Landesverwaltung will die Ampel-Koalition ein Dienstrad-Leasing einführen und dafür die Möglichkeit zur Entgeltumwandlung schaffen. Dieses Vorhaben soll zeitnah umgesetzt werden, insofern die Tarifvertragsparteien in der anstehenden Lohnrunde eine solche Regelung vereinbaren. Laut Regierungsprogramm steht zudem mit Blick auf die weiter voranschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt eine Novellierung des Landespersonalvertretungsgesetzes auf dem Plan. Zudem soll geprüft werden, wie das Dienstrecht entbürokratisiert werden könnte. Auch in puncto Personalvertretung legten andere Länder vor. Der Bund zog bereits nach und nun also auch Rheinland-Pfalz. Doch ob nun vorgelegt oder nachgezogen, der Öffentliche Dienst dürfte in beiden Ländern in der kommenden Legislatur moderner werden und wichtige Reformen erleben. Mehr zum Thema Nachwuchsgewinnung im Öffentlichen Dienst auf den Seiten 4 und 6

(BS/jf) Rund fünf Millionen Menschen waren zur Mitte 2020 im Öffentlichen Dienst beschäftigt. Damit verzeichnen Bund, Länder und Kommunen einen Personalzuwachs von 1,7 Prozent (83.200 Beschäftigte) gegenüber 2019, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Somit sind insgesamt elf Prozent aller Erwerbstätigen im Staatsdienst beschäftigt. Die größten Zuwächse verzeichneten die Statistiker bei den über 243.500 Erzieherinnen und Erziehern. Hier waren im Juni 2020 rund 10.400 Menschen (+ 4,4 Prozent) mehr beschäftigt als im Vorjahr. An zweiter Stelle folgt die Polizei. Hier wirken sich die fest zugesagten Stellenzuwächse von Bund und Ländern aus. So stieg die Zahl der Personen im Polizeidienst um 7.100 Personen (+ 2,1 Prozent) auf insgesamt 341.400. Nach 2017 war dies der zweitgrößte Zuwachs seit Mitte der 1990er-Jahre.

Streiks beim Bundestag-Fahrdienst

(BS/jf) Beim Bundestag-Fahrdienst soll es einen eigenen Tarifvertrag geben. So der Wunsch der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und der Beschäftigten. Auf Arbeitgeberseite ist man dem Ansinnen gegenüber weniger aufgeschlossen. Deshalb hat Verdi bereits zum dritten Mal zu Warnstreiks aufgerufen. Der Fahrdienst des Bundestages in Berlin gehört zur Firma BwFuhrparkService GmbH, die als “Tochterfirma” der Bundeswehr keiner Tarifbindung unterliegt. Stattdessen gilt eine betriebliche Entgeltvereinbarung. Dennach erhalten die rund 250 Fahrerinnen und Fahrer jedoch bis zu 17 Prozent weniger Gehalt als ihre nach TVöD angestellten Kolleginnen und Kollegen in den Ministerien, so Verdi. Entsprechend sollen die Arbeits- und Einkommensbedingungen wie Arbeits- und Urlaubszeit an den TVöD Bund angeglichen werden.

Zukunft Personalentwicklung Schlüsselfaktor eines erfolgreichen Öffentlichen Dienstes

WEBKONFERENZ 7. – 8. September 2021 ZUKUNFTSWEISENDE THEMEN, u. a.:

REFERENTEN, u. a.: Birgitta Radermacher, Regierungspräsidentin der Bezirksregierung Düsseldorf

Herausforderung Pandemie – der Öffentliche Dienst als systemrelevanter Faktor und die Bedeutung für das Personalmanagement

Felicia Ullrich, Geschäftsführerin, u-form Testsystem

Ausbildungsmarketing und Recruiting-Trends für Behörden

Dr. Julia Borggräfe, Abteilungsleiterin für Digitalisierung und Arbeitswelt, Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Digitalisierung und Arbeitswelt – Herausforderungen für den Öffentlichen Dienst

Holger Kliewe, Staatskanzlei des Landes SchleswigHolstein

Personalrekrutierung – Arbeitgebermarke Öffentlicher Dienst

► ALL-AGILE HR? Erkenntnisse zum Reifegrad der HR-Funktion in der agilen Transformation ► Agile Personalentwicklung ► Mitarbeiter erfolgreich entwickeln ► Erweitertes Onboarding & Mitarbeiterbindung ► Mitarbeiterqualifizierung in der Praxis ► Zehn goldene Regeln guter Personalauswahl ► Personalauswahl rechtssicher gestalten

Fotos: Jakub Jirsk, Fotolia.com; ©Roberto Pfeil (Radermacher); privat (Ullrich); © Armin Wähling WM-SH (Kliewe); matzkeFoto_sm (Borggräfe)

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.fuehrungskraefte-forum.de ► Suchwort „Zukunft Personalentwicklung“

Eine Veranstaltungsreihe des


Aktuelles Öffentlicher Dienst

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Die große Depression?

M

enschen, deren Arbeitsalltag von einer hohen Belastung geprägt ist, erfahren in der Corona-Pandemie häufig eine noch höhere Beanspruchung als üblich. In Krankenhäusern wird am Limit gearbeitet, Polizistinnen und Polizisten sehen sich zunehmender Gewalt ausgesetzt, in Arbeitsämtern ist man mit erhöhten Arbeitslosenzahlen konfrontiert.

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement während und nach der Krise

den, in denen eine potenzielle Problematik bereits vor einem akuten Ausbruch erkannt und angegangen werden kann.

Aufklärung und Schulung nicht vernachlässigen

Arbeitsplatzwechsel, neue Aufgaben, Verkürzung der Arbeitszeit: Die Möglichkeiten der beruflichen Eingliederung sind vielfältig und auf die Bedürfnisse der Betroffenen abzustimmen. Foto: BS/Free-Photos, pixabay.com

von vielen Arbeitnehmern in Anspruch genommen. Auch die Wahlfreiheit und die Flexibilität seien entscheidende Entlastungsfaktoren.

Ruhe vor dem Sturm? Anders sieht es bei der medizinischen Versorgung von Menschen aus. Bis auf verwaltungstechnische Tätigkeiten kann in einem Krankenhaus nicht die Wahl des Arbeitsortes ermöglicht werden. Dennoch spricht auch Barbara Fischbacher, Schwerbehindertenvertreterin und Fallmanagerin für die kommunalen RoMed-Kliniken, von einem gleichbleibenden Level an BEM-Verfahren vor und während der Pandemie. In der Anzahl von Krankheitstagen läge man sogar unter dem Durchschnitt bayerischer Unternehmen. Durch Angebote der Seelsorge in den Rosenheimer Kliniken habe man den Anstieg der psychischen Belastung im vergangenen Jahr gut abfedern können, so Fischbacher. Zudem habe auch ein weiterer Umstand zum Ausbleiben eines überdurchschnittlichen Krankenstandes geführt: der verstärkte Zusammenhalt zwischen allen Abteilungen von der Reinigung über die Küche bis zur Pflege. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mobilisierten ihre Kraftreserven, um gemeinsam durch die Pandemie zu kommen. Dabei stellt sich

unweigerlich die Frage, wie lange die Betroffenen noch von ihren Kraftreserven zehren können. Für Fischbacher ist durchaus denkbar, dass nach der Pandemie der bisher ausgebliebene Anstieg von Krankheitsfällen und Eingliederungsverfahren kommen könnte. Auch Rainer Krause hält einen vergleichbaren Verlauf für das LKA in Baden-Württemberg für möglich. Man möchte seine Kolleginnen und Kollegen in Zeiten der Krise nicht im Stich lassen, aber das Überschreiten der eigenen Belastungsgrenzen könnte sich im Anschluss bemerkbar machen.

Vertrauen und Wissen stärken Um dieser Entwicklung effektiv entgegenzuwirken, muss ein besonderes Augenmerk auf Präventionsmaßnahmen gelegt werden. Vertrauen und Wissen in und um die Möglichkeiten eines Eingliederungsmanagements müssen gestärkt werden. Doch bereits im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) sollte hohen Krankenständen vorgebeugt werden. Diese Notwendigkeit findet unter anderem im Bestreben der Brandenburger Polizei Ausdruck, die Dienstordnung BEM künftig in eine umfassendere Dienstordnung “Gesundheitsfürsorge” zu integrieren. Die verschiedenen Präventionsmethoden der Institutionen zeigen, dass viele Wege

KOLUMNE

Prägen – pushen – pilotieren Wenn wir gestalten statt verwalten wollen, dann sind diese drei Führungsqualitäten gefragt. Es ist wichtig, dass unsere Führungsphilosophie klar erkennbar ausgeprägt ist. Das bedeutet nicht, dass wir jedem Thema unseren eigenen Stempel aufdrücken; sondern vielmehr dass grundlegende Führungsmuster klar erkennbar und konsistent sind. Dies hilft bei der Einordnung unseres täglichen Handelns und gibt zusätzliche Orientierung wie Stabilität. Dabei gilt es, nicht nur eine erkennbare Linie zu verfolgen, sondern diese auch besprechbar zu machen, in Führungsrunden bewusst zu thematisieren und gemeinsam das Handeln zu bewerten. Doch Themen wollen meist bewegt, Lösungen gefunden werden. Auch wenn einige Dinge eher eine unschöne Eigendynamik entwickeln können, werden neue Themen oder Veränderungen eher passiv bzw. mit großer

dem Plan. Für das Konfliktmanagement habe man sogar einen eigenen Deeskalationstrainer, wie Barbara Fischbacher berichtet.

(BS/Florian Schröder) Seit Jahren gibt es eine wachsende Relevanz von psychischen Erkrankungen als Grund für hohe berufliche Ausfallzeiten. Die Limitierende Faktoren Corona-Pandemie könnte diese Entwicklung noch verstärken. Arbeitnehmer können in solchen Fällen zusammen mit dem Arbeitgeber Maßnah- Wird die Belastung in der Pflege men der beruflichen Wiedereingliederung beschließen. Um es jedoch gar nicht erst so weit kommen zu lassen, ist gute Prävention unerlässlich. dennoch zu hoch, kann in Ein-

Prävention und ­Gesunderhaltung Wer länger als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig erkrankt ist, hat gesetzlichen Anspruch auf ein Berufliches Eingliederungsmanagement (BEM). In Gesprächen mit einem Fallmanager oder einer Fallmanagerin der Arbeitgeberseite sollen die BEM-Berechtigten Faktoren ermitteln, die zum längerfristigen Ausfall geführt haben. Liegen diese in den Arbeitsbedingungen begründet, so sind Maßnahmen zu ergreifen, die diese zugunsten der Gesundheit des Arbeitnehmers und Vorbeugung einer erneuten Erkrankung neu justieren. Im Moment sei eine Vervielfachung von BEM-Verfahren durch die Corona-Pandemie jedoch noch nicht zu beobachten, so Rainer Krause, Schwerbehindertenvertreter und Fallmanager beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg. Auch für Yvonne Andrecki, Gesundheitsmanagerin im Personalbereich der Landespolizei Brandenburg, ist in absehbarer Zeit keine Corona-bedingte Zunahme von wieder einzugliedernden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ersichtlich. Auch im Jobcenter Bremen hat die Pandemie laut der BEM-Beauftragten Olga Metzger nicht zu einer unmittelbaren Erhöhung der Wiedereingliederungsfälle geführt. Während einige Arbeitnehmer durch Kinderbetreuung oder die Fürsorge und Pflege Angehöriger einer hohen Belastung im Privatbereich ausgesetzt waren, führten Teile der PandemieMaßnahmen auch zu Entlastung auf beruflicher Seite. “Auf viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat 2020 entschleunigend gewirkt”, resümiert Metzger. Die Umsetzung der Hygienemaßnahmen und die ausgeweitete Möglichkeit zum Homeoffice hätten zu einer eindeutigen Terminierung von Kundenanliegen geführt. Die darin resultierende Strukturierung des Arbeitsablaufs und die Erweiterung der Kommunikationswege hätten vielfach für eine Entspannung des Berufsalltags gesorgt. Die Option der Heimarbeit werde

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Beate van Kempen leitet die Abteilung “Produktmanagement Verbundlösungen” beim LVR Infokom. Foto BS/privat

Zurückhaltung betrachtet. Das Verharren und Verweilen in alten Mustern ist nach wie vor sehr ausgeprägt. Diese Muster zu durchbrechen, ist anstrengend und daher oft sehr langwierig. Themen zu pushen – also anzutreiben, ist und bleibt ein Kraftakt. Brachiales Vorgehen führt jedoch selten zum Ziel. Wiederkehrende kleine Impulse

und Anreize zu setzen, kann hier die bessere Herangehensweise sein. Gute Dosierung, Durchhaltevermögen, viel miteinander sprechen und Geduld können am Ende zum Ziel führen. Einfach mal zu machen oder mutig einen Versuch zu starten, kann dem “Verharrungswi­ derstand” ebenfalls entgegen­ gesetzt werden. Eine dedizierte Pilotphase kann Ängste nehmen und zusätzlich dabei helfen, Schwachpunkte im Ansatz zu erkennen. Und das, bevor Dinge final umgesetzt oder eingeführt werden. Alle Beteiligten können selbst bewerten, ausprobieren und sich auf den Lösungsansatz einlassen. Ob der Ansatz trägt, wird sich in der Pilotphase zeigen. Es hilft alles nichts; als Führungskräfte müssen wir aktiv bleiben, um die Weiterentwicklungen der Organisationen immer wieder neu anzutreiben. Und das mit Mut, Offenheit und dem beschriebenen Dreiklang.

zum Ziel führen können. “Für ein gelingendes Gesundheitsund Eingliederungsmanagement muss zunächst an der Mentalität von Führungskräften angesetzt werden. Gesundheitsförderliche Maßnahmen dürfen nicht als eine Störung des Betriebsablaufs gelten”, hebt Krause hervor. Auch in der Landespolizei Brandenburg werden Entscheidungsträger in Führungskräfteseminaren in ihrer Kommunikation geschult. So sollen vertrauensvolle Mitarbeitergespräche ermöglicht wer-

Um den negativen Effekt routinierter Bewegungsabläufe zu dämpfen, ist auch der Präventionssport von Bedeutung. “Schwimmen, Nordic Walking, Rückengymnastik”, zählt Krause nur einige der Angebote des LKA Baden-Württemberg auf. Doch auch Entspannungsübungen und Yoga stehen auf der Agenda. Mit Fitnessstudio und weiteren Anlagen zum Dienstsport für alle Abteilungen ist auch die Landespolizei Brandenburg gut aufgestellt. Hier zeugt das Programm “Mental Fit” vom Wissen um die Wichtigkeit der Stabilisierung psychischer Gesundheit. Nicht zu vernachlässigen ist ebenso die Aufklärung und Schulung der Arbeitnehmer zu Themen der Gesundheit. Ein solches Angebot gibt es bei der Polizei Brandenburg mit dem Programm “Extraschicht für die Gesundheit”. Auch im Jobcenter Bremen setzt man an einem eigens dafür eingerichteten Gesundheitstag auf Kurse und Vorträge zu Ernährung, Entspannung und Resilienz. In den RoMed-Kliniken stehen darüber hinaus auch Kurse zur verbesserten Zusammenarbeit verschiedener Generationen auf

zelfällen sogar eine Umschulung vorgenommen werden. So kann eine Pflegekraft beispielsweise für die Arbeit in der KrankenhausVerwaltung geschult werden, um das Unternehmen nicht verlassen zu müssen. Dies sei jedoch aufgrund der begrenzten Anzahl von Arbeitsplätzen in der Regel mit längeren Wartezeiten verbunden und damit nicht für alle möglich, so Fischbacher. Auch das Budget ist immer wieder ein limitierender Faktor. Bei einem Arbeitnehmer in Erfahrung gebrachte Störfelder können nicht in allen Fällen unmittelbar als Präventionsmaßnahme für die Kolleginnen und Kollegen umgesetzt werden. Um ein eindeutiges Bild der Belegschaft einzufangen und allgemeine Risikofaktoren zu identifizieren, sind daher breitflächig angelegte Mitarbeiterumfragen das Mittel der Wahl. Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen habe hierbei besonderes Gewicht, wie Metzger vom Jobcenter Bremen betont. Die psychologische Unterstützung und Beratung werden dabei in den Unternehmen und Behörden unterschiedlich gehandhabt. Ob interne Psychologinnen und Psychologen, externe psychologische Fachkräfte oder die Zusammenarbeit mit Sozialpsychiatrischen Diensten: Um die psychischen Nachwirkungen der Corona-Pandemie abzufedern, wird es in jedem Fall stabile Strukturen brauchen.

Gegen den Fachkräftemangel Mit innovativen HR-Methoden zu passenden Bewerbern (BS/Yee Wah Tsoi*) Bereits heute fehlen der Einschätzung des DBB Beamtenbunds und Tarifunion nach über 300.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst. Obendrein verliert der Öffentliche Dienst aufgrund altersbedingter Austritte in den nächsten zehn Jahren ein Viertel seiner Beschäftigten. Um gegenzusteuern, müssen Arbeitgeber verstärkt auf sich aufmerksam machen und neue Möglichkeiten in der Personalsuche nutzen. Der durch den demografischen Wandel ausgelöste Fachkräftemangel bringt zahlreiche Arbeitgeber in die Bredouille. Gleichzeitig steigt der Anspruch der Berufstätigen an die Arbeitsbedingungen. Nicht der Arbeitgeber entscheidet, sondern der Kandidat.

Hauptproblem: zu wenige geeignete Bewerbungen Im Auftrag von XING E-Recrui­ting hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa im April 301 Personalentscheider in der öffentlichen Verwaltung (Kommunen und Landesbehörden) zu ihrer Arbeit befragt. Für 83 Prozent der Befragten ist die zu geringe Anzahl an geeigneten Bewerbungen die größte Herausforderung in der Personalsuche. Knapp dahinter gaben vier von fünf Befragten (80 Prozent) zu Protokoll, es seien zu wenig geeignete Fachkräfte auf dem Markt. Für 50 Prozent sind attraktivere Wettbewerber ein Hindernis. Rund jeder Dritte (34 Prozent) fand die zu hohen Gehaltsforderungen der Kandidaten herausfordernd. Ebenfalls unter den Top fünf: die geringe Standortattraktivität (28 Prozent).

Bewerbung der ­Arbeitgebermarke Als größter Arbeitgeber des Landes wartet der Öffentliche Dienst mit unterschiedlichsten Tätigkeitsfeldern auf. Dennoch tun sich Arbeitgeber in dem Bereich mit einer sinnvollen Außendarstellung schwer. Dabei gibt es zahlreiche Chancen, die Kandidatenreichweite zu erhöhen und die Qualitäten und Vorteile als attraktiver Arbeitgeber aussagekräftig darzustellen – und das zu moderaten Preisen. Neben einer standardmä-

Mitarbeitersuche über digitale Kanäle bietet beste Möglichkeiten und steigert den Recruiting-Erfolg. Foto: BS/Xing

ßigen Karrierewebseite bieten sich hierzu beispielsweise Profile auf dem Arbeitgeberbewertungsprofil kununu oder dem beruflichen Online-Netzwerk XING an.

sprachigen Raum. Der Vorteil: Sie suchen genau den Kandidaten, den Sie gerne hätten, sprechen diesen gezielt an und kommen somit Wettbewerbern zuvor.

Digitalisierung der ­HR-Prozesse als Hebel

*Yee Wah Tsoi ist Sen. Content Marketing Managerin.

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ehörden Spiegel: Sie fordern in Ihrem Positionspapier, dass die Laufbahnen in der öffentlichen Verwaltung vertikal und horizontal durchlässiger gestaltet werden sollen. Was heißt das für das bisherige Laufbahnrecht?

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“Raus aus alten Denkmustern” Ralph Brinkhaus fordert eine Staatsmodernisierung

das relativieren. Der Datenschutz ist sehr wichtig, darf aber nicht die Universalbremse für jegliche Innovationen sein. Behörden Spiegel: Wie soll die

(BS) Die Verwaltung in Deutschland soll effektiver werden. In einem Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion machen die Parlamentarier Wirtschaftlichkeit der Prozesse Vorschläge, wie dies gelingen soll. Der Bundestagsfraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus, treibt das Projekt voran und möchte alte ermittelt werden? Ralph Brinkhaus: Zunächst Strukturen aufbrechen. Die Staatsmodernisierung müsse ein Top-Projekt der nächsten Legislaturperiode sein. Die Fragen stellten Uwe Proll und Brinkhaus: Wir brauchen ein einmal möchte ich eine Lanze Bennet Klawon.

für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung brechen. Da wurde und wird nicht nur in der Krise unter schwierigen Bedingungen Überdurchschnittliches geleistet. Aber richtig ist, wir brauchen eine größere Flexibilität und Durchlässigkeit der Laufbahnen für interne und externe Veränderungen. Dies gilt auch im Hinblick auf eine erfolgsorientierte Bezahlung. Deshalb muss geschaut werden, wie das Laufbahnrecht anders gestaltet werden kann. Es geht darum, Leistungswille und Motivation der Beschäftigten langfristig zu erhalten. Mir ist wichtig, dass die Beschäftigten beim digitalen Wandel der Verwaltung mitgenommen werden. Dafür müssen wir raus aus alten Denkmustern und Fortbildung und Qualifikation in den Mittelpunkt stellen. Behörden Spiegel: Was bedeutet das konkret?

ein Beispiel geben, wann diese Teams eingesetzt werden sollen? Brinkhaus: Im Bereich IT und Digitalisierung müssen die Ressortstrukturen dringend aufgebrochen werden. Es wird zwar immer gesagt, dass wir eine Digitalministerin oder einen Digitalminister brauchen. Aber wenn kein Durchgriffsrecht bei anderen Ministerien vorhanden ist, was z. B. Schnittstellen angeht, nützt ein Digitalminister wenig. Ein weiteres wichtiges Politikfeld in der nächsten Legislaturperiode wird der Bereich Wohnen sein. Dies ist ein Querschnittsthema – aus Bau, Verkehr, Informatik, Recht, Ökologie, Finanzierung und Steuerrecht. Da helfen dann mehr projektorientierte Herangehensweisen mit interdisziplinären Teams. Die dann aber nicht nur beraten und vorbereiten, sondern auch umsetzen.

Behörden Spiegel: Welchen Brinkhaus: Das Laufbahnrecht Stellenwert nimmt die Digitaliist nicht immer hilfreich, wenn es sierung bei der Modernisierung zum Beispiel darum geht, Schlüs- des Staates ein? selstellen zu besetzen – z. B. im Brinkhaus: Da wird in einigen IT-Bereich. Dort haben wir Leute, die herausragend sind, aber nicht Bereichen richtigerweise schon über die formalen Voraussetzun- etwas getan. Aber es muss mehr gen für einen Aufstieg verfügen. In werden und es muss schneller geder Cyber-Sicherheit z. B. werden hen. Die Digitalisierung besteht ja Leute gebraucht, die jetzt nicht aus vielen Mosaiksteinen. Neben den klassischen Ausbildungsweg Infrastruktur, Rechenzentren, beschritten haben. Das gilt auch Datenbeständen und Schnittfür viele andere Bereiche. Wenn stellen ist die Digitalisierung diese Menschen von Prozessen dann immer an der wichtigste “Einfach nur “digital die Decke stoPunkt. Das ßen, weil sie bedeutet, dass first” bringt uns nicht nicht über die Verwaltungsweiter.” prozesse anformalen Quaders modelliert lifikationen verfügen, ist das ein Problem. und gedacht werden müssen. Akademische Abschlüsse sind Es reicht nicht aus, einfach den wichtig, sollten aber auch nicht analogen Prozess in irgendeine überbewertet werden. Es sollte digitale Form zu pressen. Einfach beim Aufstieg daher nicht nur nur “digital first” bringt uns nicht die formale Qualifikation zählen. weiter. Wir müssen deshalb auf Kreative Personalpolitik wird der eine weitere Sache achten: Wenn absolute Schlüssel für die Qua- die Prozesse neu gestaltet werden, lität der Verwaltung in der Zu- müssen wir die Prozesse vom kunft sein. Wir werden in einem Kunden – also vom Bürger – her Wettbewerb um die besten Köpfe denken. Momentan denken wir noch in stehen. Deswegen brauchen wir mehr Flexibilität. Das bedeutet Budgeteinheiten. Verwaltung ist nicht, dass jemandem etwas weg- nach den politischen Strukturen genommen wird, sondern dass aufgebaut, wird aber zu wenig wir anders agieren müssen. Dies vom Bürger und den Unternehist aber nicht der einzige Aspekt. men her gedacht. Dem Bürger Denn wir brauchen auch einen ist letztlich egal, ob Bund, Land viel größeren Austausch zwischen oder Kommunen für die Verwalden Ministerien untereinander, tungsdienstleistung verantwortzwischen den Bundesinstitutio- lich ist oder wer was finanziert. nen, innerhalb der föderalen Ebe- Er will auch in der Praxis einen nen sowie innerhalb der einzelnen gemeinsamen ersten KontaktGeschäftsbereiche. Das heißt, punkt haben. Und genau das dass wir einen offenen Personal- können wir mit der Digitalisiepool für den Bund benötigen und rung von Verwaltungsprozessen die besten Leute dort einsetzen, zum Beispiel im Rahmen des wo sie gebraucht werden. Unab- Online-Zugangsgesetzes erreihängig davon, welches Haus sie chen. Die Digitalisierung von eingestellt hat. Prozessen heißt für mich: Das, was eine Maschine machen kann, Behörden Spiegel: Dies hieße soll eine Maschine machen. Bemehr Projektarbeit? deutet das, dass aufgrund der Digitalisierung Arbeitsplätze Brinkhaus: Absolut. Die zeit- abgebaut werden? Nein, eben gemäße Organisationsstruktur nicht. Menschen sollen sich mit geht weg vom Silo und hin zur den Dingen beschäftigen, bei deMatrix. Natürlich bleiben dabei nen sie gebraucht werden. Also die einzelnen Häuser bestehen weniger Routinetätigkeiten und und wir haben weiterhin eine mehr individuelle Beratung oder Linienverantwortung. Denn die Kreativität. Im Übrigen werden alltäglichen Aufgaben müssen wir schon deswegen digitalisieauch weiterhin zuverlässig erle- ren müssen, weil wir mit den digt werden. Doch diese Struk- Ausscheiden der Babyboomer tur müssen wir da, wo es Sinn aus der Verwaltung erhebliche macht, mehr mit interdisziplinä- Schwierigkeiten bekommen, geren Projektteams durchbrechen. nügend gutes Personal zu finden. Die Teammitglieder können aus Das gilt im Übrigen nicht nur für mehreren Häusern stammen, da- die Verwaltung. mit für jedes Projekt der passende Sachverstand verfügbar ist. Behörden Spiegel: Juristen dominieren häufig das Bild in den Behörden Spiegel: Können Sie Ministerien. Brauchen wir mehr

Pluralität vom Berufsbild her im Öffentlichen Dienst? Brinkhaus: Es kommt auf die Mischung an. Wir haben in Deutschland eine sehr gute Juristenausbildung. Juristen können auch für viele Aufgaben eingesetzt werden. Doch brauchen wir für bestimmte Fragen andere Leute, die einen grundlegend anderen Ansatz haben, Probleme zu lösen. “Kreative” waren bisher nicht so häufig in der Verwaltung anzutreffen. Es würde aus meiner Sicht nicht schaden, mehr Marketingleute oder auch Linguisten einzustellen, damit die Gesetzestexte verständlicher werden. Da geht heute schon einiges – das könnte aber noch vielfältiger werden. Behörden Spiegel: Was muss sich sonst noch ändern? Brinkhaus: Worüber wir auch noch sprechen müssen, ist der Wechsel zwischen Verwaltung und Wirtschaft und die Möglichkeit, Altersversorgungsansprüche zu erhalten. Dies ist ein sehr wichtiges Thema, bei dem wir Schranken und Vorbehalte abbauen sollten. Ich würde mir wünschen, dass mancher Topmanager öfter sagt: “Ich möchte vier Jahre meinem Land dienen und etwas zurückgeben” – und danach wieder den Weg in die Wirtschaft zurückgeht. Dies ist in anderen Ländern gute Praxis, in Deutschland gibt es da immer noch Vorbehalte. Auf der anderen Seite könnte es manchem Unternehmen gut tun, wenn jemand aus der Verwaltung neue Ideen und neue Ansätze in den wirtschaftlichen Bereich einbringt. Behörden Spiegel: Was soll in der nächsten Legislaturperiode passieren? Brinkhaus: Ich erwarte drei Top-Projekte von der nächsten Bundesregierung. Eines dieser Projekte muss die Staatsmodernisierung sein. Die anderen Projekte sind der Kampf gegen den Klimawandel und die Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Arbeitsplätze in Deutschland. Diese Projekte sollen Chefsache sein. Der Bundeskanzler muss sich selbst dahinterklemmen und die Projekte vorantreiben. Keine Frage, wir wollen die Mitarbeiter mitnehmen. Und das ist bei organisatorischen Veränderungen zuerst einmal Führungsaufgabe. Behörden Spiegel: Braucht es eine neue Föderalismusreform? Brinkhaus: Der Begriff Föderalismuskommission ist vorbelastet, deswegen würde ich ihn nicht nutzen. Was wir brauchen,

Prozess ausführt. Es kommt auf die Prozessqualität “Wir brauchen eine größere Flexibilität und an. Sie kann aus dem Kernbereich Durchlässigkeit des Öffentlichen Dienstes oder der Laufbahnen für auch extern erinterne und externe bracht werden. Veränderungen.” Ausnahme ist natürlich die Eingriffsverwaltung. Das heißt im Ralph Brinkhaus, CDU/CSUBundestagsfraktionsvorsitzender, Übrigen natürerwartet in der nächsten Legislaturlich nicht, dass periode drei Top-Projekte. Eines soll privat automadie Staatsmodernisierung sein. tisch besser ist. Da fallen mir eiFoto: BS/Thomas Imo nige Beispiele ein, bei denen privat ist eine klare Zuordnung von Auf- überhaupt nicht geklappt hat. gaben und Finanzen. Erst kommt Die Frage ist deswegen vielmehr, die Aufgabe. Der Aufgabe folgt wer die größtmögliche Qualität das Geld. In der Vergangenheit liefert – der soll es machen. wurde zu oft nach der Zuordnung Behörden Spiegel: Wie könvon Aufgaben und Mitteln noch zusätzliches Geld vom Bund ver- nen die Vorbehalte gegen diese langt. Damit sollten wir Schluss technischen Lösungen und den Einsatz von KI abgebaut werden? machen. Behörden Spiegel: Wie stehen Sie zu Kooperationen mit Dritten im Öffentlichen Dienst? Brinkhaus: Genauso positiv wie zu Kooperationen zwischen öffentlichen Stellen. Der öffentliche Bereich muss sich als Prozesseigner sehen. Die Prozesse in der Verwaltung müssen im Sinne des Bürgers erfüllt werden. Der Bürger vertraut darauf, dass dieser Prozess auch vernünftig verläuft. Ihm ist es aber egal, wer diesen

Brinkhaus: Es ist eine Balance nötig, wenn es um personenbezogene Daten geht. Diese müssen wir bestmöglich schützen, dann entsteht Vertrauen. Aber wir dürfen die sinnvolle Nutzung von Daten in der Verwaltung nicht unterbinden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass über dem unveränderbaren Kern des Grundgesetzes und den Menschenrechten noch ein Superrecht steht. Dies ist der Datenschutz. Dort müssen wir noch mal ran und

anderes Verständnis vom Bundeshaushalt. Beispielsweise kann ein Produkthaushalt für mehr Eigenverantwortung und Transparenz sorgen. Das schafft einen entsprechenden Druck, wirtschaftlich zu handeln. Doch es gibt noch ein weiteres Problem und dies ist die größere Herausforderung: Öffentliche Verwaltung steht selten im Wettbewerb. Während in der Wirtschaft die Vergleichbarkeit von verschiedenen Anbietern ein Marktregulativ ist, gibt es trotz einiger Anstrengungen zu wenig Vergleichbarkeit in der öffentlichen Verwaltung. Wir müssen uns überlegen, wie wir da Marktelemente reinbringen. Über Kennzahlen können wir hier mehr Vergleichbarkeit erreichen. Über interne Evaluationsverfahren kann der jeweilige Hoheitsträger feststellen, wo die eigene Verwaltung bei der Transformation und Digitalisierung steht. Die Fragen könnten lauten: Wie läuft die Verwaltung in NRW und wie in Bayern? Wie viel Geld wird für eine Verwaltungsleistung aufgewendet und warum ist das so? Abweichungen können immer individuelle Gründe haben, aber jede Verwaltung muss Rechenschaft über ihre Leistungsfähigkeit ablegen können. Dazu muss die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Verwaltungen auf allen Ebenen ermittelt und verglichen werden. Dieser Vergleich ist durchaus in unserem Wettbewerbsföderalismus und im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen und sollte stärker gelebt werden.


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ehörden Spiegel: Herr Gehlen, sie sind im November 2020 vom Bundeshauptvorstand des VBOB als Bundesvorsitzender gewählt worden. Was haben Sie sich bis zum nächsten Bundesvertretertag im Juni 2022 auf die Agenda gesetzt?

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Vorhandenes Wissen wird nicht genutzt Frank Gehlen zieht Bilanz im Dienstrecht und übt Kritik

(BS) “Was da in der politischen Debatte passiert und durch die Verwaltungsreform angestoßen werden soll, ist nicht seriös!”, sagt Frank Gehlen, Bundesvorsitzender der VBOB – Gewerkschaft Bundesbeschäftigte über die Vorschläge zur größten Verwaltungsreform. Im Gespräch mit dem Behörden Spiegel erläutert er die neue Schwarmintelligenz, warum das Dienstrecht nicht weiterentwickelt wurde, wo es ein Systemversagen der Gehlen: Ich möchte vor allem Bundesregierung gegeben hat, wie eine Verwaltungsreform gelingen kann und was er für die nächste Legislatur erwartet. Die Fragen stellte Jörn eine eigene Marke platzieren, die Fieseler. nach innen und nach außen sehr kommunikativ angelegt ist. Intern sollen sich nicht nur unsere Funktionäre aus den Vorständen und Personalräten, sondern auch unsere Mitglieder in die Diskussionen und Arbeitsgruppen einbringen, damit aus den Themen Positionen der Gewerkschaft werden. Diese werden anschließend nach außen kommuniziert. Künftig fußen die Positionen somit auf der Schwarm­intelligenz der Gewerkschaft. Dazu machen wir anlässlich unseres 70-jährigen Jubiläums eine monatlich stattfindende Veranstaltungsreihe. Wir diskutieren online insgesamt zwölf gewerkschaftliche Themen, zum Beispiel Homeoffice und Arbeitsschutz, wo sich die Mitglieder in die Diskussionen einbringen können. Das Format wird sehr gut angenommen, der Austausch ist enorm. Für mich ist das ein neuer Pfad der Gewerkschaftsarbeit, den ich als Vernetzung in der Aktion bezeichne. Zudem spiegelt es unser Motto wider: “Nähe ist unsere Stärke.” Behörden Spiegel: Das BPersVG ist in Kraft getreten. Sind sie mit der Novellierung zufrieden?

anderen Gewerkschaft. Aber bei einer Behörde mit 47 Dienstsitzen muss es für die Personalratsarbeit digitale Arbeitsmethoden geben, wie Sitzungen per Videokonferenz.

Gehlen: Ich bin skeptisch, ob es dazu kommt. Dazu bräuchte es größte Bewegung im BMI. Wir müssen uns fragen, was sind im 21. Jahrhundert die Themen, bei denen die Beschäftigten Mitspracherechte haben möchten. Als VBOB möchten wir das gemeinsam antizipieren. Doch so weit kommen wir momentan nicht. Aber genau das ist unsere Forderung. Wir sind willens, über Ansprüche der künftigen Generationen zu diskutieren. Aber wir haben Beharrungskräfte auf der Arbeitgeberseite und auch bei der anderen Gewerkschaft.

Gehlen: Überhaupt nicht. Das Gehlen: Das ist nach dem ist keine Novelle, sondern nur das Heilen des Bestehenden. Trotz BPersVG für mich ein weiteres der Ansage von Bundesminis- Beispiel für das Systemversater Horst Seehofer auf der DBB- gen dieser Bundesregierung. Die Reform Jahrestagung in Köln 2020 des Familien“Künftig fußen die haben wir im zuschlags in VBOB gemerkt, Positionen somit auf der Verbindung mit dass es wenig Schwarmintelligenz der einem ErgänInteresse im zungszuschlag Gewerkschaft.” Bundesinnenausgerichtet ministerium am Wohnort (BMI) an dieser Aufgabe gegeben der Beschäftigten ist durch hat. Alle Punkte, bei denen es höchstrichterliche RechtspreDiskussionsbedarf gab, wurden chung notwendig. Trotzdem im Vorfeld herausgenommen. kommt sie nicht. Im noch gültiAber bei Veränderungen wird gen Koalitionsvertrag heißt es, es immer einen Diskurs geben. das Dienstrecht soll weiterentWenn sich das BMI als Partner wickelt werden. Das wurde nach von Gewerkschaftsarbeit so ver- Kräften verhindert. Das ist kein hält, dann verlieren wir die Ba- wertschätzender Umgang mit den sis für eine partnerschaftliche Beamten. Und dass am Ende die Zusammenarbeit. Diese Gefahr SPD die Regelung aus wahltaktisehen wir. Deshalb haben wir schen Überlegungen verweigert, uns beim BPersVG intern sehr schlägt dem Fass den Boden aus. schnell darauf verständigt, we- Bei dieser Entscheidung geht nigstens die digitalen Mittel für es um Macht und nicht um die die Personalratsarbeit in dieser Verantwortung des Staates geLegislatur zu regeln. Übrigens genüber seinen Bürgerinnen und auch gegen den Widerstand der Bürgern und seinen Beamtinnen

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ie Berufswahl genau wie der Bewerbungsprozess sind ohnehin aufregende Phasen für junge Menschen, eine weltweite Pandemie wie in den letzten Monaten verkompliziert die Situation zusätzlich. Wie findet man die richtige Arbeitsstelle, wenn man sich nicht zum persönlichen Kennenlernen treffen kann? Und kann eine Ausbildung auch im Homeoffice stattfinden?

Öffentlicher Dienst punktet bei Azubis Wer jedoch davon ausgeht, dass die künftigen Azubis sich von den besonderen Umständen verunsichern lassen, behält nur teilweise Recht. Zwar beeinflusst Corona die Berufsentscheidung, eine allgemeine Verunsicherung lässt sich bei den Bewerberinnen und Bewerbern jedoch nicht beobachten. Im Gegenteil: Was den Öffentlichen Dienst angeht, sehen Bewerber sich sogar in ihrer Berufswahl bestärkt. Aus den “Azubi-Recruiting Trends 2021”, einer Studie von u-form Testsysteme GmbH & Co. KG, geht

Behörden Spiegel: Welche Rolle sehen Sie für den VBOB darin?

Behörden Spiegel: Muss das BPersVG in der nächsten Legislatur erneut auf die Agenda?

Behörden Spiegel: Vor Kurzem ist im Bundestag das Besoldungsanpassungsgesetz 2020/2021 verabschiedet worden. Was sagen Sie dazu, dass es beim Familienzuschlag keine Einigung gab?

“Die Probleme liegen doch nicht auf der Verwaltungsebene, sondern bei den politischen Entscheidern und den Parlamenten”, unterstreicht Frank Gehlen, VBOB-Bundesvorsitzender (rechts), im Gespräch mit Jörn Fieseler, Leiter der Berliner Redaktion des Behörden Spiegel.

Foto: BS/Anne Hoffmann, VBOB

und Beamten. Bleibt zu hoffen, dass es in der nächsten Legislatur zu einer Neuregelung kommt. Behörden Spiegel: In der nächsten Legislatur könnte es auch zu einer großangelegten Verwaltungsreform kommen. Die Vorschläge von Ralph Brinkhaus (siehe Seite 5) und anderen Abgeordneten der CDU-/CSUBundestagsfraktion stehen zur Diskussion. Wie ist ihre Meinung zu dem Thema? Gehlen: Was da in der politischen Debatte passiert und durch die Verwaltungsreform angestoßen werden soll, ist nicht seriös! Die Probleme liegen doch nicht auf der Verwaltungsebene, sondern bei den politischen Entscheidern und den Parlamenten. Nehmen sie zum Beispiel die Pandemie. Die Bürgerinnen und Bürger wollen, dass wir schnell durch die Pandemie kommen. Wer dafür zuständig ist, interessiert sie kaum. 2012 haben wir das Szenario der Pandemie durchgespielt. Jetzt erleben wir es. Doch in den acht Jahren dazwischen ist absolut nichts passiert. Die Politik bekommt aus der Verwaltung das Wissen aufberei-

tet und geliefert. Aber sie lernt nicht, das vorhandene Wissen zu nutzen. Mehr noch: Sie hat in den letzten zehn Jahren fehlerhafte Entscheidungen getroffen. Die Leitung eines Gesundheitsamtes hat keine Stellen abgebaut. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist die Aussage vom neuen Präsidenten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, das Amt komplett neu aufzustellen. Damit erkennt er immanent an, dass aus 2012 nichts gelernt wurde und dass es eine Frage der Neuregelung von Zuständigkeit ist. Behörden Spiegel: Aber ist es nicht immer eine Frage der Zuständigkeit? Gehlen: Ja. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob wir das richtige Grundlagenwissen haben. Wenn der Föderalismus sakrosankt ist, aber Verwaltung dringend modernisiert werden muss, ist schon der erste Bordstein überfahren worden. Es muss viel mehr in Prozessen gedacht und dieses Denken ins Verwaltungsmanagement integriert werden. Das ist nicht der Fall und führt

dazu, dass es eine Veranlagung zu Fehlentwicklungen gibt. Behörden Spiegel: Was meinen Sie damit?

Azubi-Recruiting in Pandemiezeiten (BS/Ann Kathrin Herweg) Videokonferenzen, Chats und Homeoffice. Wie so vieles hat Corona auch die Arbeitswelt auf den Kopf gestellt und selbst die erfahrensten Arbeitgeber wie Arbeitnehmer vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Wie verwirrend muss solch eine Situation erst für junge Menschen sein, die auf der Suche nach einer Ausbildung sind? Insgesamt ist es trotz Corona rund zwei Dritteln aller Bewerberinnen und Bewerber leichtgefallen, sich für einen Ausbildungsplatz zu entscheiden und etwa genauso viele haben einen Ausbildungsplatz in ihrem Wunschberuf gefunden. Doch bevor es soweit ist, müssen auch während der Pandemie zunächst Bewerbungsgespräche geführt werden. Viele Ausbildungsbetriebe sind dazu auf das Kennenlernen per Video-Interview umgestiegen. Obwohl die junge Generation der Bewerberinnen und Bewerber viel Zeit online verbringt und schon vor der Pandemie verbracht hat – von dieser Veränderung ist sie nicht überzeugt. Fast 90 Prozent der Befragten würde ein persönliches Vorstellungsge-

spräch dem Video-Bewerbungsgespräch vorziehen. Grund dafür ist allem voran die Sorge, sich dort nicht so gut präsentieren zu können wie bei einem Treffen vor Ort, hinzu kommt die Angst vor Verbindungsproblemen während des Gesprächs.

Azubis im Homeoffice Einigen fehle laut eigener Aussage zudem, dass man sich kein Bild von der Arbeitsumgebung machen und Mitarbeitende treffen könne. Die Einschätzung der Ausbildungsverantwortlichen weicht hier deutlich von der der Bewerbenden ab. Knapp die Hälfte der Befragten glaubt, Bewerberinnen und Bewerber im Video-Interview genauso gut kennenzulernen wie bei einem Präsenztreffen und möchte auch

Gehlen: Gewerkschaften sind Partner, die zum Dialog bereitstehen. Sie sind nicht per se innovationsfeindlich aufgestellt. Auch der VBOB nicht. Wir sind die Sprecher der Belegschaften. Und diese verfügen über die Erfahrungen. Man darf in diesem Kontext nicht glauben, dass externer Sachverstand von außen automatisch zu Verbesserungen in der Verwaltung führt. Anstatt externe Berater einzusetzen, sollten zu Beginn der neuen Legislaturperiode innerhalb der Verwaltung weisungsfreie Kapazitäten bereitgestellt werden. So lassen sich die Felder identifizieren und mittels selbstorganisierten Gesprächen Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Auf diese Weise bekommt man valide Ergebnisse, auf denen man aufbauen kann. Hätte man diesen Prozess nicht so lange aufgeschoben, wäre man heute schon viel weiter. Aber für eine solche Aufgabenkritik fehlt das Bewusstsein. Hier haben wir noch eine Menge Potenzial. Auch unter Hinzunahme der Schnittmenge von Politik und Verwaltung.

Gehlen: Der Deutsche Bundestag hat in dieser Legislatur über Behörden Spiegel: Was wün400 Gesetze verabschiedet. Damit schen Sie sich für die nächste ist das Parlament fertig, der Pro- Legislatur? zess jedoch nicht. Diese Gesetze Gehlen: Ich wünsche mir von führen zwangsläufig zu weiteren Änderungen von Verwaltungsvor- allen demokratischen Parteien schriften oder Landesgesetzen. einen seriösen Umgang mit den Und so diffundiert das System Beschäftigten in der Bundeszu einem Zustand permanenter verwaltung und dass wir mehr Veränderung und Instabilität. Die“Wenn der Föderalismus sakrosankt se Veränderungen ist, aber Verwaltung dringend lassen sich den Bürgerinnen und modernisiert werden muss, Bürgern nicht verist schon der erste Bordstein mitteln. Dadurch überfahren worden.” gewinnen diese den Eindruck, die Verwaltung sei nicht leistungsfähig, ineffizient Klarheit in die Vorbereitungsphaund kompliziert. Doch das Ge- se politischer Entscheidungen genteil ist der Fall. Die Verwal- bekommen. Und ich wünsche tung dient der Gesellschaft auf mir, dass der VBOB als Partner höchstem Niveau. und Vertreter der Beschäftigten Allerdings heißt das nicht, dass einbezogen wird. Wir sind die die Verwaltung nachts um halb Fachgewerkschaft der Bundesdrei zum Beispiel ein Kfz zulas- verwaltung bei allen Themen, die sen muss. Natürlich lässt sich die Bundesverwaltung betreffen.

Bewerbungsgespräch im eigenen Wohnzimmer

hervor, dass sich die jungen Menschen, die sich für eine Karriere im Öffentlichen Dienst interessieren, einen Beruf wünschen, der auch in Pandemiezeiten Bestand hat. Während eine Ausbildung im Gastronomiebereich z. B. eher unsicher erscheint, punktet der Öffentliche Dienst bei möglichen Azubis mit einer sicheren Zukunftsperspektive. Die Arbeit hier sei – unabhängig von äußeren Umständen – nicht durch Insolvenzen gefährdet und nach einer Ausbildung im Öffentlichen Dienst bestehe die Hoffnung, hier immer wieder eine Stelle zu finden, bestenfalls sogar verbeamtet zu werden. Eine stabile Existenzgrundlage sei wichtig, um ein weitgehend sorgenfreies Leben zu führen, lautet ein Statement aus der Umfrage.

das technisch lösen. Mir geht es aber nicht nur um den Service für die Bürgerinnen und Bürger, sondern um die systemische Vorsorge in der Verwaltung. Die kommt zu kurz. Deshalb müssen wir uns fragen, was soll die Verwaltung leisten? Und welche Prozesse sind dafür notwendig? Das ist Aufgabenkritik und die wiederum ist eine gesellschaftliche Debatte, die wir unbedingt führen müssen.

nach Corona weiterhin Bewerbungsgespräche per Videotelefonat führen. Nicht nur der Bewerbungsprozess hat sich durch die Pandemie verändert, auch die Ausbildung an sich musste umstrukturiert werden. Mehr als die Hälfte der befragten Auszubildenden hat einen Teil der Ausbildungszeit im Homeoffice verbracht. Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen waren auf diese Entwicklung nicht vorbereitet, viele denken nun aber darüber nach, größere ELearning-Lösungen einzuführen. Ein wesentlicher Vorteil ist die Möglichkeit, zeit- sowie ortsunabhängig und im eigenen Tempo lernen zu können. Auch dass Aufgaben wiederholt werden können, nehmen die Befragten als sehr positiv wahr.

Weitere Aspekte, die den Auszubildenden im Öffentlichen Dienst am digitalen Lernen besonders gut gefallen, sind z. B., dass man in der gewohnten Umgebung lernen und in Ruhe arbeiten könne und dass man nirgendwo hinfahren und Benzin verbrauchen müsse. Die Erwartungen, die die jungen Menschen wie auch ihre Betreuerinnen und Betreuer an E-Learning-Portale stellen, variieren. Besonders häufig wünschen sich Auszubildende direktes Feedback vom Ausbildenden bzw. vom Lehrpersonal sowie mehr Interaktion zwischen den Teilnehmenden. An der Gestaltung konkreter E-Learning-Möglichkeiten wird vielerorts noch gearbeitet und so sieht das Zwischenfazit der Auszubildenden durchwachsen aus. 28 Prozent bewerten ihre Homeoffice-Erfahrungen für die Ausbildung als negativ, 31 Prozent bewerten sie als positiv und etwa zwei Drittel wünschen sich, dass die Ausbildung im Homeoffice auch nach der Pandemie gesetzlich zugelassen ist.


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ehörden Spiegel: Nach Ende des zweiten Weltkriegs gab es Entschädigungsnotwendigkeiten von deutscher Seite. 1956 kam es zum BEG, welches durch die Länder exekutiert wurde. Wie ist das gelaufen und wie war diese Aufgabe der Länder organisiert?

Radermacher: Zunächst konnte man sich in der Regierung nur schwer mit dem Thema auseinandersetzen, möglicherweise auch es zur Chefsache erklären. Nach langen Mühen und gegen Widerstände wurde 1956 ein Entschädigungsgesetz erlassen. So rührte zum Beispiel der Widerstand aus einem Teil der jüdischen Gemeinde aus dem Gedanken, das Geschehene könne man gar nicht entschädigen. Es könne nicht sein, dass sich die Deutschen damit “freikaufen”. Nachvollziehbar, denn wieviel ist eine zerstörte Kindheit “wert”? Wieviel eine verlorene Familie? Somit ist das BEG dann erst 1956, also elf Jahre nach Kriegsende, rückwirkend zum Oktober 1953 in Kraft getreten. Es war der Versuch, zu “entschädigen”. Das Gesetz nennt in Paragraf 1 klare Gründe, nämlich Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen. Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen sowie im beruflichen wie im wirtschaftlichen Fortkommen sollten ersetzt werden. Die Vorgänge liefen als erstes über die jeweiligen Landesrententräger. Die Bezirksregierung Düsseldorf hat dann in Rechtsnachfolge der Landesrentenanstalt NRW die Aufgabe der Entschädigung übernommen. Behörden Spiegel: Die Diskussionen um das BEG gingen auch danach weiter. Zum Beispiel tauchten weitere Betroffenengruppen auf, wie Sinti und Roma, aber auch Homosexuelle. Wie wurde mit der neuen Situation umgegangen? Radermacher: Diese Betroffenen waren in den ersten Überlegungen nicht berücksichtigt worden. Das BEG gewährte nur Entschädigungen, wenn bis 1969 ein Antrag gestellt wurde. Weder Anfang der 50er-Jahre noch 1969

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ine der Karten in beiger Farbe hat das Aktenzeichen 20.702. In alter Schreibmaschinenschrift steht geschrieben “Name des Verfolgten: Dr. Adenauer, Vorname: Konrad”. Die nächsten beiden Karteikarten mit den Nummern 151.421 und 151.422, diesmal in verblasstem rot. Es geht um einen Menschen, der in Princeton in den USA lebte, sein Name: Albert Einstein. Die zweite Akte bezieht sich auf seine zum Zeitpunkt der Antragsstellung bereits verstorbene Ehefrau Elsa. Alle drei Personen erhielten Entschädigungen nach dem BEG. Nicht verzeichnet auf den Karteikarten ist jedoch, welche Art von Entschädigungen gezahlt wurden.

Sehr viel Einfühlungsvermögen gefragt Bezirksregierungspräsidentin Radermacher über Entschädigungen nach dem BEG (BS) Entschädigungen für Verbrechen und Verfolgung, welche Menschen während der NS-Zeit erfahren haben, waren für die Deutschen lange kein einfaches Thema. Dies wurde im Gespräch mit Birgitta Radermacher, Regierungspräsidentin der Bezirksregierung Düsseldorf, deutlich. Die Bezirksregierung ist für die noch laufenden Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zuständig. Die Fragen stellte Uwe Proll. waren diese Menschen im Fokus. Noch 1957 hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass Sinti und Roma nicht aufgrund “rassischer Gründe”, sondern wegen ihrer angeblich “asozialen Eigenschaften” verfolgt worden seien und deshalb nicht entschädigt werden müssten. Das Thema Homosexualität ist erst 1973 aus Im Kontext der Arbeit zum Bundesentschädigungsgesetz gehe es um ausgesprochen dem Strafgesetzsensiblen Schriftverkehr und auch sensible buch gestrichen Telefonate, erzählt Bezirksregierungspräsiworden und insodentin Birgitta Radermacher im Gespräch fern hat man sich mit dem Behörden Spiegel. auch dann erst mit diesen Betroffenen Foto: BS/Matthias Lorenz beschäftigt. Nordrhein-Westfalen hat dann einen sogenannten Härtefallfonds aufgelegt, um diese Menschen Das Thema Entschädigung war gleichwohl noch entschädigen schließlich auch viel mehr als zu können. Der Härtefallfonds nur eine Frage des “ Geldes”. ist ebenfalls hier in der Bezirks- Es galt, sich die NS-Zeit als Teil regierung abgearbeitet worden. der eigenen Geschichte bewusst Es gab ein Gremium, in dem sich zu machen; sich die Schuld – auch die Vertreter beispielsweise möglicherweise die eigene und der Sinti- und Roma-Verbände, auf jeden Fall die des Deutschen aber auch der jüdischen Orga- Volkes – einzugestehen und zur nisationen wiederfanden. Vertre- Verantwortung zu stehen. Zuten waren auch Fachleute sowie nächst wurde oft gesagt: “Wir die Politik durch Vertreter des haben nichts gewusst, wir haben Landtags. Insofern war dieses nichts wahrgenommen.” Wenn Gremium sehr divers besetzt und man sich dann mit den Schickhat auch durchaus kontrovers salen beschäftigt, muss man sich diskutiert. Inzwischen sind die zwangsläufig eingestehen, dass Anträge aus dem Härtefallfond diese Aussagen – jedenfalls in wirklich rückläufig, 2019 hatten ihrer Absolutheit – nicht stimmen wir drei Neuanträge, 2020 gar können. Man muss sich fragen: keinen. “Was hätten wir verhindern können?” Es brauchte also ein völBehörden Spiegel: Die Vorgän- liges Umdenken von Menschen, ge, gerade das BGH-Urteil von die während der NS-Zeit gelebt 1957, wirken aus heutiger Sicht haben, die diesen fürchterlichen natürlich schon unverständlich. Krieg überlebt haben und Mitwisser, vielleicht sogar Mittäter waRadermacher: Das stimmt. ren. Darüber hinaus ging es der

“Die Leben hinter den Akten haben niemanden unberührt gelassen.”

Bundesrepublik zur damaligen Zeit finanziell schlecht, es gab viel wirtschaftliche Not im eigenen Land. Ein Teil der deutschen Gesellschaft sah sich ebenfalls als Opfer der NS-Zeit. Behörden Spiegel: Welche Herausforderungen gibt es in Zusammenhang mit der Arbeit, die durch das BEG anfällt? Radermacher: Zunächst brauchte man sehr detaillierte Sprachkenntnisse; die Antragstellenden lebten und leben in der ganzen Welt verstreut. Sie können sich vorstellen, dass es um ausgesprochen sensiblen Schriftverkehr geht und auch sensible Telefonate geführt wurden (siehe hierzu auch den Artikel auf dieser Seite). Dazu kamen sowohl juristische als auch medizinische Gutachten, die verstanden und verständlich gemacht werden mussten und es ging immer um

Menschenleben, die zerstört wurden, um Schicksale. Die Sprachbarriere war deswegen noch mal ein Stückchen höher, weil die erlebten und erfahrenen Sachverhalte schon in der Muttersprache schwer zu beschreiben waren und die deutsche Sprache für die Betroffenen keine Alternative darstellte. Wie Sie sich vorstellen können, setzt das nicht nur große Kenntnisse bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern voraus, sondern auch sehr viel Einfühlungsvermögen. Natürlich gab es Unterstützung im Dezernat durch Dolmetscher und Ärztinnen, wegen der ärztlichen Gutachten für Rentenansprüche – die “Leben hinter den Akten” haben niemanden unberührt gelassen. Behörden Spiegel: Wie groß sind die Entschädigungen im Einzelfall gewesen und wie hoch sind die Volumina insgesamt?

Wiedergutmachung? Bewegende Einzelschicksale und die Problematik eines Wortes (BS/Matthias Lorenz) Die Karteikarten sind alt, farblich zum Beispiel in dunklem Beige oder verblasstem Rot. 2,5 Millionen von ihnen lagern in der Bundeszentralkartei (BZK), die das Land Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Bundes und der Länder bei der Bezirksregierung Düsseldorf führt. Die BZK ist das Register aller Entschädigungsverfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG), welches für geschehenes Naziunrecht entschädigen sollte (siehe Interview auf dieser Seite). Jede der Karteikarten ist dabei ein Hinweis auf ein bewegendes Einzelschicksal. me wolle nicht, dass die Familie und insbesondere das Kind von der Vergewaltigung erfahren. Als der Dame zugesichert worden sei, die Akte zu anonymisieren und Seiten, die auch nur etwaige Rückschlüsse auf ihre Person zuließ, zu schwärzen, sei sie zu Tränen gerührt gewesen. “Letztendlich geht es um Menschen und um Menschenleben, die zerstört wurden, die auf jeden Fall anders verlaufen sind, als sie ohne die Verfolgung durch die Nazis verlaufen wären”, so Radermacher.

Zu Tränen gerührt Auch der Anerkennungsgrund ist nicht immer aus den Karteikarten ersichtlich. Die Karte des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik führt zwar mehrere Anerkennungsgründe auf, beispielsweise “rassisch Verfolgter”, “religiös Verfolgter” oder “politisch Verfolgter”. Doch der zutreffende Grund ist in Adenauers Karteikarte nicht unterstrichen. Die BZK kann somit lediglich Auskünfte darüber erteilen, ob eine bestimmte Person bei einer Entschädigungsbehörde in der Bundesrepublik einen Antrag nach dem BEG gestellt hat und unter welchem Aktenzeichen das Verfahren geführt wurde. Nähere Informationen gibt es in der eigentlichen Akte.

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“Unerträglich verharmlosend”

Kopien der Karteikarten von Konrad Adenauer, Albert Einstein und Elsa Einstein. Die Kopien wurden von der Bezirksregierung Düsseldorf zur Verfügung gestellt. Foto: BS/Matthias Lorenz

Trotzdem bekommen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bezirksregierung allerhand bewegende Einzelschicksale mit. Die Regierungspräsidentin der Bezirksregierung Düsseldorf, Birgitta Radermacher, berich-

tet in diesem Zusammenhang von einem Telefonat: “Eine Dame, die in der BZK zu finden ist, hat bei uns angerufen und darum gebeten, dass man ihre Akte nach ihrem Tod vernichtet.” Normalerweise würden die Ak-

ten ins Landesarchiv überstellt. “Der Grund lag darin, dass die Frau im Zweiten Weltkrieg vergewaltigt worden ist und aus dieser Vergewaltigung ein Kind hervorgegangen ist”, erzählt die Regierungspräsidentin. Die Da-

Angesichts dieser Einzelschicksale, dieser Zerstörung von Menschenleben, weist die Regierungspräsidentin auf eine Begriffsproblematik hin, die auch ganz generell für die Frage steht, wie Deutschland mit den von ihm während der NS-Zeit begangenen Verbrechen und der Schuld am Leid vieler Millionen Menschen umgehen soll. “Nach dem Krieg hatte die Bundesregierung die Idee der Wiedergutmachung”, erklärt Radermacher. Dieser Begriff klinge nach der Möglichkeit,

Radermacher: Es werden Rentenleistungen ausgezahlt. Dazu kann es sogenannte Verschlimmerungsanträge geben, je nachdem, wie sich der Gesundheitszustand des Einzelnen entwickelt. Wir haben Hinterbliebenenrenten auszuzahlen. Es können Heilverfahren, Kuren oder andere medizinische Dienste beantragt werden. Die Zahlungen fallen weltweit an. Die von uns zu Betreuenden sind – ich sagte es bereits – auf der ganzen Welt verstreut. Da ist die Zahlbarmachung nicht immer leicht. Innerhalb Europas geht das sicherlich einfacher, aber nach Südamerika zahlen wir sogar noch Schecks aus. Wir haben bis 2018 rund 37,4 Millionen Euro ausgegeben. Dazu kommen dann noch die Einmalzahlungen aus dem Härtefallfonds, die bis zu 3.600 Euro pro Person betragen können. Interessant ist sicher noch eine weitere Zahl: Im Dezember 2019 hatten wir noch gut 3.800 Rentenempfänger, die von uns betreut wurden. Das Durchschnittsalter dieser Menschen liegt bei etwa 89 Jahren. Weil wir auch Hinterbliebenenrenten zahlen, sind einige Berechtigte aber auch jünger. Unsere jüngste Rentenberechtigte ist 1965 geboren. Behörden Spiegel: Die Bezirksregierung führt auch die Bundeszentralkartei (BZK), wo Karteikarten zu allen Entschädigungsverfahren lagern. Wer interessiert sich für die BZK? Radermacher: Es gibt sehr viele Interessierte für diese Einzelschicksale. Das sind nicht nur Historiker, sondern durchaus auch Angehörige der Menschen, die betroffen waren. Vonseiten der Angehörigen erhofft man sich dann in der Regel Auskünfte aus den Akten zur Familiengenese. In bestimmten Fällen kann auch ein Teil der Akte geschwärzt werden oder gar nicht an Dritte herausgegeben werden. Wir haben die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu wahren. Was jedoch auf keinen Fall passieren darf, ist die Vereitelung einer Straftat; hier geht das Persönlichkeitsrecht nicht vor.

dass man ein solches Unrecht tatsächlich wieder gutmachen könne. Wie der Historiker Hans Günter Hockerts in einem Aufsatz für die Zeitschrift “Aus Politik und Zeitgeschichte” (Nr. 25-26, 2013) feststellt, bedeute “gutmachen” im Deutschen von alters her “ersetzen, bezahlen, sühnen”. “Vielleicht erklärt diese Bedeutungsschicht, warum jüdische Emigranten deutscher Herkunft den Begriff nicht selten akzeptierten, mitunter auch selbst propagierten”, schreibt der emeritierte Professor der Ludwig-Maximilians-Universität München. In dem Begriff sei jedoch auch die Idee einer Selbstreinigung der deutschen Gesellschaft mitgeschwungen, “um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung” angesichts der Verbrechen zu überwinden. Heutzutage jedoch habe sich der Kontext verändert, erklärt Hockerts. Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz ins Zentrum der deutschen Erinnerungskultur getreten sei, um so mehr sei der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gelte er als “unerträglich verharmlosend”. So sieht es auch Radermacher: “Ich möchte dieses Wort nicht verwenden, sondern von Entschädigung sprechen, denn letztlich können wir ja kaum bewerten, was ein Menschenleben wert ist.”


Finanzen

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Behörden Spiegel / Juli 2021

Haushaltsentwurf des Bundes

NRW beschließt Haushaltsplanentwurf 2022

Scholz plant mit deutlich höherer Verschuldung

Rettungsschirm wird fortgeführt

(BS/lkm) Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat seinen Haushaltsentwurf für 2022 vorgestellt. Sein Etatent­ wurf wird jedoch nicht mehr vom Parlament verabschiedet werden. Grund ist die Bundestagswahl im Septem­ ber. Die neue Regierung wird dann selbst entscheiden, wie sie die kommenden Jahre finanzieren will. Sie wird einen neuen Haushalt vorlegen. Auch wenn Scholz’ Etatentwurf somit quasi Makulatur ist, lässt sich daraus für die neue Regierung schon ablesen, vor welchen Herausforderungen sie stehen wird.

(BS/lkm) In Nordrhein-Westfalen steht der Haushaltsplanentwurf für das Jahr 2022. Der Etat hat ein Gesamt­ volumen von 87,5 Milliarden Euro. Für den Haushalt sind keine neuen Schulden geplant. Diese sollen, wie auch schon in diesem Jahr, über den Rettungsschirm vom Haushalt getrennt werden.

443 Milliarden Euro will Scholz im nächsten Jahr ausgeben, knapp 100 Milliarden Euro neue Schulden muss er dafür aufnehmen. Für die Jahre 2020 bis 2022 plant die Regierung mit einer Gesamt-Neuverschuldung von 470 Milliarden Euro. Der Bund der Steuerzahler (BdSt) kritisiert die von Scholz anvisierte Neuverschuldung. Mit ihr werde eine schnelle Rückkehr zur normalen Verschuldungsregel der Schuldenbremse und mittelfristig zur Schwarzen Null unmöglich. “Die Pandemie darf nicht länger für eine Schuldenmacherei ohne Limits missbraucht werden. Wir müssen zurück zu geordneten Staatsfinanzen – und das sofort!”, mahnt Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler. Für das Jahr 2022 sind im Haushaltsentwurf Investitionsausgaben in Höhe von 51,8 Mrd. Euro eingeplant. Schwerpunkte der Investitionsausgaben sind unter anderem Bildung und Forschung, digitale Infrastruktur, eine zukunftsfähige Verkehrsin­ frastruktur und der klimafreundliche Umbau der Wirtschaft. Hinzu kommen die Investitionsausgaben des Bundes, die etwa über die Sondervermögen “Energie- und Klimafonds”, “Digitale Infrastruktur”, “Kinderbetreuungsausbau” und “Ausbau der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern” getätigt werden. Aufgrund der anhaltenden Belastungen des Bundeshaushalts

durch die Corona-Pandemie soll auch im Haushaltsjahr 2022 wiederholt die Ausnahmeregelung von der Schuldenregel in Anspruch genommen werden. Es liege weiterhin eine außergewöhnliche Notsituation vor, heißt es aus dem Bundesfinanzministerium. Die Folge seien weiterhin spürbare Steuermindereinnahmen im Vergleich zu dem vor der Krise erwarteten Niveau der Steuereinnahmen. Parallel müssen weiterhin Mittel für die unmittelbare Pandemiebekämpfung und für Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft eingesetzt werden. Trotzdem plant der Bund, die Kreditaufnahme im Vergleich zu diesem Jahr deutlich zu reduzieren. Insgesamt will der Bund zur Finanzierung seiner Mindereinnahmen und Mehrausgaben für das kommende Jahr 99,7 Mrd. Euro an neuen Krediten aufzunehmen.

Ab 2023 soll Schulden­ bremse wieder greifen Scholz blick optimistisch in die finanzielle Zukunft Deutschlands: “Der Aufschwung ist da! Nachdem wir vergleichsweise gut durch diese Krise gekommen sind, wollen wir jetzt gut aus dieser Krise kommen.” Man wolle 2022 daher besonders in den sozialen Zusammenhalt, in ein starkes öffentliches Gemein­ wesen und in eine starke, zukunftsfähige und klimafreundliche Wirtschaft investieren. So sollen beim Klimaschutz,

zusätzlich zu den über 80 Milliarden Euro, die in den vergangenen zwei Jahren im Rahmen von Klimaschutzmaßnahmen bereitgestellt wurden, mit dem “Klimaschutz Sofortprogramm” 2022 nochmals rund acht Milliarden Euro hinzukommen. Zur Bewältigung der Pandemie und zur Stabilisierung der Wirtschaft sieht der Regierungsentwurf zehn Milliarden Euro als zen­ trale Vorsorge für unerwartete pandemiebedingte Mehrausgaben vor. Für die Beschaffung von Impfstoffen gegen das Coronavirus sind rund zwei Milliarden Euro eingeplant. Hinzu kommen weitere zwei Milliarden Euro als zentrale Vorsorge für die internationale Bekämpfung der Corona-Krise und für internationale Klimaschutzmaßnahmen. Ab 2023 will Scholz die Schuldenregel wieder ohne Rückgriff auf die Notfallklausel einhalten. So soll die Neuverschuldung 2023 unter vollständigem Einsatz der Einnahmen aus der Rücklage auf 5,4 Milliarden, 2024 auf zwölf Milliarden und 2025 auf 11,8 Milliarden Euro sinken. Finanzexperten gehen davon aus, dass sich für die neue Regierung vor allem hier große Herausforderungen auftun werden. Sie rechnen in den Koalitionsverhandlungen daher mit einer veränderten Schuldenpolitik. Entweder mit Änderungen am Grundgesetz oder mittels Instrumenten, etwa Investitionsfonds, um an ihr vorbeizukommen.

Sanierungsverfahren abgeschlossen Stabilitätsrat sieht keine Haushaltsnotlage mehr (BS/lkm) In diesem Jahr sind die Konsolidierungsverfahren der Länder Berlin, Bremen, Saarland, SachsenAnhalt und Schleswig-Holstein ausgelaufen. Der Stabilitätsrat hat auf seiner Sitzung Ende Juni festgestellt, dass keine Haushaltsnotlage mehr in den Ländern bestehe. Die Konsolidierungsverfahren sind damit abge­ schlossen. Den Vorgaben des Stabilitätsrates zufolge mussten alle fünf Länder in diesem Jahr einen strukturellen Haushaltsausgleich vorlegen. Berlin und Schleswig-Holstein haben diese Vorgabe eingehalten. Die Zielverfehlung durch Bremen, das Saarland und Sachsen-Anhalt seien in Betracht der Belastungen durch die Covid-19-Pandemie “unbeachtlich”. Laut Stabilitätsrat sind damit die Sanierungsverfahren abgeschlossen. Zudem hat der Evaluationsausschuss geprüft, ob für Bremen und das Saarland erneut eine drohende Haushaltsnotlage festgestellt werden muss oder ob diese überwunden ist. Laut Stabilitätsrat drohe somit aktuell keine Haushaltsnotlage mehr. Dazu hätten insbesondere die Haushaltsverbesserungen durch die Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab dem Jahr 2020 beigetragen. Allerdings hält das Gremium in den nächsten Jahren weiterhin erhebliche Anstrengungen für notwendig, um eine erneute Auffälligkeit im Rahmen der jährlichen Haushaltsüberwachung zu vermeiden und die Vorgaben der Landesschuldenbremse und des Sanierungshilfengesetzes einhalten zu können.

“Das waren anstrengende Jahre – aber der Weg der Konsolidierung hat sich gelohnt. Bremen hat dank eigener Anstrengungen und günstiger Rahmenbedingungen sein strukturelles Finanzierungsdefizit um rund 1,25 Milliarden Euro gesenkt”, so Bremens Finanzsenator Dietmar Strehl. Die im Sanierungsverfahren vorgegebene Obergrenze wurde von Bremen im Jahr 2020 zwar verfehlt, der Stabilitätsrat hält dies aber wegen der besonderen Ausnahmesituation für zulässig. “Die finanziellen Auswirkungen der Pandemie belasten auch die Haushalte Bremens schwer. Gegen die Folgen dieser außergewöhnlichen Notsituation können und wollen wir nicht ansparen. Neue Schulden sind unerlässlich”, so Strehl. Der 1,2 Milliarden Euro umfassende, kreditfinan-

Abrutschen in Haushaltsnot­ lage vermeiden Zwar haben die Sanierungserfolge den bremischen Landeshaushalt laut Stabilitätsrat gestärkt und seine Resilienz erhöht, jedoch bleibe die Haushaltslage Bremens angesichts des hohen Schuldenstands und der Coronabedingten außergewöhnlichen Belastungen weiter angespannt.

Der Stabilitätsrat entlässt mehrere Länder aus dem Sanierungsverfahren. Gleichzeitig fordert er aber verstärkte Konsolidierungsanstrengungen nach Überwindung der Pandemie. Foto: BS/Tirelire_Avenue, pixabay.com

zierte Bremen-Fonds müsse ab 2024 schrittweise getilgt werden. Auch im Saarland freut man sich über den Abschluss des Konsolidierungsverfahrens. “Die Entlassung aus dem Sanierungsverfahren ist ein großer Erfolg. Jetzt gilt es, das Land weiter zu modernisieren und zugleich ein erneutes Abrutschen in eine drohende Haushaltsnotlage zu vermeiden,” sagte Saarlands Finanzminister Peter Strobel. Ausgehend von einem strukturellen Defizit von 1,25 Mrd. Euro im Jahr 2010 hat das Saarland das Defizit bis zum Jahr 2019 auf 121,6 Mio. Euro zurückführen können. “Der Beschluss des Stabilitätsrates ist Anerkennung und Verpflichtung zugleich. Einerseits bescheinigt er uns, dass wir in den letzten Jahren gut gearbeitet haben und uns nicht mehr in einer drohenden Haushaltsnotlage befinden. Andererseits hält der Stabilitätsrat in den nächsten Jahren weiterhin erhebliche Anstrengungen für notwendig, um eine erneute Auffälligkeit im Rahmen der jährlichen Haushaltsüberwachung zu vermeiden und die Vorgaben der Landesschuldenbremse und des Sanierungshilfengesetzes einhalten zu können. Es muss uns also bei allen Planungen für die kommenden Jahre bewusst sein, dass wir andernfalls erneut zur Aufstellung eines Sanierungsprogramms verpflichtet wären. Im Interesse der Umsetzung der Investitionsoffensive Saar und der übrigen wichtigen Landesprojekte müssen wir auch weiterhin wirtschaftlich und sparsam agieren”, so Strobel.

“Trotz der weiterhin herausfordernden Rahmenbedingungen durch die Corona-Pandemie geben wir mit dem vorgelegten Entwurf wichtige Impulse und stellen die weitere Entwicklung unseres Landes auch im kommenden Jahr auf eine sichere finanzielle Basis”, betont Lutz Lie­ nenkämper, Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen.

Corona-Schulden werden rausgerechnet Kernstück zur Krisenbewältigung bleibe der Rettungsschirm zur Finanzierung aller direkten und indirekten Folgen zur Bewältigung der Corona-Krise. Er soll mit seinem Sondervermögen von bis zu 25 Milliarden Euro auch im Jahr 2022 fortgeführt werden. Die Landesregierung plant, den Rettungsschirm und den allgemeinen Haushalt weiterhin voneinander abzugrenzen. Die “Corona-bedingten Sondereffekte” werden damit ausgelagert und mithilfe des Rettungsschirmes finanziert. Für den regulären Haushalt werden damit keine Schulden aufgenommen.

Der Haushaltsplanentwurf 2022 sieht Investitionen von rund 9,6 Milliarden Euro vor und damit die höchsten bisher geplanten Investitionen in einem Haushaltsplan des Landes Nordrhein-Westfalen. Im Bereich Innere Sicherheit ist eine weitere Steigerung der Mittel für die Polizei um 200 Millionen Euro für zusätzliche Stellen insbesondere in den Bereichen der Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Cyber-Kriminialität sowie für die Modernisierung, Professionalisierung und Digitalisierung der technischen Ausstattung, Liegenschaften und polizeilichen Sondertechnik vorgesehen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Modernisierung der Landesliegenschaften. Hierzu stellt die Landesregierung mit dem Haushalt 2022 für die kommenden fünf Jahre im Rahmen von Verpflichtungsermächtigungen zusätzliche Mittel in Höhe von insgesamt 4,5 Milliarden Euro bereit. Damit sollen der Sanierungsstau u. a. bei Hochschulen, Justiz und Polizeidienststellen abgebaut, die Landesgebäude modernisiert und verbesserte

Gebäudestandards umgesetzt werden. Im Bereich Schule sollen 3.971 zusätzliche Stellen mit dem Haushaltsplanentwurf 2022 eingerichtet werden. “Mit gezielten Investitionen und maßgeschneiderten Hilfen schaffen wir die richtigen Grundlagen, damit Nordrhein-Westfalen schnell den Weg aus der CoronaPandemie findet. Wir behalten unsere Schwerpunkte fest im Blick. Gleichzeitig gilt es, mit Verantwortung, Maß und Mitte einen nachhaltigen Weg aus der Krise zu beschreiten”, betont Lie­ nenkämper.

Tilgung ab 2024 Im Jahr 2023 soll der Haushalt ohne Zuführungen aus dem Rettungsschirm mit einem ausgeglichenen Ergebnis aufgestellt werden. In den Folgejahren plant das Land mit Haushaltsüberschüssen. Für das Jahr 2024 rechnet das Land mit Überschüssen in Höhe von 200 Millionen Euro. Für das Jahr 2015 mit 500 Millionen Euro. Die Überschüsse sollen zur Tilgung der vom Rettungsschirm aufgenommenen Kredite eingesetzt werden.

Haushaltsaufstellung angehalten Appetit der Ressorts zu groß (BS/lkm) Brandenburgs Finanzministerin Katrin Lange hat das Verfahren zur Aufstellung des Landeshaus­ haltes für das Jahr 2022 angehalten. Eigentlich sollte der Haushaltsentwurf für 2022 im Juni das Kabinett passieren und zum Landtag geleitet werden. Stattdessen verschob Brandenburgs Finanzministerin das Verfahren auf den Spätsommer. Nach aktuellem Stand beträgt die Deckungslücke laut Finanzministerium im Haushaltsentwurf knapp 600 Mio. Euro. Die derzeit angemeldeten Ausgaben würden damit die zur Verfügung stehenden Einnahmen deutlich übersteigen. Ursächlich dafür seien nicht die erwarteten Pandemiefolgekosten im Jahr 2022, sondern nicht erbrachte Einsparungen und zusätzliche sonstige Ausgabewünsche. “Der Appetit der Ressorts ist größer als

der Magen des Landeshaushalts. So lege ich den Etatentwurf daher nicht vor”, sagte Lange. Sie werde stattdessen im Sommer zu weiteren Chefgesprächen einladen, um die jetzt noch vorhandene Finanzierungslücke “kollegial und im besten Einvernehmen zu bereinigen”, so Lange. Es mache sich nach einer deutlichen Ausweitung der Staatsausgaben in den letzten Jahren nun zunehmend die

Tatsache bemerkbar, “dass die finanziellen Möglichkeiten eines Landes endlich sind und sich nicht an politischen Wunschzetteln orientieren”. Sie gehe davon aus, dass die nun anstehenden zusätzlichen Abstimmungen keinen Einfluss hätten auf die geplante pünktliche Verabschiedung des Haushaltes 2022 bis zum Jahresende. “Wir sind durchaus im Zeitplan”, so die Ministerin.

2,2-Billionen-Euro-Marke geknackt Verschuldung auf neuem Höchststand (BS/lkm) Die Schulden der öffentlichen Hand sind in Deutschland aufgrund der steigenden Corona-Ausgaben auf ein neues Rekordniveau angewachsen. Am stärksten betroffen ist der Bundeshaushalt. In den Ländern und Kommunen fällt die Verschuldung regional sehr unterschiedlich aus. Ende des ersten Quartals 2021 summierten sich die Schulden des öffentlichen Gesamthaushaltes auf 2.205,4 Milliarden Euro. Laut Statistischem Bundesamt entspricht dies einem Anstieg der Schulden um 1,5 Prozent und einer Pro-Kopf-Verschuldung von 26.532 Euro. Der Schuldenanstieg sei insbesondere bei Bund und Ländern auf Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie zurückzuführen. Den größten Anteil verzeichnete der Bund mit einer Steigerung um zwei Prozent beziehungsweise 28 Milliarden Euro auf 1,43 Billionen Euro, nachdem dieser zum Ende des 4. Quartals 2020 noch einen Rückgang der Schulden um 1,9 Prozent gegenüber dem 3. Quartal 2020 aufwies. Gegenüber dem 1. Quartal 2020 stiegen die Schulden des Bundes um 17,3 Prozent beziehungsweise 211,1 Milliarden Euro.

Stärkster Schuldenrückgang in Bremen Die Länder waren zum Ende des 1. Quartals 2021 mit 639,9 Milliarden Euro verschuldet, was einem Zuwachs von 0,6 Prozent beziehungsweise 4,1 Milliarden

Euro gegenüber dem 4. Quartal 2020 entspricht. Dabei ist die Entwicklung in den einzelnen Ländern sehr heterogen: Während Berlin und Sachsen-Anhalt (jeweils plus 3,9 Prozent) sowie Nordrhein-Westfalen (plus 3,4 Prozent) die höchsten Schuldenanstiege aufwiesen, verzeichneten Bremen (minus 12,8 Prozent), Schleswig-Holstein (minus 3,3 Prozent) und Bayern (minus 2,7 Prozent) die stärksten Rückgänge. In Bremen sei der Rückgang vor allem auf die gegenüber dem Vorquartal geringeren Schuldenaufnahmen für die Bereitstellung von Barsicherheiten für DerivatGeschäfte zurückzuführen, erklärten die Statistiker. Gegenüber dem Vorjahresquartal stiegen die Schulden der Länder um 6,2 Prozent beziehungsweise 37,5 Milliarden Euro. Der prozentual starke Anstieg in Sachsen (plus 259,7 Prozent) resultiere aus Neuaufnahmen des Corona-Bewältigungsfonds in Höhe von zwei Milliarden Euro sowie einer Umschichtung der Kreditaufnahmen vom bislang vornehmlich genutzten öffentlichen Bereich (z. B. bei verbundenen Unternehmen) zum nicht öffentlichen Bereich.

Die Kommunen wiesen zum Ende des 1. Quartals 2021 einen Schuldenstand von 134 Milliarden Euro aus. Der Anstieg gegenüber dem Vorquartal betrug 1,1 Prozent beziehungsweise 1,5 Milliarden Euro. Bis auf die Kommunen im Saarland (minus 5,1 Prozent), in Sachsen (minus 3,1 Prozent), Thüringen (minus 0,3 Prozent) und Nordrhein-Westfalen (minus 0,1 Prozent) stiegen die Schulden auf kommunaler Ebene in allen anderen Ländern. Prozentual am stärksten waren die Anstiege dabei in Baden-Württemberg mit einem Plus von 5,3 Prozent, in Schleswig-Holstein mit einem Anstieg um 4,3 Prozent und in Sachsen-Anhalt, wo die Schulden um 3,6 Prozent anstiegen. Der Schuldenrückgang der saarländischen Kommunen sei zum Großteil dadurch begründet, dass im Rahmen des Saarlandpaktes seit dem 1. Januar 2020 bis zum 31. März 2021 rund 500 Millionen Euro an kommunalen Kassenkrediten vom Land übernommen worden seien. In Baden-Württemberg hingegen sei der Anstieg besonders auf eine Änderung des Berichtskreises zurückzuführen.


Beschaffung / Vergaberecht

Behörden Spiegel / Juli 2021

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Handbuch der Extraklasse

► Entscheidungen zum Vergaberecht

Von den Grundlagen bis zum Wettbewerbsregister ist alles enthalten ► KOOPERATION

Gemeinsame Software Folgeverträge am Markt beschaffen Die Feuerwehren in Berlin und Köln hatten eine Kooperationsvereinbarung zur gemeinsamen Beschaffung und Nutzung der Einsatzleitsoftware geschlossen. Diese Vereinbarung regelte auch, dass die Partner Anspruch darauf haben, Weiterentwicklungen der Software, die der jeweils andere beauftragt hatte, mitzunutzen. Ein Softwarelieferant fühlte sich durch diese Vereinbarung von Aufträgen ausgeschlossen. Sein Nachprüfungsverfahren nahm einen Umweg über den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und wurde endgültig vom OLG Düsseldorf entschieden. Im Ergebnis wird die Rechtsauffassung der beiden Städte bestätigt. Die Vereinbarung stellt bezogen auf die Ursprungssoftware zwar einen öffentlichen Auftrag dar, ist aber als interkommunale Kooperation vom Vergaberecht ausgenommen. Anders sieht es bei Folgeaufträgen aus. Softwarepflege und -ergänzungen müssen im Wettbewerb vergeben werden. Dazu muss nach Auffassung des EuGH der Quellcode den Partnern bekannt sein, denn ohne Zugriff darauf hätten sie mit ihrer Kooperation ein unzulässiges QuasiMonopol für alle Folgeleistungen geschaffen. Das OLG hat festgestellt, dass die Feuerwehren korrekterweise solche Aufträge nicht ausschließlich an den ursprünglichen Hersteller vergeben, sondern den Quellcode zur Verfügung stellen, damit ein offener Wettbewerb möglich ist. Damit ist der Nachprüfungsantrag nach dreieinhalb Jahren endgültig abgewiesen. OLG Düsseldorf (Beschl. v. 03.02.2021, Az.: Verg 25/18)

► VERFEHLUNG

Abwerben erlaubt Vorbereitende Mitarbeitersuche Der Bieter für Sicherheitsdienstleistungen will sicherstellen, dass er mit Auftragsbeginn hinreichend viel Personal zur Verfügung hat. Sein Vorgehen hat aber zur erheblichen Verstimmung des Bestandsauftragnehmers geführt. Denn ein Mitarbeiter dieses Bieters hat einfach am Schutzobjekt die dort tätigen Wachleute angesprochen, ihnen Visitenkarten gegeben und sie ermuntert, sich bei dem Bieter zu bewerben und das Übernahmeangebot an ihre Kollegen zu kommunizieren. Der Bestandsauftragnehmer sieht darin einen Wettbewerbsverstoß im Sinne des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb (UWG). Als der fragliche Bieter den Zuschlag für den Folgeauftrag bekommen soll, fordert er dessen Ausschluss wegen einerseits einer schweren beruflichen Verfehlung und andererseits wegen einer Täuschung über den Personalbestand: Wer Personal abwerbe, habe ja wohl nicht genug eigenes. Beide Argumente überzeugen weder die Vergabekammer noch das OLG. Ob ein Verstoß gegen das UWG vorliege, muss nicht geklärt werden. Denn der Abwerbeversuch stelle jedenfalls im vergaberechtlichen Sinne keine so schwere Verfehlung dar, dass der Auftraggeber sein Ermessen nur noch in Richtung auf den Vollzug des fakultativen Ausschlusses hätte ausüben

dürfen. Der Rückschluss auf eine mangelnde Personalausstattung des Bieters ist ebenfalls nicht zutreffend: Schließlich muss der Bieter das Personal ja erst mit Beginn des Auftrages vorhalten, nicht schon in der Angebotsphase. Dem wäre noch hinzuzufügen: Gewinnt er den Auftrag, müsste ja notwendigerweise beim Bestandsauftragnehmer ein Personalüberhang entstehen, welchen der erfolgreiche Bieter dann für seine Personalbeschaffung nutzen könnte. BayObLG (Beschl. v. 09.04.2021, Az.: Verg 3/21)

► KALKULATION

Negative Kosten... ...sind kein Ausschlussgrund Der Auftraggeber für Entsorgungsleistungen hatte sich bei der Erstellung seiner Angebotsunterlagen vorgestellt, er könnte von einer positiven Preisentwicklung am Altpapiermarkt profitieren, wenn er die Bieter dazu bringt, einerseits ihre Kosten und andererseits ihre Erlöse aufzugliedern und er bei steigenden Erlösen einen Anteil davon einfordert. Allein das Ansinnen, nur die Erlöse, nicht aber die Kosten der Bieter einer Vertragsanpassung zu unterwerfen, ist schon grenzwertig. Hier aber ist der Auftraggeber bereits an einer kleinen Ungenauigkeit in seinen Unterlagen gescheitert. Im Kostenformular waren neben den unmittelbaren Transportkosten auch alle weiteren Nebenleistungen anzugeben. Ein Bieter hatte einen Pauschalvertrag mit einer Papierfabrik geschlossen, nach dem die Fabrik die Abholung des Altpapiers selbständig organisiert. Damit fallen beim Bieter gar keine Transportkosten an. Es bleibt jedoch die Nebenleistung der Verwertung, für welche die Fabrik jedoch nichts berechnet, sondern einen Preis bezahlt. Diesen Ertrag hat der Bieter als negative Kosten eingetragen. Erlöse durch Verkauf des Altpapiers fallen damit gar nicht an. Im Erlös-Formular war daher nichts Nennenswertes angegeben. Die Vergabekammer sieht darin weder ein Abweichen von den Vergabeunterlagen noch eine Mischkalkulation. Die Papierfabrik wird durch diesen Vertrag auch nicht Mitglied einer Bietergemeinschaft. Wenn der Auftraggeber die Bieter zu einem bestimmten Kalkulationsmuster zwingen will, muss er seine Unterlagen entsprechend gestalten. Tut er das nicht, muss er Angebote akzeptieren, die zwar nicht seine Vorstellungen, wohl aber seine schriftlichen Anforderungen erfüllen. VK Westfalen (Beschl. v. 20.08.2020, Az.: VK 3-19/20)

► REFERENZEN

Unternehmensumwandlung Es kommt aufs Personal an Im Jahr 2009 hat der Ingenieur I. sein Büro gegründet und dafür eine I-Beteiligungs-GmbH und eine I-Betriebs-GmbH errichtet. 2013 wurden die beiden Firmen umgruppiert, ein Jahr später veräußert. Dabei wird I Prokurist der neuen Muttergesellschaft. 2016 scheidet I dort aus und gründet eine neue I-PartGmbB. 2020 legt diese I-PartGmbB eine Reihe von Referenzen vor, die bis vor

das Jahr 2013 zurückreichen. Ein Konkurrent hält diese Referenzen nicht für wertbar und fordert den Ausschluss von I. Die Firmenhistorie zeige, dass die heutige I-PartGmbB nicht Rechtsnachfolgerin der I-Betriebs-GmbH sei. Zudem habe es im Zuge der Umstrukturierungen bei I eine Reihe von Personalabgängen gegeben, die auch die persönliche Zuordnung der Referenzleistungen zum heutigen Personal als fraglich erscheinen ließen. Genau hier aber konnte I sich durchsetzen. Im Nachprüfungsverfahren legte er exakt dar, welche Personen die Referenzleistungen seinerzeit erbracht hatten, und dass genau solche Referenzprojekte vorgelegt worden waren, in denen diejenigen Ingenieure die Leitung hatten, die (trotz aller Fluktuation) auch heute für die I-PartGmbB tätig sind. Diese Darlegung genügte der Vergabekammer. Es reicht aus, dass das verantwortliche Personal das Gleiche ist. Die Referenzen sind also vom Grundsatz her tauglich, um die Eignung nachzuweisen. VK Südbayern (Beschl. v. 25.02.2021, Az.: 3194.Z3-3_0120-47)

► WERTUNG

Zu viele Fehler Nachlässigkeit oder Absicht? Spezialfahrzeuge mit umfangreichem Aufbau waren Gegenstand der Beschaffung, für die der Auftraggeber den Preis als alleiniges Zuschlagskriterium bekannt gemacht hatte. Dennoch entwickelte er eine Wertungsmatrix, mit der er zu 50 Prozent technische Kriterien berücksichtigen wollte. Dies allerdings war erst aus dem Leistungsverzeichnis erkennbar. Dabei sollte die Größe des Aufbaus eine Rolle spielen. Für die Wertung war eine Dreiteilung vorgesehen: Je kleiner die Maße, desto mehr Punkte sollte es geben, nämlich “null bis drei”, “vier bis sieben” und “acht bis zehn”. Wie innerhalb dieser Intervalle die Punkte zugeteilt werden sollten, blieb unklar. Es gingen zwei Angebote ein. Der preislich führende Bieter war zunächst mit einer unzutreffenden Begründung ausgeschlossen worden. Auf seine Rüge hin änderte der Auftraggeber zwar die Begründung, hielt aber am Zuschlag auf den Konkurrenten fest. Den hatte er unmittelbar nach Vorinformation bereits erteilt. Zudem hatte der Auftraggeber beiden Bietern fehlerhafte Wertungspunkte zugeteilt – dem teureren zu viele, dem anderen zu wenige. So konnte der Teurere überholen. Im Nachprüfungsverfahren erkannte die Vergabekammer: Der Zuschlag war wegen Missachtung der Wartefrist nichtig. Das objektiv falsche Wertungsergebnis der technischen Kriterien bleibt irrelevant. Sie dürfen schon mangels Bekanntmachung gar nicht gewertet werden. Will der Auftraggeber an der Beschaffung festhalten, kann er gar nicht anders, als den Zuschlag nun auf den preislich Führenden zu erteilen. VK Lüneburg (Beschl. v. 11.01.2021, Az.: VgK-51/2020)

Zusammenfassung der Entscheidungen: RA und FA für Vergaberecht Dr. Rainer Noch, München und Unkel/Rh. (Oppler Büchner PartGmbB)

jeden Monat im Behörden Spiegel ◄

(BS/Jörn Fieseler) Das Bundeskartellamt betreibt das neue Wettbewerbsregister. Um einen reibungslosen Ablauf bei der Nutzung zu ermöglichen, startete Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes (BKartA), einen Aufruf an alle rund 30.000 öffentlichen Auftraggeber, sich zu registrieren, bevor die Abfrage Pflicht wird. Was öffentliche Auftraggeber dann beachten müssen, wird im Handbuch Vergaberecht erläutert. Am 23. April 2021 ist im Bundesgesetzblatt die Wettbewerbsregisterverordnung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlicht worden. Damit besteht für öffentliche Auftraggeber ab Oktober 2021 die Pflicht zur Abfrage. Diese greift ab einem geschätzten Auftragswert von 30.000 Euro. Dieser Wert ist analog zur Abfragepflicht aus dem Gewerbezentralregister festgesetzt worden.

Abfrage so früh wie möglich Öffentliche Auftraggeber dürfen eine Abfrage aber nur in Verbindung mit einem konkreten Vergabeverfahren vornehmen, heißt es im Handbuch Vergaberecht vom Beck Verlag. Allerdings haben Vergabestellen die Möglichkeit, die abgefragten Daten auch für andere Vergabeverfahren zu nutzen, solange die abgefragten Daten nicht älter als zwei Monate sind. Bei Bietergemeinschaften muss jedes beteiligte Unternehmen abgefragt werden. “Wenngleich das Wettbewerbsregistergesetz (WRegG) keinen konkreten Zeitpunkt für die Abfrage benennt, sollte sie so früh wie möglich und keinesfalls erst nach Versand der Vorabinformationsschreiben an die unterlegenen Bieter erfolgen”, rät der Autor des Kapitels, Dr. Daniel Soudry, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Grundsätzlich soll die Kommunikation mit der Registerbehörde elektronisch erfolgen. Das BKartA verweist in diesem Kontext darauf, dass für die Registrierung

Marc Gabriel, Wolfram Krohn, Andreas Neun (Hrsg.): Handbuch Vergaberecht, 3. Auflage, Dezember 2020, Hardcover, Verlag C.H.Beck, 259 Euro Foto: BS/Fieseler

bisher nur die Antragstellung über das besondere elektronische Behördenpostfach (beBPo) möglich ist.

Kompaktes Kompendium mit klarer Struktur Neben dem neuen Wettbewerbsregister legten die Autoren in der dritten Auflage des Buches weitere Schwerpunkte auf die E-Vergabe sowie auf die Beschaffungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen auf Vergabeverfahren. Zudem wurden mehrere Kapitel des rund 2.200 Seiten umfassenden Handbuches grundlegend überarbeitet, etwa zur Leistungsbeschreibung, zu Compliance und Selbstreinigung

oder zum öffentlichen Preisrecht. Insgesamt orientiert sich das Handbuch am Ablauf eines Vergabeverfahrens und thematisiert die verschiedenen Aspekte im allgemeinen Teil in 45 Paragrafen. Dadurch erhält der Leser nicht nur eine gute, schlüssige Strukturierung der komplexen Materie Vergaberecht, er hat auch die Möglichkeit, zielgenaue Antworten auf die jeweiligen Fragestellungen zu finden. Abgerundet wird dieser Teil durch zwei weitere Paragrafen (46 – 47), in denen einerseits Divergenzvorlagen an den BGH und Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und andererseits Kosten und Gebühren erläutert werden.

Spezialbereiche des Vergaberechts enthalten Im besonderen Teil gehen die insgesamt 27 Autoren auf die Auftragsvergabe nach der Sektorenverordnung sowie in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, Öffentliche Personenverkehrsdienste bei Schiene und Straße und bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Zudem werden Konzessionsvergaben und binnenmarktrelevante Auswahlverfahren nach EU-primärrechtlichen Verfahrensordnungen erläutert. Auch eine Übersicht über die Landesvergabegesetze fehlt nicht in diesem umfassenden Handbuch, das für den Leser keine Wünsche offenlässt. Einzig Lesezeichen in Form von einem oder mehreren Bändchen wären eine sinnvolle Ergänzung.

Von praktischer Relevanz Steuerung von Windenergieanlagen nur nach gesamträumlicher Planung (BS/Moritz Ahlers*) Energiewende, Dekarbonisierung und Klimaschutz sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Kommt es zur praktischen Ausgestaltung dieser Begrifflichkeiten, entstehen häufig Planungskonflikte. Besonders die Konzentrationsflächenplanung für Windenergieanlagen ist regelmäßig Gegenstand kommunaler Diskussionen und verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten. Denn aufgrund einer Vielzahl von durch die Rechtsprechung geschaffenen Kriterien ist die Konzentrationsflächenplanung besonders komplex und damit fehleranfällig. Zu mehr Rechtssicherheit trägt die wegweisende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 12.04.21 (12 KN 159/18) bei. Der Entscheidung liegt ein Normenkontrollantrag zugrunde, mit welchem sich der Träger eines Unternehmens der Windwirtschaft gegen die Wirksamkeit des Kapitels 4.2.1 “Windenergie” des Regionalen Raumordnungsprogrammes 2016 (RROP) des Landkreises Diepholz wendet. Der Landkreis versuchte anstelle einer Konzentrationsflächenplanung die Steuerung von Windenergieanlagen über eine anderweitige Konstruktion zu erreichen. Hierzu übernahm der Landkreis die in den gemeindlichen Bauleitplänen festgesetzten Sondergebiete für Windenergieanlagen ohne eigenes Planungskonzept in das RROP. Mit seiner Entscheidung hat das OVG dem Normenkontrollantrag stattgegeben. Dies bedeutet: Ohne eine vorherige, umfassende gesamträumliche Planung durch den Landkreis ist eine negative Steuerung von Windkraftanlagen im RROP eines Landkreises unwirksam. Für kommunale Plangeber bringt die Entscheidung des OVG im komplexen Bereich

der Konzentrationsflächenplanung für Windenergieanlagen weitere Klarheit. Ausgehend von der Entscheidung des OVG sollten kommunale Plangeber bei zukünftigen Planungen stets substanziierte und eigenständige Nachforschungen bezüglich der Potenzialflächen für Windenergienutzung anstellen. Um die

bezweckte Steuerungswirkung nicht durch eine gerichtliche Überprüfung und Aufhebung zu gefährden, empfiehlt es sich, frühzeitig rechtlichen Rat einzuholen. *Moritz Ahlers, LL.B, ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek.

Beratung für Bewerter und Bieter Ausschreibungen · Submissionen


Diplomaten Spiegel

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G

eografisch an alte Traditionen anknüpfend, ist die heutige britische Botschaft ein postmodernes, offenes Gebäude mit viel moderner Kunst (z. B. von Tony Cragg und Anish Kapoor) in dem Jill Gallard seit November 2020 als Botschafterin residiert. Die 53-Jährige ist darin nicht unerfahren. Von 2011 – 2014 ist sie als Diplomatin in Portugal, zuvor als Botschaftsrätin in der britischen Auslandsmission in Tschechien und ansonsten, seit 1991, in leitenden Positionen im “Foreign, Commonwealth and Development Office”, vulgo “Foreign Office”, oder Außenministerium des Vereinigten Königreichs in Whitehall.

Freunde, Partner und Verbündete Ein Gespräch mit der britischen Botschafterin Jill Gallard in Berlin

“Diplomatie geht durch den Magen” Damit das klappt, übt sie es vorher in London schon mal und schaut sich dort oft die Tagesschau an. Doch diese ist seit Längerem meist Covid-19-lastig und für ihren Wortschatz nicht so prickelnd. “Also habe ich einfach in der ARD-Mediathek nach Vor-Corona-Ausgaben gestöbert und das war es dann. Neben der Sprache sind Essen und Trinken ein großer Teil der Kultur für mich, der die Menschen verbindet. Di­ plomatie geht eben auch durch den Magen. Man kann sich beim Essen sehr gut kennenlernen. Und die britische Lebensmittelindustrie hat einiges zu bieten: Die Lebensmittel- und Getränkebranche ist die größte verarbeitende Industrie im Vereinigten Königreich – sie trägt jedes Jahr 29 Mrd. englische Pfund zur Wirtschaft bei und beschäftigt über 440.000 Menschen. Das ist ein entscheidender Teil der nationalen Wertschöpfungskette vom Acker bis zum Teller, die 120 Mrd. Pfund entspricht”, berichtet die britische Diplomatin. Zu ihrem “neuen” Leben an der Spree gehört auch, eine “grüne Familie” zu sein und umweltfreundlich zu leben. “So ist uns z. B. frisches, vollwertiges Essen mit Kräutern und Gemüse aus dem heimischen Residenzgarten sehr wichtig – schon der ganz kurze Lieferkette wegen. Meine zwei Söhne halten immer Ausschau nach achtlos weggeworfenem Plastikmüll, wenn wir unterwegs sind. Sie haben kein Problem damit, diesen dann einzusammeln und ordentlich zu entsorgen. Ich lerne also von meinen Kindern nicht nur in Sachen digitale Technologie. In den letzten sechs Jahren, als ich in London lebte, hatten wir kein Auto, sondern waren in einem Cars-Sharing-Club. Hier

das noch immer vor Herausforderungen steht, die Unterstützung erhält, die es braucht, um effektiv mit der EU handeln zu können”, sagt Gallard.

(BS/ps) Die britische Botschaft befindet sich in der Berliner Wilhelmstraße, der alten preußischen Regierungsmeile. Bis 1945 war sie ein Synonym Weiterhin wichtige Partner für Ministerien des Dritten Reiches, ähnlich wie “Whitehall” für das britische oder der “Quai d’Orsay” für das französische Außenministerium. Die Wandel durch Handel, auch im Vertretung des Vereinigten Königreiches ist seit 2000 an gleicher Stelle zu finden wie die alte von 1884, die im Zweiten Weltkrieg zerbombt wird. Verhältnis zu Deutschland, das und so im Vorfeld der COP26 ein starkes internationales Si­ gnal senden, dass wir gemeinsam die Ziele des Pariser Abkommens (weltweite Klimaschutzvereinbarung vom Dezember 2015) erreichen können”, so die britische Botschafterin. Eigentlich ein guter Plan, wenn nicht der Weg dorthin zum Ziel erklärt wird, ganz gleich, was dabei so alles auf der Strecke bleibt. Oft die Destination selbst – als “Exit to Brexit”. “Das Referendum war eine demokratische Entscheidung und wir haben es uns nicht leicht damit gemacht. Das Austrittsabkommen gibt uns die Gewissheit und eine neue Basis für die Zusammenarbeit zwischen uns. Die EU hat noch nie so schnell ein solches Freihandelsabkommen ohne Zölle und Quoten abgeschlossen.”

Erste Frau nach 15 Männern Gallard ist, nach 15 Männern, die seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahre 1951 hierzulande Botschafter sind, seit fast 70 Jahren die erste Frau auf diesem Posten. “Heute”, erklärt sie, “sind rund ein Drittel der Botschafter im britischen Außenministerium Frauen. Als ich vor über zwanzig Jahren dort anfing, war das noch nicht so. Damals hätte ich mich als Frau entscheiden müssen, zu heiraten oder aus dem diplomatischen Dienst auszuscheiden. Heute bin ich Botschafterin, verheiratet und habe zwei Kinder. Es hat sich seither viel getan und ich kann meinem Beruf mit Leidenschaft nachgehen.” Wie auch immer, sie ist beruflich wie privat mit Familie und Job in Berlin angekommen und froh, nach den Corona-Beschränkungen nun wieder “ganz unterschiedliche Menschen kennenzulernen, was mit ausschlaggebend war, dass ich mich für den Diplomatenberuf entschieden habe. Spanien, Portugal und Tschechien waren wunderbar als Einstieg dafür. Sprachen sind eine meiner großen Leidenschaften und neue Sprachen zu lernen, ist für mich immer eine willkommene Herausforderung. Ich kann es kaum abwarten, mein Deutsch in vielen persönlichen Treffen in unterschiedlichen Regionen Deutschlands anzuwenden”, erklärt Gallard.

Behörden Spiegel / Juli 2021

Die Nordirlandfrage Seit knapp acht Monaten als Diplomatin in Deutschland: Jill Gallard, Botschafterin des Vereinigten Königreichs Groß­ britannien. Fotos: BS/Britische Botschaft

Rezept der Botschafterin Steak and Stout Pie

Zutaten für das Steak 900 g Nordirisches Hüftsteak, in ca. 4 cm große Würfel geschnitten, 30 g Mehl, 1 TL englisches Senfpulver, 2 EL Rapsöl, 1 weiße Zwiebel, 3 Stängel Bleichsellerie, in fingerdicke Scheiben geschnitten, 2 Karotten, geschält, längs geviertelt und in 1 cm dicke Scheiben geschnitten, 500 ml dunkles StoutBier, 200 ml Rinderbrühe, 2 TL Johannisbeergelee, 2 Lorbeerblätter, 2 El gehackte Petersilie, 1 TL gehackter Thymian Zubereitung: Die Zwiebel im Rapsöl mit dem mehlierten Fleisch anbraten. Danach das Gemüse dazugeben. Mit dem Bier, der Brühe und dem Johannisbeergelee aufgie-

ßen und ca. 10 Minuten durchköcheln lassen. Die Kräuter dazugeben und danach kalt stellen. Zutaten für den Pie 1 Esslöffel Weißweinessig, 2 Eigelb, 230 g Butter, 540 g Mehl gesiebt, 1 Prise Salz Zubereitung: (Pie-Teig am Tag zuvor zusammenkneten und kühl stellen) Den Teig 0,5 cm dick ausrollen, Pieförmchen damit auslegen und mit der kalten Masse füllen. Mit ausgestochenen Teigdeckeln verschließen und mit verquirltem Ei bestreichen. Danach bei 180° C goldgelb backen. Dazu: Bier und Aquavit – Cheers!

in Berlin finde ich die vielen und gut ausgebauten Fahrradwege wunderbar, vor allem für Kinder”, sagt Gallard.

Auf dem Weg zum neutralen Klima Beruflich setzt sie ebenso auf intakte Ökosysteme und ist stolz darauf, dass Großbritannien zusammen mit Italien im November im schottischen Glasgow die UN-Klimakonferenz COP 26 (26th Conference of the Parties) ausrichtet, die ein Schlüsselmoment für globale Klimaambitionen sein soll. “Das Hauptziel unserer COP26Präsidentschaft ist mehr Ehrgeiz beim Klimaschutz durch erhöhte Zusagen (Nationally Determined Contributions) aller Länder. Das Vereinigte Königreich hat bereits einen ambitionierten Plan vorgelegt (bis 2030 mindestens 68 Prozent weniger Treibhausgasemissionen im Vergleich mit dem Niveau von 1990), ebenso die EU. Die Bundesregierung hat auch ihre Klimaziele nachgeschärft. Andere Länder müssen folgen. Klimadiplomatie ist immer eine sensible Sache. Aber es gibt Grund zum Optimismus: Im vergangenen Jahr ist viel Bewegung in die Politik der EU, der USA, Chinas und Japans gekommen”, erläutert Gallard. Unter dem Dach von “Race to Zero” – einer von den Vereinten Nationen unterstützten Kampagne – werden Klimaneutralitätsverpflichtungen und -pläne von Regionen, Unternehmen, Städten, Investoren und Universitäten gesammelt. Über 700 Städte und viele große deutsche und britische Firmen sind bereits “Race to Zero” beigetreten. “Wir ermutigen alle Gemeinden in Deutschland und Großbritannien, ihre eigenen Klimaziele darzulegen, indem sie sich dem “Race to Zero” anschließen

Royaler Besuch: Botschafterin Gallard (links) empfängt Prince Charles und seine Frau Camilla.

“Bei der Umsetzung des Nordirlandprotokolls bleibt noch einiges zu tun. Der Zweck des Protokolls ist es, das Karfreitagsabkommen und die Errungenschaften des Friedensprozesses zu wahren und gleichzeitig den EU-Binnenmarkt zu schützen. Es muss so umgesetzt werden, dass beide Ziele erfüllt werden. Wir nehmen unsere Verpflichtungen im Nordirlandprotokoll sehr ernst und tauschen uns konstruktiv mit der Europäischen Kommission aus. Wir hoffen, dass auch die EU in diesem Bereich pragmatisch vorgeht und sich kompromissbereit zeigt”, so Gallard. Da trifft es sich gar nicht gut, dass, nach nur drei Wochen im Amt, der Parteivorsitzende der nordirischen Unionisten Edwin Poots am 18. Juni 2021 zurücktritt. In London wächst die Sorge ob der ohnehin schon angespannten Lage in Nordirland. Hintergrund sind die überall spürbaren Folgen des Brexits. Insbesondere die Warenkontrollen zwischen Nordirland, das Teil des EU-Binnenmarkts geblieben ist, und Großbritannien haben in der nordirischen Regierungspartei DUP (Democratic Unionist Party) Verstimmungen hervorgerufen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. “Für Unternehmen heißt es nun, dass sie sich auch auf unsere neuen Handelsvereinbarungen einstellen müssen. Viele haben sich gut angepasst und unser Fokus liegt nun darauf, dafür zu sorgen, dass jedes Unternehmen,

nach wie vor ein potenter Partner für die Vettern jenseits des Ärmelkanals ist. “Der Prinz (Charles) of Wales sagte bei seinem letzten Deutschlandbesuch dazu: “Wir werden immer Freunde, Partner und Verbündete bleiben.” Well roared, lion – nickte unsere Kanzlerin lichtvoll: “Wir teilen die gleichen Werte.” Das tat man auch beim G7Gipfel vom 11.–13 Juni 2021 in Cornwall und einigte sich auf ein Abkommen, eine minimale Unternehmenssteuer für multinationale Unternehmen von 15 Prozent durchzusetzen. Für den deutschen Finanzminister Olaf Scholz eine “Steuerrevolution” und für seine US-amerikanische Kollegin Janet Yellen “eine beispiellose, durchschlagende Verpflichtung”. Was für ein “Wumms”! “Nach der Pandemie werden wir eine grünere, widerstandsfähigere und inklusivere Weltwirtschaft bauen müssen. Gleichzeitig sollten sich Demokratien wie Großbritannien und Deutschland verbünden, um weltweit gemeinsame demokratische Werte zu beschützen. Deshalb war und ist der Gipfel von unglaublicher Bedeutung”, prognostiziert die Botschafterin.

Langfristig mehr erreichen Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel (frei nach Sepp Herberger, erster Bundestrainer nach 1945: “Nach dem Spiel ist vor dem Spiel”) – 2022 übernimmt Berlin den “Staffelstab” für die G7-Präsidentschaft von London. “Unsere aufeinanderfolgenden Vorsitze sind eine Chance, langfristig gemeinsam mehr zu erreichen. Die Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung vor dem Gipfel funktionierte sehr gut und ich bin mir sicher, dass sie es auch während der deutschen Präsidentschaft tut. Ein weiteres Ergebnis des Gipfels ist: Wir werden gemeinsam die Welt impfen – eine Milliarde Impfdosen sind ein vielversprechender Start. Und wir werden unsere Wirtschaft besser, gerechter und nachhaltiger aufbauen – “building back better”. Noch ist die Pandemie nicht überwunden, aber wir können mit vorsichtiger Hoffnung auf die Zukunft schauen. Daher freue ich mich vor allem auf die zweite Jahreshälfte, wenn es wieder Begegnungen und endlich Gelegenheiten geben wird für den ausführlichen und informellen diplomatischen Austausch, und auf die Reisen innerhalb Deutschlands!”

Zeitgenössische Kunst eines der bekanntesten britischen Bildhauer, zu sehen in der Botschaft: die tanzenden Säulen von Tony Cragg.


Organigramm

Behörden Spiegel / Juli 2021

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Ministerium für Arbeit, Soziales,Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz

Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz Bauhofstraße 9, 55116 Mainz (Anschrift: Postfach 3180, 55021 Mainz) Telefon: 06131/16-0, Telefax: 06131/16-2452 E-Mail: Poststelle@mastd.rlp.de Internet: www.mastd.rlp.de

Büro des Ministers Leiter: Dr. Nils Hoffmann (LMB)

Minister Alexander Schweitzer

Persönliche Referentin des Ministers Parlaments- und (PRMin) Kabinettsangelegenheiten (PuK) Julia Troubal -2011 Timo Philippi -5049 Pressestelle und Öffentlichkeitsarbeit Pressesprecherin: Stefanie Schneider (PS) -2377

Foto: BS/Peter Pulkowski, Bildergalerie MASTD

Pressestelle N.N. -2050

Persönlicher Referent des Staatssekretärs (PRSts) Andreas Sackreuther

Abteilung 61

Abteilung 62

Zentrale Aufgaben Leitung: N.N. stellv. AL: Friedrich Riester

-2356 -2382

Referat 612 Gesetzgebung, allgemeine und grundsätzliche Rechtsangelegenheiten Friedrich Riester -2382

-2350

Referat 614 Neue Medien, E-Government, Veranstaltungen Matthias Jung -2054

Referat 615 Organisation, Zentrale Dienste Peter Sauer -2407

ESF-Prüfbehörde Mario Schmidt

-2775

Leiterin: Jeannette Mischnick

Öffentlichkeitsarbeit (ÖA) Julia Hoffmann -5337

Landesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen (LB) Matthias Rösch -5342

Abteilung 64

Digitalisierung

-2083

Leiterin: Cornelia Weis

Soziales

-3309

Referat 621 Allgemeine Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsförderung, Grundsicherung für Arbeitsuchende Leitung: Andrea Roth -2022 Leonie-Sophie Schröder -2373

Referat 629 Gesundheitsfachberufe, Fachkräfteinitiative Gesundheitsfachberufe Heiko Strohbach -2320 Dr. Prisca Rosenbach (auch 6210) -2359

Referat 631 IT-Management und -Recht, Steuerung des Landesbetriebes Digitales Philipp Römer -3299 Jan Potthoff -3491 N.N.

Referat 622 Arbeits- und Beschäftigungspolitik, Fachkräftesicherung, Transformation, Jugendarbeitsmarktpolitik, Arbeitsmigration Leitung: Dr. Kay Bourcarde -2040 York Wilhelm Scheile -5048

Referat 6210 Umsetzung des Pflegeberufereformgesetzes, Schwerpunkt Ausgleichsfonds und Finanzierungsstruktur Leitung: Roland Krick -2336 Dr. Prisca Rosenbach (auch 629) -2359

Referat 632 Ressortübergreifende Informationssicherheit Dr. Oliver Gabel Marion Poel

Referat 623 Europäische Arbeitsmarktpolitik, Europäischer Sozialfonds Leitung: Regina Wicke -2351 Ralf Escher -5019

Referat 6211 Weiterbildungsgesetz, Schwerpunktthemen, Modellprojektförderung Sybille Straßner

-5469

Referat 633 Zentrale Steuerung, IT-Controlling, IT-Finanzsteuerung Dietmar Barth -3719 Detlef Poulet -3430

Referat 624 Arbeitsrecht, Gewerkschaften, Landestariftreuegesetz (Mindestentgelt), Konversion Birgit Belz -2363

Referat 6212 Bildungsfreistellungsgesetz, Weiterbildungspreis Claudia Gruno -4537 N.N.

Referat 634 E-Government, Kooperation mit EU, Bund, Ländern und Kommunen Otmar Henzgen -3588 Marcel Boffo -3246

Referat 625 Rentenversicherung Wiebke Geismar

Referat 6213 Digitalisierung in der Weiterbildung, Alphabetisierung und Grundbildung (GrubiNetz, ESF), Alpha Portal, Weiterbildungsportal Sabine Caron (auch 6214) -5458 N.N.

Referat 635 E-Akte Dialog RLP, Digitalisierung der Vorgangsbearbeitung Roman-Tibor Stache -3341 Susanne Burmeister -3873

-5880

Referat 626 Sozialer Arbeitsschutz, Landestariftreuegesetz (ÖPNV/SPNV) Lothar Schuster -2023

Referat 627 Technischer Arbeitsschutz Anja Petri -2041

Referat 628 Gesunde Betriebe, Medizinischer Arbeitsschutz, Betriebliches Gesundheitsmanagement Ursula Fuchs -2097

Bundesrat und Grundsatz (BRGR) Bundesrat, Fachministerkonferenzen, Länderkoordinierung, politische Planung Roland Schäfer -2034

Abteilung 63

Arbeit und Transformation

Referat 611 Personalverwaltung, Personal- und Organisationsentwicklung Franz Braun -4436 Nadine Pepe -2028

Referat 613 Haushalt, Finanzplanung Jürgen Dorsch

Staatssekretär Fedor Ruhose

-4485

Referat 6214 Alphabetisierung und Grundbildung (Initiative Alphabetisierung und Grundbildung, Alphabetisierung für Geflüchtete), Weiterbildung und Europa Sabine Caron (auch 6213) -5458 N.N.

-3921 -3321

Referat 636 Digitale Infrastrukturen, Gigabit-Kompetenzzentrum Raymond Twiesselmann -3843 Margarita Dvorina -3290 Anke Milke -3310

Leiter: Joachim Speicher

Referat 642 Drogenbeauftragte, Suchtprävention, Suchtkrankenhilfe Sabine May -4655

Referat 643 Inklusion Axel Merschky Katrin Meuthen Christian Schlüter (auch 641)

Referat 645 Pflege, Gut leben im Alter Bernd Aichmann -2381 Fabia Heischling -2053 Marion Hilden-Ahanda -2055 Referat 646 Neue Wohnformen, Grundsatzfragen des Demografischen Wandels Christoph Beck -4484

Vorsitzender des Personalrats: Peter Rompf (2379)

DIENSTSITZ MAINZ: Geschäftsbereich des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Paula Tetzlaff -4695

Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen: Mario Müller (2037)

DIENSTSITZ BRÜSSEL: Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Koordinierung der Europaangelegenheiten Dr. Jacqueline Chabrny

030/72629-1138

75-1025

-2699 -5040 -5015

Referat 644 Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende Gerhard Vogt -2063

Referat 637 Grundsatzfragen der Netzinfrastruktur und Telekommunikationspolitik, Clearingstelle Mobilfunk N.N.

Gleichstellungsbeauftragte: Marion Sölter (2066)

-4477

Referat 641 Grundsatzfragen der sozialen Sicherung und Armutsbekämpfung, Schuldnerberatung, Betreuungswesen, Soziales Entschädigungsrecht Leitung: Olaf Noll -2394 Christian Schlüter (auch 643) -5015

Spiegelreferate in der Staatskanzlei

DIENSTSITZ BERLIN: Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Koordinierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Clarissa Göbel

Grafik: Behörden Spiegel-Gruppe Quelle: Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Stand: Juli 2021



Kommune Behörden Spiegel

www.behoerdenspiegel.de

Berlin und Bonn / Juli 2021

Aufgreifschwelle versus Giganetz

KNAPP Geld für Krankenhäuser

So schmal ist der deutsche Breitbandausbau

(BS/mj) “Kommunale Kranken-

(BS/Malin Jacobson) Wenn in der Videokonferenz mal wieder die Bilder stehen bleiben, jede Mail mit mehr als vier PDFs im Postausgang festhängt und der WeTransfer gute 20 Minuten häuser sind zusammen mit den in Anspruch nimmt, hat man es mit deutschem Breitband-Internetzugang zu tun. Kein Wunder, dass es sich viele Firmen gut überlegen, unter welchen digitalen Infrastrukturvorausset- Universitätskliniken das Rückzungen und damit an welchem Standort sie arbeiten möchten. Dabei ist es gerade der Markt, der bremst. grat einer hochwertigen GeDer Bericht der Bundesregierung zur Zwischenbilanz zur Umsetzung der Maßnahmen der Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse spricht hingegen von guten Entwicklungen bei der Breitbandverfügbarkeit. Seit Mitte 2020 hätten bereits 77,1 Prozent der ländlichen Haushalte einen Breitbandanschluss mit mindestens 50 Mbit/s. Ende 2016 waren es nur 33,8 Prozent, wodurch sich ein Wachstum von 43 Prozentpunkten ergibt. Auch in städtischen Gebieten gab es eine positive Entwicklung von 89,5 Prozent Ende 2016 zu 97,8 Prozent Mitte 2020. Das StadtLand-Gefälle konnte also abgebaut werden. Mitte 2020 hatten demnach mehr als 93 Prozent aller Haushalte Breitbandanschlüsse, die Downloadraten von mindestens 50 Mbit/s ermöglichen. Allerdings: Rund drei Millionen Haushalte sind nach wie vor ohne Breitbandanschluss.

Glasfaserausbau kommt nur zögerlich voran Die Frage bleibt, wie es mit dem Breitbandausbau weitergeht. Schließlich seien die 50 Mbit/s immer nur ein Etappenziel gewesen, sind sich Dr. Klaus Ritgen, Referent beim Deutschen Landkreistag, sowie Dr. Uda Bastians, Beigeordnete beim Deutschen Städtetag, einig. Ritgen betont sogar, es wäre besser gewesen, schon die Weiße-Flecken-Förderung direkt auf ein Glasfaser-Ziel auszurichten. Und er ergänzt, bei den noch laufenden 50-Mbit/sProjekten handele es sich um Vorhaben aus der ersten Phase der Weißen-Flecken-Förderung. Inzwischen gebe es auch in diesem Programm nur noch für den Gigabitausbau Fördermittel. Bastians fordert, dass allen Haushalten möglichst bald ein Gigabit zur Verfügung stehen müsse.

von Trenching nach zehn Jahren ausgetauscht werden müssen, wäre das eine nicht tragbare finanzielle Mehrbelastung für die Kommunen, sind sich Bastians und Ritgen einig. Zudem sind laut dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) Bundesautobahnen und autobahnähnlich ausgebauten, Bundesfernstraßen von Trenching nach wie vor ausgenommen. Nur Landes- und Kommunalstraßen kämen infrage.

Aufgreifschwelle

Es gibt noch viel zu tun, bis alle Haushalte an schnelles Internet angeschlossen sind. Während manche Gegenden bereits von Gigabitnetzen träumen dürfen, befinden sich andere noch in der Warteschleife. Foto: BS/©kirill_makarov, stock.adobe.com

Für Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmer im Homeoffice sowie Unternehmen seien die 1.000 Mbit/s des Gigabitnetzes notwendig, um reibungslos arbeiten zu können. Laut Bundesminister Andreas Scheuer will man dies flächendeckend bis 2025 ausbauen. Der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. (VATM) rechnet dagegen erst für das Jahr 2030 mit flächendeckend verfügbaren Glasfaseranschlüssen, sodass Scheuers Gigabit-Ziel 2025 schwierig umzusetzen sein wird. Einen Grund für den weiter lückenhaften Ausbau nennt Bastians: “Im Rahmen der Weißen-Flecken-Förderung wurde Glasfaser bisher häufig nur bis zum Verteiler gelegt, nicht bis zum Haus. Für die letzte Meile ist es dagegen beim alten Kupfer­ kabel geblieben.” Selbst wenn ein

Haus bereits an das Glasfasernetz angeschlossen sei, bestehe eine weitere Herausforderung darin, die Glasfaser vom Hausanschluss im Keller bis in die Wohnung zu bringen, betont Ritgen. Ältere Immobilien nachträglich mit Glasfaserleitungen auszustatten, sei nur mit Einwilligung der Hauseigentümer möglich.

Trenching Hoffnung könnte das 2020 gestartete DIN-Normverfahren zur Trenching-Technologie geben, mit der sich schnell große Entfernungen überwinden lasse: Trenching ist, so die Bundesregierung, ein alternatives Verlegeverfahren, bei dem anstelle eines in Handschachtung oder mit dem Bagger erstellten Grabens ein schmaler Schlitz in die Oberfläche gefräst wird, um Leerrohre und Glasfaserkabel

verlegen zu können. Allerdings erklärt Ritgen: “Dieses Verfahren bietet für den ländlichen Raum kaum Vorteile. Hier ist es viel schneller und kostengünstiger, die Kabel im Straßengraben zu verlegen und dann mit einem ausreichenden Schutz zu versehen.” Auch für den städtischen Raum sei das Verfahren eher ungeeignet, ergänzt Bastians. Denn in den Städten lägen bereits viele Kabel und Rohre in den Straßen und der Bodenbelag könne daher nicht ohne Weiteres aufgefräst werden. Spätere Sanierungsarbeiten an den Leitungen unter der Straße würden sonst viel zu schwierig und teuer. Hinzu kommt die Sorge vor Langzeitschäden. Denn noch gibt es keine Erfahrungen dazu, wie sich ein solcher Schlitz auf den Zustand des Straßenbelages auswirkt. Sollten Straßen als Folge

Der Referent des Deutschen Landkreistages sieht auch ohne Trenching viel Pozential in den ländlichen Gebieten. Da in ländlichen Gegenden die Infrastruktur generell weniger ausgebaut sei als in urbanen, sei dort die Bereitschaft für große Sprünge, beispielsweise von 30 auf 1.000 Mbit/s – und die damit einhergehenden Kosten – vergleichsweise hoch. Dem steht jedoch nach wie vor die Aufgreifschwelle entgegen. Sie ist bis 2023 bei 100 Mbit/s angesetzt und verhindert überall dort, wo Vectoring mit 100 oder 200 Mbit/s zum Einsatz kommt, die flächendeckende Förderungen des Breitbandausbaus – zum Schutz des freien Marktes. Ritgen fordert daher: “Die Aufgreifschwelle muss fallen. Sofort!” Er gibt zudem zu bedenken, dass nicht absehbar sei, wie viel Geld für die zweite und dritte Förderstufe vorhanden sein werde, da in NachpandemieZeiten das Geld wohl anderweitig investiert werde. Und Bastians fordert: “Es muss möglich sein, auch dort, wo schon Kabelnetze vorhanden sind, Glasfasernetze mit Förderung auszubauen. Nur so können wir Druck auf die Netzbetreiber aufbauen und sie zum Glasfaserausbau motivieren.”

sundheitsversorgung”, erklärt Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages. Allerdings seien diese chronisch unterfinanziert, sodass die kommunalen Träger zum Ausfallbürgen würden, um die Krankenhäuser erhalten zu können. Hier sieht Saarbrückens Oberbürgermeister Uwe Conradt den Bund in der Pflicht und fordert schnelle und unbürokratische Hilfen. Michael Cerny, Oberbürgermeister der Stadt Amberg, ergänzt: “Die zunehmende Verlagerung der Kosten im Gesundheitswesen auf die Kommunen nimmt uns die finanziellen Spielräume zur Umsetzung wichtiger Aufgaben wie beispielsweise im Bildungsbereich oder bei der Verkehrswende.” Jung fordert: “Die Länder müssen endlich ihrer Investitionspflicht nachkommen und den Investitionsstau von 30 Milliarden Euro auflösen.”

245 Kilometer Gleis reaktiviert

(BS/mj) Im Sinne des Klimaschutzes will die Deutsche Bahn (DB) 20 stillgelegte Strecken reaktivieren und damit mehr Nahverkehr in die Fläche bringen. “Wir wollen mehr Menschen für die Bahn gewinnen, mehr Güter auf die Schiene bringen”, erklärt Jens Bergmann, Vorstand Infrastrukturplanung und -projekte der DB Netz. Mit dieser Entwicklung gehen aber auch Forderungen für zukünftige Entwicklungen einher. “Die nächste Bundesregierung ist gefordert, die Hürden für weitere Reaktivierungen zu senken. Die bisherigen Bewertungskriterien ignorieren die sozialen Aspekte einer Schienenanbindung und berücksichtigen zu wenig die Umweltvorteile des Schienenverkehrs,” meint Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene.

Forum für Kämmerei und Kassenwesen, Beteiligungen, Personal, Organisation und Rechnungsprüfung

Kommunaler Finanzgipfel

31. August – 1. September 2021, GOP Varieté-Theater, Bundesstadt Bonn

Referent*innen, u. a.: Prof. Dr. Dörte Diemert, Stadtkämmerin, Stadt Köln

Uwe Zimmermann, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.finanz-gipfel.de

Dr. Ute Jasper, Rechtsanwältin & Partnerin der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK

Manfred Uhlig, Kämmerer, Hansestadt Lübeck

Veranstalter

Unterstützung Weiterbildung Erfahrungsaustausch

Fotos: © Stadt Köln (Diemert); © DStGB (Zimmermann)

Je nach Pandemielage wird die Tagung virtuell durchgeführt.


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Behörden Spiegel / Juli 2021 DIGITALE

AGENDA2025 Deutschland wird digitalisiert

G

roße Verantwortung lastet und lastete auf den Schultern der Verantwortlichen in den Gesundheitsämtern. So sollen die rund 400 Gesundheitsämter neben ihren sonstigen Aufgaben Kontakte von Corona-Infizierten nachverfolgen und erhobene Daten an das Robert Koch-Institut (RKI) für ein gesamtdeutsches Lagebild weiterleiten. Besonders bei der Nachverfolgung geraten die Ämter an ihre Grenzen. Zeitweise müssen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr aushelfen. Ein Vorwurf lautet, dass die Ämter im 21. Jahrhundert immer noch mit Bleistift und Papier sowie Fax gegen ein unsichtbares Virus kämpften. Von einer digitalen Lösung sei man weit entfernt.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht DIGITALE

AGENDA2025 Deutschland wird digitalisiert

Nachholbedarf im Gesundheitswesen (BS/Bennet Klawon) In Krisen treten die Versäumnisse der Vergangenheit offen zutage. Die Corona-Pandemie hat die Defizite nun unter ein ­Brennglas gestellt. Dabei sticht der Bedarf der Digitalisierung im Gesundheitswesen besonders hervor. Die Liste reicht von der elektronischen ­Patientenakte, Telemedizin, digitalen Gesundheitsanwendungen hin zu der Digitalisierung von Meldeprozessen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Ein pragmatisches Herangehen ist gefragt.

“Kein Wechsel im Galopp” Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Dr. Kay Ruge, Stellvertreter des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Landkreistages (DLT). Zwar habe man “dann und wann” mit Excel-Tabellen für die Kontaktnachverfolgung gearbeitet, aber dies und Faxe gehörten der Vergangenheit an. Man habe immer mit Fachverfahren und E-Akten gearbeitet und sei in der Lage gewesen, Daten in digitaler Form vor Ort in den Systemen zu haben. “Woran es krankt, sind digitale Meldewege, Interoperabilität und Plattformen zum Austausch”, so Ruge auf dem Digitalen Katastrophenschutz-Kongress. Außerdem sei das Problem gewesen, dass das “Deutsche Elektronische Meldeund Informationssystem für den Infektionsschutz” (DEMIS), über das Daten von den Gesundheitsämtern zum RKI gesendet werden, viel zu spät gekommen sei. “Wir bekommen 15 Jahre Digitalisierungsrückstand nicht in einem Jahr aufgeholt”, betont Ruge. Wenn über fehlende Interoperabilität diskutiert wird, fällt auch immer ein Name: SORMAS@DEMIS. Dies steht für “Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System”. Das System soll schrittweise in DEMIS integriert werden. Es wurde von Expertinnen und Experten der Helmholtz-Gemeinschaft entwickelt und soll den Gesundheitsämtern ein einfacheres Nachverfolgen von Kontakten von Corona-Infizierten und eine einheitliche Dokumentation von Symptomen ermöglichen. Wie viele Gesundheitsämter diese Software nutzen, ist auch nach Forderungen aus der Bundespolitik zur Implementierung in den Ämtern unklar. Zwar hätte viele Ämter dieses Fachverfahren nun installiert, jedoch würde es nicht benutzt werden. Der Vertreter des DLT sieht hierfür mehrere Gründe: “Kein Mensch ändert in einer laufenden

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ie Corona-Pandemie hat die Versäumnisse der Vergangenheit deutlich aufgezeigt. Es wurde uns schmerzlich bewusst, dass wir im internationalen Vergleich zurückliegen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir unseren Rückstand aufholen werden. Wir haben dazu seit Beginn der Legislaturperiode mit der elektronischen Patientenakte und dem elektronischen Rezept, der Schaffung eines neuen Zugangs für digitale Gesundheitsanwendungen, der Förderung der Telemedizin oder auch der Etablierung eines Forschungsdatenzentrums wichtige Schritte unternommen. Jetzt geht es darum, den Durchbruch zu schaffen – für moderne Technik und intelligente Arbeitssteuerung, damit Ärzte, Pflegekräfte und Kliniken ihre Arbeitszeit nicht mit Formularen, Dokumentationen und immer mehr Bürokratie verbringen, sondern mehr Zeit für eine gute Versorgung haben. Denn die Gesundheitswelt der Zukunft wird vernetzter, digitaler

Die Probleme des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) wurden lange verschlafen. Die Corona-Pandemie hat die Politik jedoch wachgerüttelt. Foto: BS/Sammy-Williams, pixabay.com

Pandemie sein System, weil man seine Mitarbeiter dafür schulen muss, eine Datenmigration durchführen muss oder man Datenverluste befürchtet.” SORMAS sei keine schlechte Anwendung, jedoch sei Zwang falsch. Ruge ist der Meinung, dass man sich in der Politik von der Idee lösen müsse, dass nur eine Lösung der Königsweg der Digitalisierung sei. Es brauche Lösungen, die interoperabel seien. Man brauche dringend Schnittstellen zwischen den verschiedenen Fachanwendungen. Dr. Jakob Schumacher, Sprecher der Arbeitsgruppe Digitalisierung beim Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), hält DEMIS für den richtig Weg. Es sei eine gute Lösung, aber der Komplex “Meldesoftware” sei vor der Pandemie eher ein Spezialthema gewesen. “Vorher waren wir im Dornröschenschlaf, was die Digitalisierung des ÖGD angeht, wie bei allen anderen Behörden auch. Die Pandemie hat uns wachgerüttelt”, sagt Schumacher. Was das Thema der Meldesoftware angeht, brauche es eine einheitliche Plattform, um einheitliche Daten zu bekommen. Dabei gehe nicht nur um die Infektionszahlen, sondern auch um mehr Variablen. Das Problem sei nur gewesen, dass man sich in der Politik sehr überhastet für eine Lösung entschieden habe, so Schumacher.

“Software poolen” Der Bund versucht durch den Pakt für den ÖGD, der im Zuge der Corona-Pandemie auf den

Weg gebracht wurde, dem Digitalisierungsrückstand entgegenzuwirken. Bis 2026 stellt der Bund rund vier Milliarden Euro bereit. Aus diesen Mitteln fließt ein Teil in die Digitalisierung des ÖGD. Das entscheidende Ziel sei es, eine Interoperabilität über alle Ebenen hinweg sicherzustellen. “Zur Beschleunigung und Vereinfachung von Meldeverfahren werden zentrale Plattformen des Bundes geschaffen, bereitgestellt und deren konsequente Nutzung vorangetrieben”, heißt es vom Bundesgesundheitsministerium (BMG). Diese Plattform soll natürlich DEMIS sein. Bis Ende 2022 soll sie in allen Gesundheitsbehörden von Bund und Ländern zur Verfügung stehen. Zwar gibt der Bund die Plattform vor, jedoch sollen die Länder dafür Sorge tragen, dass die gemeinsam festgelegten Mindeststandards erfüllt werden und der ÖGD digital zukunftsfähig wird. Doch die Meldewege sind nur ein Defizit im digitalen Gesundheitswesen. “Die Gesundheitsbehörden sind mehr als nur Meldeplattformen. Der reine Fokus auf die Meldesoftware in den Medien ist nicht zielführend”, betont Schumacher eindringlich. Es gebe andere Probleme bei der Digitalisierung. Der Stand der Digitalisierung bei den Gesundheitsämtern sei sehr unübersichtlich, da die zuständigen Amtsleiterinnen und Amtsleiter den Prozess in ihrer Behörde selbstständig vorantreiben könnten. Schumacher fordert, dass

die vielen angestoßenen E-GovProzesse erst einmal zu Ende gebracht werden müssten. Problematisch bei der Beschaffung von IT für den ÖGD sei, dass es zwar relativ viele innovative IT-Unternehmen gebe, diese aber klein seien. Dies habe zur Folge, dass der Support und die Updates nur langsam vonstattengingen. Das Geld für Software großer Unternehmen fehle. Schumacher hat jedoch eine Idee zur Lösung dieses Problems. So sollen sich mehrere kommunale Behörden bei der Beschaffung zusammentun und Software poolen. So können Behörden mit ähnlichen Aufgaben auf die gleiche Software zurückgreifen, um mehr Mittel aufwenden zu können.

Nicht global gedacht Das Problem bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sei weniger, dass es keine interoperablen Lösungen gebe, sondern dass nicht global gedacht werde, sagt Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Sylvia Thun, Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein und Direktorin des Competence Centers eHealth am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH). In kleinen Bereichen wie Krankenhäusern gebe es Anwendungen, die schon seit einigen Jahren funktionierten. “Was immer wieder das Problem darstellt, ist die Außenanbindung. Wie können Krankenhäuser mit Patienten kommunizieren, wie können niedergelassene Ärzte untereinander kommunizieren? Das fehlt vollkommen in Deutschland. In der Pandemiephase ist uns dies natürlich noch mal klar geworden”, so Thun.

Deutschland hängt im ­Vergleich hinterher Ein Sachverständigenrat, der im Auftrag der Bundesregierung ein Gutachten zur Entwicklung im Gesundheitswesen erstellt hat, kommt zu einem vernichtenden Ergebnis: “Deutschland steht bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems weit hinter anderen Ländern zurück. Es zeigt sich ein dringlicher Bedarf an strukturellen, informationstechnologischen, organisatorischen und rechtlichen Verbesserungen im Hinblick auf Fehlerfreiheit

und Effizienz in der Versorgung, auf flächendeckende Implementierung des medizinischen Fortschritts einschließlich der Verarbeitung von Informationen sowie auf sektorenübergreifende Kommunikation.” Der Rat empfiehlt deshalb eine Strategie zur Digitalisierung des Gesundheitswesens. Ziel müsse es sein, ein dynamisch lernendes Gesundheitssystem zu ermöglichen. Als Maßstab für den Erfolg der Digitalisierung müsse das Patientenwohl dienen. Die Debatte um die Digitalisierung müsse zudem anders als bislang geführt werden. Dies bedeute, dass alle Aspekte und Normen der Gesundheitsversorgung in diese Diskussion mit eingebracht und auch ins Verhältnis zueinandergesetzt werden müssten. Konkret illustrieren die Autoren des Gutachtens dies an dem Beispiel der informationellen Selbstbestimmung. Diese stehe – das habe die Pandemie gezeigt – nicht nur im Abwägungsverhältnis zum eigenen Wohl, sondern auch im engen Verhältnis zum Wohl anderer Menschen. Digitalisierung könne also nicht nur von einer individuellen Warte aus betrachtet werden. Dies habe auch Auswirkungen auf den Umgang mit dem Datenschutz.

“Datensparsamkeit von der Realität überholt” Ob nun bei der Kontaktnachverfolgung im Restaurant oder bei der Corona-Warn-App – der Datenschutz dominierte wie kaum ein anderes nicht-medizinisches Thema den Kampf gegen die Pandemie. Die unmittelbaren Vorteile einer schnellen Datenauswertung zur Kontrolle von Infektionen standen nie zur Debatte. Doch zu einer wirklich effektiven Anwendung kam es nie. “Wir brauchen keine überbordende Interpretation, was Datenschutz ist”, kritisiert Ruge. Wenn aus Furcht vor dem Datenschutz pragmatische Lösungen verhindert würden, sei dies ein Problem. Es brauche auch auf europäischer Ebene eine bessere Handhabbarkeit des Datenschutzes. Ruge ist überzeugt, dass es keine Notwendigkeit für Landesdatenschutzgesetzte oder evangelischen bzw. katholischen Datenschutz gebe, wenn schon alles auf europäischer Ebene geregelt sei.

Chancen der Digitalisierung nutzen Die Gesundheitswelt der Zukunft wird digital und vernetzt sein! (BS/Erwin Rüddel) Deutschland muss die Chancen der Digitalisierung aller Lebensbereiche entschlossen nutzen. Das gilt insbesondere für unser Gesundheitswesen – und da vor allem für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. und schneller sein als heute. Kompetenzen werden über Telemedizin an vielen Orten verfügbar sein und Aufgaben der Medizin werden zunehmend an gut ausgebildete Gesundheitsberufe delegiert werden. Der Weg in diese digitale Welt ist nicht mehr aufzuhalten. Medizin, Pflege und andere Gesundheitsberufe werden stärker auf Augenhöhe zusammenarbeiten. In vielen anderen Ländern in Europa und in der Welt wird das heute schon praktiziert. Ein Umbau der Krankenhauslandschaft wird begleitet werden müssen durch eine optimierte Patienten- und Personalsteuerung, entlastende Dokumentationssysteme, vorausschauende Logistik, durch Telemedizin und technische Assistenzsysteme.

Nicht überall wird man jede Kompetenz vorhalten können, aber man wird über moderne Kommunikationssysteme ein Mehr an Kompetenz jedem Ort zuleiten können.

Deutschland liegt zurück Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz mobilisieren wir 4,3 Milliarden Euro – drei Milliarden vom Bund, weitere 1,3 Milliarden von den Ländern – für zukunftsweisende Notfallkapazitäten, für Digitalisierungsprojekte und für IT-Sicherheit. Das ist dringend nötig, denn auf der internationalen EMRAM-Skala, die den Digitalisierungsgrad der Krankenhäuser misst, liegt Deutschland mit einem Wert von ca. 2,5 (von möglichen sieben) noch immer deutlich hinter einigen Nachbar-

Aber auch im ambulanten Bereich wird die Digitalisierung zu Erwin Rüddel (CDU), MdB, ist Vorsitzender des Auseiner verbesserten schusses für Gesundheit im Diagnostik fühBundestag. ren und die The Foto: BS/Dieter Klaas rapiesicherheit erhöhen. Viele Entscheidungen werden künftig im häuslichen und ländern und den USA zurück. privaten Umfeld des Patienten Investitionen in die Digitalisie- getroffen. Der Patient der Zukunft rung sind gerade im Bereich der wird über Telemedizin und KI in Krankenhäuser von besonderer die richtige Versorgung geleitet Bedeutung. Die elektronische werden. In der Pflege setzen wir auf alPatientenakte, weniger Reibungsverluste an den Sektorengrenzen, tersgerechte Assistenzsysteme ein verbessertes Entlassmanage- und E-Health-Lösungen. Sowohl ment – das alles kann nur funk- in der häuslichen Umgebung – tionieren, wenn auch die digitale Stichwort: “intelligentes Heim” Infrastruktur vorhanden ist. – wie auch in den Pflegeheimen

Dem kann sich Schumacher an­schließen. Datenschutz sei gerade im Bereich des Gesundheitswesens besonders wichtig, aber der momentane Datenschutz sei eher ein “verhindernder Schutz”. Es bräuchte aber einen proaktiven Datenschutz. Dafür seien aber ausgewiesene Experten in den Behörden notwendig. Diese seien aber nicht im ausreichenden Maß vorhanden. Schumacher macht die Datenschutzproblematik an einem einfachen Beispiel anschaulich. Die Datenschutzverordnungen ließen bei der Kontaktnachverfolgung keine Benachrichtigungen per E-Mail zu, da diese zu unsicher seien. Es bleibe dann nur die Möglichkeit der postalischen Benachrichtigung, die mehrere Tage in Anspruch nehme. In einer Pandemie ist dies Zeit, die man nicht habe. Deshalb müsste in den Gesundheitsämtern häufig den betroffenen Personen hinterhertelefoniert werden. Hier gebe es Verbesserungsbedarf. Auch aus diesen Gründen fordert der Expertenrat einen neuen Umgang mit Gesundheitsdaten und Datenschutz: “Die alte Maxime der unbedingten Datensparsamkeit und strengen Zweckbindung ist von der Realität überholt worden. Vor allem aber wird sie nicht mehr dem Anrecht jedes und jeder Einzelnen auf optimale Verarbeitung seiner und ihrer Daten zum Schutze seines und ihres Lebens, zum Schutze seiner und ihrer Gesundheit gerecht.” Datenschutz müsse als Teil des Ganzen und nicht als Gegenteil begriffen werden. Es müsse eine “sichere” Nutzung von Gesundheitsdaten für bessere Versorgung ermöglicht werden.

Nach der Pandemie Doch was bleibt nach der Pandemie? Schumacher ist gespannt, ob die Versprechen des Paktes für den ÖGD erfüllt werden. Dieser könne funktionieren. Es hänge jedoch viel vom politischen Willen ab, vor allem nach der Pandemie. Es besteht aus seiner Sicht die Gefahr, dass, “wenn die Luft raus ist, viele Prozesse in sich zusammenfallen”. Doch dies muss nicht sein. “Digitalisierung findet in den Köpfen statt”, zeigt sich Schumacher überzeugt. Nötig seien dafür engagierte und fitte Leute in den Gesundheitsbehörden, die den Wandel vorantrieben. Viele Bereiche und Behörden fristeten vor der Pandemie ein Schattendasein. Diese standen nun schlagartig im Mittelpunkt. Diese Aufmerksamkeit sollte nicht ungenutzt bleiben, um neue Kräfte für den ÖGD zu finden. Es bleibt also abzuwarten, ob die Lehren aus der Krise gehört und umgesetzt werden. Denn nach der Krise ist auch vor der Krise.

werden digitale Innovationen die Pflegekräfte wirksam entlasten, damit sie sich auf die Zuwendung für ihre Patienten konzentrieren können. Bei alldem kann ich mir nach den aktuellen Erfahrungen in der Pandemie vorstellen, dass wir in der nächsten Legislaturperiode nochmals eine vertiefende Diskussion über die richtige Balance von Datenschutz und technologischem Fortschritt führen müssen. Wir haben immer davon gesprochen, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben. Ungeachtet diverser Mängel hat gerade die Corona-Krise bewiesen, dass es tatsächlich so ist. Damit sich unser Gesundheitssystem auch in Zukunft bewährt, ist dessen beschleunigte Digitalisierung allerdings unerlässlich. Dabei ist entscheidend, dass Bund und Länder an einem Strang ziehen und für eine auskömmliche Finanzierung Sorge tragen.


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Digitalisierungsturbo als Dauerbrenner

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ie Politik hat dies im vergangenen Jahr erkannt – und gehandelt. Der im September 2020 beschlossene “Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst” sieht zusätzliche Ausgaben von rund vier Milliarden Euro für den ÖGD vor, 800 Millionen Euro davon sollen bis Ende 2025 in die Digitalisierung fließen. Ein wichtiger Schritt. Die Beschäftigten im ÖGD haben nicht nur gegen die Pandemie gekämpft, sie haben auch einen gewaltigen Digitalisierungssprung gestemmt. Mit DEMIS wurde flächendeckend ein digitales Meldesystem für SARS-CoV-2-Erreger umgesetzt, das unter anderem den Transfer der Daten von den Laboren an die Gesundheitsämter umfasst. Mit SORMAS wurde ein digitales Werkzeug zum Kontaktpersonenmanagement in fast allen Ämtern implementiert. Aber nicht nur innerhalb des ÖGD vollzieht sich der digitale Wandel. Die Gesundheitsämter nutzen auch in der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern neue Tools, zum Beispiel den CovBot, einen KI-gestützten Sprachassistenten. Doch an der DigitalisierungsFront bleibt noch viel zu tun. Ganz grundsätzlich gilt: Die Digitalisierung ließe sich mit einheitlicheren Prozessen in den Ämtern schneller vorantreiben. Daran gilt es zu arbeiten. Da­ rüber hinaus sind vor allem folgende fünf Punkte anzugehen:

Der Öffentliche Gesundheitsdienst im Fokus (BS/Dr. Ute Teichert) Die Pandemie hat den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dabei sind zwei Schwächen offenkundig geworden: Die viel zu geringe personelle Ausstattung der Gesundheitsämter und die Defizite bei der Digitalisierung. Beide Punkte sind nicht erst kürzlich entstanden, sondern das Ergebnis einer jahrelangen Vernachlässigung. Die dritte Säule des Gesundheitswesens wurde viel zu lang behandelt wie das dritte Rad am Wagen.

1. Bessere Hard- und Software-Ausstattung Dazu gehört vor allem die technische Ausstattung, um mobiles Arbeiten zu ermöglichen: Laptops und Tablets für alle Beschäftigten, die mobil arbeiten. Auch WLAN und Videokonferenz-Programme (inklusive Headset und Kamera) müssen in allen Ämtern zur Verfügung stehen, ebenso zwei Monitore für Beschäftigte, die viele Daten am Bildschirm bearbeiten. Erste Schritte sind bereits getan: Mit Agora steht dem ÖGD in Kürze eine Kollaborations-Plattform zur Verfügung, die den Informationsaustausch erheblich verbessern könnte.

2. DigitalisierungsQualifikation fördern Für die Beschäftigten des ÖGD sind Digitalisierungs-Ausbildungen zu ermöglichen. Entsprechende Qualifizierungen sollten auch mit Aufstiegsmöglichkeiten versehen werden, um Anreize zu schaffen, sich auf diesem Gebiet zu engagieren. Und auch für diejenigen, die sich nicht zum Digitalisierungs-Motor berufen

große Rolle. Denn sie wollen und sollen mit den Bürgern über sichere, digitale Kanäle kommunizieren können, zum Beispiel für Terminvergaben oder den Zugang zu Angeboten wie Frühen Hilfen.

4. Vernetzung der Systeme

Mit rund 800 Millionen Euro soll die Digitalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) vorangetrieben werden. Foto: BS/klimkin, pixabay.com

fühlen, sind vielfach Angebote flächendeckender Schulungen nötig, um Standard-Software versiert einsetzen zu können.

3. ÖGD in die TI – für sichere Kommunikationswege Derzeit spielt der ÖGD beim größten Digitalisierungsprojekt Deutschlands nur eine Nebenrolle: der Telematikinfrastruktur (TI). Die Anwendung KIM (Kom-

munikation im Medizinbetrieb) wird derzeit ausgerollt und ermöglicht den sicheren Austausch von Daten. Die Gesundheitsämter sind darauf noch nicht eingestellt – und laufen Gefahr, den Anschluss an die anderen Akteurinnen und Akteure zu verlieren. Noch im Aufbau befinden sich sichere Messenger-Kommunikationswege. Die spielen natürlich auch für Gesundheitsämter eine

Durch interoperable Schnittstellen ist eine Vernetzung der IT-Systeme zwischen den Gesundheitsämtern und anderen Akteure anzugehen, sodass Datenaustausch und -auswertung flächendeckend möglich sind. Bis dato gibt es viel zu viele Insellösungen; stattdessen sind vernetzte Systeme nötig, die natürlich die Anforderungen an Datensicherheit und -schutz erfüllen müssen. Wünschenswert wäre auch ein zentraler Wegweiser bzw. eine Plattform für Gesundheitsämter, die über digitale Tools informiert, die entsprechende Anforderungen erfüllen.

5. Attraktive Bezahlung und unbefristete Stellen Digitalisierung ist kein Projekt, das am Tag X abgeschlossen ist. Digitalisierung ist ein Prozess, den der ÖGD kontinuierlich vo­rantreiben muss. Dafür benötigen wir qualifiziertes und motiviertes Personal – und das dauerhaft. Um IT-Expertinnen zu gewinnen, ist eine attraktive Bezahlung nötig. Die im Rahmen des Paktes für den ÖGD vorgesehenen Stellen sind derzeit nur befristet zu besetzen; Expertinnen und Experten aus dem IT-Bereich sind so schwer zu gewinnen. Wir brauchen unbefristete Stellen für die Daueraufgabe Digitalisierung. Um den ÖGD zu einer leistungsstarken dritten Säule in der Gesundheitsversorgung auszubauen, muss die Politik in der kommenden Legislaturperiode die Weichen für eine nachhaltige personelle und finanzielle Ausstattung stellen. Dann wäre der ÖGD für die nächste Pandemie viel besser gerüstet.

Dr. med. Ute Teichert, MPH, ist Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf und Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BVÖGD). Foto: BS/privat

Großer Nachholbedarf und große Chancen

Wer für die Zukunft plant, braucht die Expertise

Digitalisierung in Krankenhäusern

Bei der Digitalisierung der Kliniken müssen Ärztinnen und Ärzte mitreden können

(BS/Dr. Gerald Gaß) Die Pandemie hat gezeigt, dass in Deutschland großer Nachholbedarf bei der Digitalisierung herrscht. Auch Krankenhäuser können in noch viel stärkerem Maße von digitalen Lösungen bei E-Health, Telemedizin, Künstlicher Intelligenz, Robotik und Big Data profitieren. Die Digitalisierung bietet enormes Potenzial, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus zu entlasten. Die Fördertatbestände des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) geben einen guten Überblick, wie Krankenhäuser, deren Beschäftige und die Patientinnen und Patienten von der Digitalisierung profitieren können. Die einheitliche, digitale Behandlungsdokumentation (Fördertatbestand 3) sowie insbesondere Patientenportale (Fördertatbestand 2) bilden die Grundlage für die Kommunikation mit allen Beteiligten. Mit Spracherkennungssystemen sowie der Verwendung medizinischer und pflegerischer Terminologien gibt es Lösungen, die die Dokumentation erleichtern. Dabei darf jedoch die erleichterte Verfügbarkeit von Informationen nicht dazu führen, dass gleichzeitig bürokratische Dokumentationsanforderungen im Krankenhaus noch weiter steigen. Entscheidungsunterstützungssysteme können auf der Basis dieser Informationen eine Hilfestellung für den Arzt und die Pflege im Krankenhaus sein. Auch weitere Fördertatbestände, wie z. B. das digitale Medikationsmanagement, versprechen große Fortschritte auf dem Weg zu mehr – vor allem sinnstiftender – Digitalisierung im Krankenhaus. Digitalisierung darf dabei kein Selbstzweck sein. Sie kann dabei helfen, ein modernes, attraktives Arbeitsumfeld für die Beschäftigten zu schaffen, das in Zeiten des Fachkräftemangels besonders wichtig ist. Zwar kommen viele digitale Lösungen bereits heute in Krankenhäusern zum Einsatz, da die Kliniken schon früh die Potenziale der Digitalisierung erkannt haben. Wegen der sinkenden Finanzierung der Investitionskosten in den vergangenen Jahren war jedoch eine flächendeckende Umsetzung in den Krankenhäusern nicht möglich. Der Krankenhauszukunftsfonds mit seinen 4,3 Milliarden Euro ist daher ein Schritt in die richtige Richtung. Diesen Schritt könnten die Kran-

(BS/Dr. Peter Bobbert) Das deutsche Gesundheitswesen ist robust und leistungsfähig. Die Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen ist jedoch international betrachtet rückständig. Nach einhelliger Expertenmeinung hat Deutschland eines der am wenigsten digitalisierten Gesundheitssysteme Europas. Durch die Corona-Pandemie traten die Defizite offen zutage. Vor allem die unzureichende technische und personelle Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes wurde überdeutlich, sodass sich die Politik zu einem Telematikinfra- milliardenschweren “Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst” entschloss.

struktur sowie über digitale Identitäten außerhalb einer Karte zu verfügen, begrüßen wir ausdrücklich. Wir wollen uns aktiv an der Konzeptionierung beteiligen, damit Lösungen gefunden werden, die es den Krankenhäusern ermöglichen, an der Vernetzung Foto: BS/privat des Gesundheitswesens teilzunehmen. Dabei haben wir insbesondere die sektorübergreifende Kommunikation und Zusammenarbeit im Blick. Dafür ist es zum einen erforderlich, die Datenerfassung und -übermittlung sektorübergreifend zu standardisieren, und zum anderen, die umfassende Interoperabilität der Dienste und Anwendungen der Telematikinfrastruktur zu gewährleisten. Außerdem halten wir es auch für außerordentlich wichtig, mit den Kollegen im niedergelassenen Bereich fallorientiert zusammenzuarbeiten. Eine versichertengeführte, freiwillige, möglicherweise unvollständige elektronische Patientenakte kann den Austausch von Informationen an vielen Stellen erleichtern. Aus Sicht der Krankenhäuser verliert eine – mit Zustimmung des Patienten – arztgeführte, einrichtungsübergreifende Fallakte auf Basis aller für den Behandlungskontext relevanten Informationen dennoch nicht an Bedeutung, im Gegenteil: Sie kann entscheidend dazu beitragen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu verbessern. Neben der elektronischen Patientenakte und der E-Mailbasierten Kommunikation im Medizinwesen (KIM) muss daher die einrichtungsübergreifende elektronische Fallakte (EFA) in vertraglichen Versorgungsstrukturen unterstützt werden.

Dr. Gerald Gaß ist neuer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Er war bereits bis Ende 2020 ehrenamtlicher Präsident des Verbandes und wechselte zum 1. April 2021 hauptamtlich in die Geschäftsstelle nach Berlin. Gaß war zuletzt Geschäftsführer des Landeskrankenhauses Rheinland-Pfalz. Zuvor leitete der 1963 geborene promovierte Volkswirt und Soziologe von 2001 bis 2008 die Abteilung Gesundheit im rheinland-pfälzischen Sozialministerium.

kenhäuser auch vorbehaltlos begrüßen. Allerdings bleibt unsicher, was nach Ablauf der Förderung passiert. Zudem drohen den Kliniken sogar Sanktionen, wenn sie Digitalisierungsschritte in bestimmten Bereichen bis 2025 nicht umsetzen. Bei einem Investitionsstau von 50 bis 60 Milliarden Euro kann mit den 4,3 Milliarden Euro sicher einiges aufgeholt werden. Wichtig ist aber eine dauerhafte, gesicherte Finanzierung der Digitalisierung, insbesondere von langfristigen Personal- und Betriebskosten, die bei den Fördertatbeständen des KHZG mitgedacht werden müssen. Digitalisierung wirkt sich auf alle Prozesse im Krankenhaus aus. Informationssicherheit und technischer Datenschutz gewinnen in noch viel stärkerem Maße als bisher an Bedeutung. Wir fordern daher von der nächsten Regierung, einen Digitalisierungszuschlag von zwei Prozent auf alle Krankenhausrechnungen einzuführen, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können. Bei der Vernetzung des Gesundheitswesens werden die Krankenhäuser in der nächsten Legislaturperiode an die Telematikinfrastruktur angebunden sein. Die Ankündigungen, bis 2023 über neue, sichere, skalierbare und wirtschaftliche Anschlussmöglichkeiten an die

Viele der Defizite konnten in den zurückliegenden anderthalb Jahren der Pandemie nur durch das große Engagement der Beschäftigten kompensiert werden. Die herausragende Motivation von Ärztinnen und Ärzten sowie allen Gesundheitsberufen war ein wesentlicher Pfeiler bei der Bewältigung der Corona-Krise. Dennoch kann die hohe persönliche Einsatzbereitschaft der Beschäftigten nicht das alleinige Konzept für zukünftige Szenarien sein – eine digitale Modernisierung des Gesundheitswesens ist überfällig. Das trifft in besonderem Maße auch auf die Krankenhäuser zu. Eine Mitgliederumfrage des Marburger Bundes hatte schon im Jahr 2017 ergeben, dass die Krankenhaus-IT erhebliches Verbesserungspotenzial hat. So erhoffen sich 80 Prozent der Krankenhausärztinnen und -ärzte, dass durch die Digitalisierung die ärztliche Arbeit im Krankenhaus zukünftig weiter verbessert werden kann, aber nur 19 Prozent sind mit der IT-Ausstattung an ihrem Arbeitsplatz zufrieden. Das gilt für die Hardware wie die Software gleichermaßen. Mit dem am 29. Oktober 2020 in Kraft getretenen Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) sollen die deutschen Krankenhäuser nun durch ein einmaliges Förderprogramm einen digitalen Modernisierungsschub bekommen. Die Investitionsfinanzierung ist in deutschen Krankenhäusern Ländersache, gleichwohl stellt der Bund mit diesem Gesetz drei Mrd. Euro zur Verfügung. Die Länder bringen nochmals 1,3 Mrd. Euro auf, sodass in Summe 4,3 Mrd. Euro an Fördermitteln mit einer besonderen Zweckbindung zur Verfügung stehen. Die Krankenhäuser sollen mit den Fördermitteln einen starken Impuls erhalten, der den Grad der Digitalisierung auf einen zeitgemäßen Stand hebt. Die hierbei benötigte Dynamik scheint

IT-Experten, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende in eigens geschaffenen Klinikbeiräten Dr. Peter Bobbert ist Mitzusammen und glied im Bundesvorstand besprechen gedes Marburger Bundes. meinsam, welche Foto BS/privat Verbesserungen notwendig sind. Denn jetzt kommt sich tatsächlich zu entwickeln. es mehr denn je darauf an, dass Aktuell hat sich ein Großteil der die neuen Fördermittel zur digiKrankenhäuser bereits auf den talen Infrastruktur so eingesetzt Weg gemacht, um die benötigten werden, dass die Nutzer tatsächBedarfe zu formulieren und dem lich davon profitieren. Deshalb jeweiligen Bundesland anzuzei- müssen Ärzte und Pflegende bei gen. Und es bleibt nicht mehr viel der Verteilung dieser Mittel ein geZeit. Bis zum 31. Dezember 2021 wichtiges Wort mitreden können. In einer konkreten Handreichung müssen die Förderanträge bei dem dafür zuständigen Bundesamt für für seine Mitglieder hat der MarSoziale Sicherung (BAS) abgegeben burger Bund fünf prioritäre Felder werden. Bei allem zeitlichen Druck der Digitalisierung ausgemacht, und allen Herausforderungen, die die jeweils Fördertatbeständen in der Umsetzung des KHZG jetzt des KHZG entsprechen: Notaufzu erwarten sind, handelt es sich nahme, Behandlungsdokumendennoch um eine einmalige Chan- tation, Medikationsmanagement, ce. Denn es ist nicht zu erwarten, Betten- und Ressourcenplanung dass die Investitionsfinanzierung sowie Telemedizin. In all diesen der Krankenhäuser im Bereich IT Bereichen brauchen wir digitale & Digitalisierung mittelfristig ein Innovationen – zur Entlastung des ähnliches finanzielles wie inhalt- Personals und zur Verbesserung liches “Update” zur Verbesserung der Patientenversorgung. Der Erfolg neuer IT-Lösungen der Krankenhaus-IT erhalten wird. Der Marburger Bund hat sich in hängt wesentlich davon ab, ob den letzten Jahren intensiv mit die Anwender darin tatsächlich eider Digitalisierung der Kranken- nen Fortschritt erkennen können. häuser befasst. Mit Check-IT hat Insofern tun die Geschäftsfüher bereits 2019 zusammen mit rungen der Krankenhäuser gut dem Bundesverband Gesundheits- daran, die Expertise und AnreIT (bvitg) ein weithin beachtetes gungen ihrer Ärztinnen und Ärzte Online-Analyse-Tool zur Nutzen- in den Modernisierungsprozess bewertung digitaler Lösungen in einzubinden. Nichts wäre fataler, klinischen Prozessen entwickelt. als wenn hohe Geldsummen für Interessierten Ärztinnen und Ärz- Projekte verwendet würden, die ten wird damit die Möglichkeit sich aus der Anwenderperspekgegeben, die Digitalisierung in ih- tive als wenig nützlich oder gar rem Krankenhaus zunächst selbst unbrauchbar herausstellen. Wer einzuschätzen und in der Folge für die Zukunft plant, muss die Expertise hoch qualifizierter Mitaktiv mitzugestalten. Die Krankenhäuser sollten das arbeiterinnen und Mitarbeiter aus Potenzial erkennen, das sich bei der Klinik in seine Förderanträge den Nutzerinnen und Nutzern von einbeziehen – sonst ist das Geld Krankenhaus-IT auftut. Im Ideal- womöglich an der falschen Stelle fall kommen Geschäftsführungen, investiert.


Kommunalpolitik

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Eine Zeit nach der Krise

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aden-Württemberg wird weiter grün-schwarz regiert. Die Koalition aus Bündnis 90/ Die Grünen und CDU schreibt sich die Zusammenarbeit von Land und Kommunen groß in den Koalitionsvertrag. So wolle man sich auf Bundesebene weiter für die Interessen der badenwürttembergischen Kommunen einsetzen – beispielsweise bei einer Unternehmenssteuerreform für eine angemesse Gegenfinanzierung der Mindereinnahmen durch den Bund. Grün-Schwarz will außerdem beim Bund mit der Bitte um die Bereitstellung von Digitalisierungsgutscheinen für Kommunen anklopfen und diese kofinanzieren. Damit sollen kommunale Digitalisierungsvorhaben unterstützt werden. Die ebenfalls weiter in Amt und Würden bleibende Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP in Rheinland-Pfalz macht sich zum Kernanliegen, ihre Kreise, Städte und Gemeinden auf ein stabiles Fundament stellen zu wollen. Die Stärkung der kommunalen finanziellen Leistungsfähigkeit soll Schwerpunkt im Landeshaushalt sein. Das Land Rheinland-Pfalz will sich auf Bundesebene für eine dauerhafte Beteiligung des

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Koalitionsverträge im Kommunen-Check

ligungsform zu finden, sollen, gemeinsam mit Jugendlichen und wissenschaftlich begleitet, Modellprojekte für Jugendparlamente und -foren auf kommunaler Ebene durchgeführt werden.

(BS/Kilian Recht) Irgendwann kommt eine Zeit nach der Krise. Dann soll es für Kommunen auch noch weitere Themen geben als die Pandemiebewältigung. Was erst einmal bleibt, sind die Regierungsverhältnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die wiedergewählten Koalitionen, Kapazitäten frei machen grün-schwarz und Ampel, kündigen in ihren Koalitionsverträgen einige Neuerungen für den kommunalen Sektor an und definieren Themenschwer- Um die interkommunale Zupunkte für eine Zeit nach Corona. sammenarbeit zu stärken, will Bundes an bundesgesetzlich verursachten kommunalen Aufgaben einsetzen, insbesondere in der Sozialgesetzgebung. Für Rheinland-Pfalz soll außerdem ein bedarfsgerechter kommunaler Finanzausgleich entwickelt werden.

In Baden-Württemberg kann bei Kommunalwahlen schon ab 16 Jahren aktiv gewählt werden. In der kommenden Legislatur wollen die Koalitionäre nun auch das passive Wahlalter auf 16 Jahre absenken.

Repräsentation durch Reform

Keine Koalition ohne Klimaschutz Klimaschutz darf in Regierungsprogrammen mit grüner Beteiligung natürlich nicht fehlen. Den Kommunen soll dabei geholfen werden, dem Klima zu helfen. In Baden-Württemberg sollen laut Vertrag die Kommunen vor allem dabei unterstützt werden, kommunale Wärmepläne umzusetzen. Kommunen, die nicht zu einer Wärmeplanung verpflichtet sind, soll durch ein Förderprogramm bei der Erstellung von Wärmeplänen geholfen werden.

Die wiedergewählten Regierungen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sehen einige Pläne für ihre Kommunen vor. Klimaschutz ist natürlich ein Thema. Foto: BS/Solarimo, pixabay.com

Auch soll eine Ermächtigungsgrundlage für Kommunen eingeführt werden, durch die sie weitergehende Anforderungen in Energie- und Klimaschutzfragen

festsetzen können. Vorgesehen ist außerdem ein Förderwettbewerb, durch den einzelne Kommunen modellhaft auf ihrem Weg zur Klimaneutralität begleitet werden.

Auch Altersgrenzen für Bürgermeisterwahlen sollen aufgeweicht werden. Künftig beträgt das Mindestalter für Kandidaten und Kandidatinnen 18 Jahre. Eine Altersobergrenze soll es nicht mehr geben. Um das Bürgermeisteramt attraktiver zu machen, soll ein Rückkehrrecht für Landesbeamtinnen und -beamte sowie Landesangestellte nach dem Ende ihrer Amtszeit in ein kommunales Wahlamt geschaffen werden. Für kommunale Beamte und Angestellte wird ein solches Recht zusammen mit den kommunalen Landesverbänden geprüft. Die rheinland-pfälzische Ampelkoalition will über eine Ausweitung des Wahlrechtes hi­nausgehen. Jüngere Bürgerinnen und Bürger sollen intensiver an demokratische Entscheidungsprozesse herangeführt und es sollen ihnen im Rahmen der bestehenden demokratischen Institutionen mehr Möglichkeiten gegeben werden. Um eine Betei-

Grün-Schwarz in Baden-Württemberg Anreize dafür setzen, dass auf kommunaler Ebene Maßnahmen gebündelt werden. So könnten Kapazitäten für zusätzliche Aufgaben frei gemacht werden. Dafür soll eine Experimentierklausel in der Gemeindeordnung geschaffen werden, womit beispielsweise spezialisiertes Personal gemeindeübergreifend beschäftigt werden könnte. In Rheinland-Pfalz wird die Bekämpfung der Pandemie als die dringlichste Aufgabe für die Kommunen gesehen. Die Bewältigung der Pandemiefolgen erfordere eine enorme Kraftanstrengung und binde erhebliche Ressourcen mit Blick auf die Entwicklung der Kommunalverwaltung, heißt es im Zukunftsvertrag Rheinland-Pfalz. Als weitere große Zukunftsherausforderungen und Themenschwerpunkte der kommenden Legislatur definieren die Koalitionäre außerdem die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes, den Ausbau der Digitalisierung, die Einführung der kommunalen E-Akte, die Reform des kommunalen Finanzausgleichs und die Modellphase zur Intensivierung der interkommunalen Zusammenarbeit auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte. Genug zu tun also für die kommenden fünf Jahre.

Einheitlichkeit wünschenswert Ordnungsdienst noch mit verschiedenen Ausbildungen (BS/mfe) Bislang gibt es kein einheitliches Ausbildungs- und Berufsbild für die Mitarbeiter Kommunaler oder Städtischer Ordnungsdienste. Das sollte sich rasch ändern, fordern mehrere Kommunalvertreter aus unterschiedlichen Städten und Gemeinden. Dazu gehören unter anderem der Dortmunder Rechts- und Ordnungsdezernent Norbert Dahmen sowie Wolfgang Fuchs (beide CDU), Stadtdirektor Bonns. Denn die Aufgaben der dort Beschäftigten hätten sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Darauf müsse reagiert werden, findet Fuchs. Es brauche einen Ausbildungsberuf “Kommunale Ordnungsdienste”, Gegen einen einheitlichen Ausbildungsberuf spricht sich hingegen Thomas Herbing von der Gewerkschaft Verdi aus. Er plädiert vielmehr für eine modulare Ausbildung, da diese zukunftssicherer sei. Verbesserungsbedarf sieht der Gewerkschafter bei den Arbeitsbedingungen. Das betreffe oftmals Rechtsunsicherheiten und mangelnde Selbstsicherung. Hier könnten Sicherheitspartnerschaften hilfreich sein, so Herbing. Sie müssten jedoch von der Politik gewollt und gelebt werden. Zudem komme es darauf an, dass sich neben den Ordnungsbehörden auch die Stadtgesellschaft beteilige, gab Christian Specht (ebenfalls CDU) zu bedenken. Es komme darauf an, dass sich die Akteure untereinander bekannt seien, so der Erste Bürgermeister der Stadt Mannheim. In Dortmund und in Bonn existieren derartige Partnerschaften bereits seit Längerem. Dort gibt es auch

gemeinsame Streifen, Leitstellen und Dienstgebäude. Dort wird im Sinne einer Gemeinschaftsaufgabe Hand in Hand gearbeitet.

Zuständigkeiten müssen gewahrt bleiben In Mannheim finden laut Specht hingegen keine Doppelstreifen statt. Er begründet das mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Ausbildungen von Ordnungsamt einerseits und Polizei andererseits. Specht betont im Rahmen einer OnlineDiskussionsrunde auf der Behörden Spiegel-Plattform “Neue Stadt.org”: “Die Verantwortung zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten soll nicht an den Kommunalen Ordnungsdienst wegdelegiert werden. Das ist weiterhin eine primäre Aufgabe der Polizei.” Auf klare Zuständigkeitsabgrenzungen besteht auch Dahmen aus Dortmund. Einig sind sich die Kommunalvertreter zudem, dass ihre Ordnungsämter und -dienste keine 24/7-Dienste leisten könnten. Das sei mit dem vorhandenen Personal nicht möglich, heißt es unisono. Dies sei auch nicht nötig, ergänzt Gewerkschafter Herbing.

Diskutierten über Sicherheitspartnerschaften (von oben links nach unten links im Uhrzeigersinn): Wolfgang Fuchs, Christoph Balzer (Moderator), Thomas Herbing, Christian Specht und Norbert Dahmen. Screenshot: BS/Feldmann


Kommunalpolitik

Behörden Spiegel / Juli 2021

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Vier Fragen – vier Antworten Interview mit Sebastian Dippold, Bürgermeister der Stadt Neustadt an der Waldnaab

Foto: BS/privat

B

ehörden Spiegel: Herr Dippold, Sie haben Ende vergangen Jahres auf Social Media eine Morddrohung erhalten. Wie ist es dazu gekommen und wie sind Sie damit umgegangen? Dippold: Ausgangspunkt war die Querdenkerszene, die einen Aufmarsch in unserer Nachbarstadt Weiden angekündigt hatte. Alle Gegenproteste wurden aufgrund hoher Inzidenzen abgesagt, also habe ich mich auf den Volksfestplatz, wo die Demo stattfinden sollte, hingestellt und ein Video aufgenommen und online gestellt. Darin kritisiere ich die Querdenker mit teils derben Worten. Am nächsten Tag ist dann der Shitstorm losgerollt. Für einige Menschen aus der Region bin ich sowieso der Feind. Egal was ich mache, die hassen mich trotzdem. Dieses Mal ist es schnell hochgekocht bis hin zu der Morddrohung, die als Kommentar unter einem Post eines

“Damit mich keiner über den Haufen fährt” Auswirkungen einer Morddrohung (BS) Sebastian Dippold (SPD) kritisierte in einem Video die Querdenker-Szene, nachdem diese in einer Nachbarstadt aufmarschieren wollte. Daraufhin erhielt er eine Morddrohung. Hier beschreibt der ausgebildete Hörfunkredakteur die Umstände und erklärt, warum er von Bundes- oder Landesseite in diesem Kontext nichts mehr erwartet. Die Fragen stellte Matthias Lorenz. Leben hat es ganz konkret Auswirkungen gehabt. Die Polizei hat mich bestreift, sie ist also regelmäßig bei mir vorbeigefahren und hat geschaut, ob alles in Ordnung ist. Sie macht das teilweise immer noch. Ich habe auch einen Betreuer beim Staatsschutz erhalten, der mit mir regelmäßig in Kontakt ist und mich über die Dinge aufklärt, die gerade in der Szene über mich kursieren. Ich gehe eigentlich gerne zu Fuß zur Arbeit oder fahre mit dem Rad. Die Polizei hat mich gebeten, davon Abstand zu nehmen, damit mich, salopp gesagt, keiner über den Haufen fahren kann. Leider gibt es in der Szene eine Klientel, der man so etwas zutraut.

Die Reaktion des Bürgermeisters auf eine geplante Querdenker-Demo war der Anstoß des Shitstorms, welcher in einer Morddrohung mündete. Foto: BS/Michael Hofmann, pixabay.com

hier ansässigen Querdenkers erschien. Da stand nur ein Wort: “Füsilieren”, also standrechtlich erschießen. Im Kontext war klar, dies bezieht sich auf mich. Zunächst habe ich es jedoch gar nicht als Morddrohung erkannt, weil mir das Wort nicht geläufig war. Mit dem Löschen der Kommentare unter meinem Video bin ich teilweise nicht hinterhergekommen. Es war zwar nicht der erste Shitstorm, den ich erlebt habe, aber die Dimension war völlig neu für mich. Die Morddrohung habe ich angezeigt. Ansonsten habe ich gelernt, dass es für die große, schweigende demokratische Masse Wortführer braucht, die sich ins Feuer stellen. Das Feedback, welches ich hierzu bekommen habe, gibt mir auch absolut Recht. Das ist für mich persönlich auch eine gewisse Genugtuung. Behörden Spiegel: Hatte der Shitstorm in Zusammenhang mit der Morddrohung Auswirkungen auf Ihr persönliches oder politisches Verhalten? Dippold: Auf mein persönliches

Was das Politische angeht, hat sich für mich nichts geändert. Das, was da abgelaufen ist, kenne ich aus meiner Arbeit gegen Rechts. Hier geht es darum, klar Flagge zu zeigen. Ich kann aber schon verstehen, dass sich einige Kolleginnen und Kollegen nach so einem Erlebnis anders verhalten oder sich politisch zurückziehen. Vor allem bei ehrenamtlichen politischen Ämtern ist es sehr viel Arbeit und man ist oft der Prügelknabe. Dazu kommen die Drohungen, wenn man sich wie ich politisch äußert. Für die Gesellschaft ist diese Entwicklung sehr schade. Behörden Spiegel: Würden Sie sich mehr Unterstützung von der Landes- oder Bundesebene wünschen? Dippold: Da muss ich knallhart sagen: Ich erwarte mir von meiner Landesregierung und von der einen Hälfte der Bundesregierung gar nichts mehr. Diese Erfahrung habe ich nicht erst durch die Querdenker, sondern in der Arbeit gegen Rechts gemacht. Da kann man die Union einfach getrost vergessen. Es werden

MELDUNG

Level-up für Kläranlage (BS/mj) Freiberg in Baden-Württemberg erhält fast eine Million Euro Landeszuschuss für den Ausbau der dortigen Kläranlage. Mit einer Kombination aus einem Tuchfilter und einem nachgeschalteten Aufstromfilter mit granulierter Aktivkohle sollen in Zukunft Spurenstoffe bei der Abwasserreinigung eliminiert und Phosphoreinträge in die Umwelt weiter reduziert

werden. Umweltministerin Thekla Walker erklärt: “Arzneimittelrückstände, Haushaltschemikalien und weitere Stoffe können mit Erweiterung der Kläranlage zurückgehalten werden.” Mit der Erweiterung der Kläranlage sollen die Zielvorgaben des Landes Baden-Württemberg eingehalten und zukünftige Anforderungen an die Abwasserreinigung erfüllt werden können.

beispielsweise Gelder gekürzt, weil man immer noch der dämlichen Hufeisen-Theorie nachhängt. Man kann zum Beispiel nicht die Linke, welche durchaus schwierige Flügel hat, mit der AfD gleichstellen, weil diese etwas ganz anderes darstellt. Diese Links-Rechts-Gleichstellung hat zur Folge, dass Projekten gegen Rechts beispielsweise die Finanzierungsgrundlagen entzogen werden, weil man ja gleichzeitig auch auf die “bösen, bösen

Linken” schauen muss. Das ist politischer Unwille, politische Dummheit und politisches Unwissen. Deswegen erwarte ich nichts mehr und habe damit abgeschlossen. Unterstützung habe ich allerdings aus meiner Partei, der SPD, en Masse erhalten. Ebenso haben sich einige Kommunalpolitiker positioniert. Auch den hiesigen Landrat, einen CSU-Politiker, mit dem ich politisch nicht immer einer Meinung bin, muss man

von der Kritik ausnehmen. Er hat mir den Rücken gestärkt. Auf die kommunale Ebene kann man in dieser Sache also zählen. Behörden Spiegel: Vernetzen Sie sich im Kontext der Anfeindungen, Beleidigungen und Drohungen mit anderen Kommunalpolitikern? Dippold: Dazu sehe ich für mich aktuell keinen Bedarf. Ich habe keine Scheu, mich zu sol-

chen Themen zu positionieren, und sehe mich gewissermaßen als einen sehr politischen Bürgermeister. Aufgrund meiner Vorerfahrung und Vorprägung in diesem Sektor würde ich mir auch von anderen, die hier nur wenig Erfahrung haben, auch nicht viel sagen lassen. Im konkreten Fall wusste ich selbst direkt, wie ich damit umzugehen habe. Das hängt natürlich mit meiner beruflichen Vorbildung zusammen. Neben der Anzeige bei der Polizei habe ich die Presse informiert, es auf meinen eigenen Kanälen öffentlich gemacht und auch in antifaschistische Kreise getragen. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass mir eine solche Vernetzung persönlich etwas bringen würde.


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Personelles

Behörden Spiegel / Juli 2021


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S

tändige Veränderungen gehören zum behördlichen Alltag. Besonders die Digitalisierung, der demografische Wandel und die veränderten Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger stellen die Verwaltungen vor großen Herausforderungen. Führungskräfte spielen bei deren Bewältigung eine entscheidende Rolle. Professionelle Führung garantiert die Weiterentwicklung der Kompetenzen des Personals. Gerade deshalb müssen kompetente Führung sowie Fachkräfte mit Schlüsselfunktionen gestärkt und qualifiziert werden. Coaching und Führung gehören nicht nur in der Privatwirtschaft zusammen wie früher Fließband und Akkordarbeit.

Katalysator für die eigenen Ressourcen Warum ist das so? Löste früher Coaching abstrakte Probleme in der Organisation, so ist es heute essenzielle Stimulans zur individuellen Selbstoptimierung. Dies gilt für die Führungsmannschaft wie auch für Fachkräfte in Schlüsselfunktionen. Gestern noch Kollege, heute die neue Führungskraft im Team; um diese Erfahrung zu machen, muss man nicht Bürgermeister werden. Tagtäglich müssen sich

Stimulans zur Selbstoptimierung Coaching: ein modernes Personalentwicklungsinstrument (BS/Rolf Hartmann) Führungspositionen machen einsam. Nach 17 Jahren intensiver Tätigkeit auf der Arbeitsebene wurde ich 2004 Bürgermeister der Gemeinde Blankenheim. Ich hatte dieses Amt so sehr angestrebt, alles dafür getan, um den Sieg zu erringen. Und ich hatte Respekt vor dem Amt. Plötzlich spielte man inhaltlich in einer neuen Liga. Das war eine Herausforderung, der ich mich gerne stellen wollte. Mein sorgenvoller Gedanke war jedoch: Wer setzt sich freiwillig während eines Betriebsausfluges, während einer Betriebsfeier neben den Chef? Ich war plötzlich ohne Kolleginnen und Kollegen. Ich musste stark sein, durfte keine Schwächen zeigen. Coaching kannte ich nur aus dem Sport. Im Öffentlichen Dienst und in einer kleinen ländlichen Kommune war es mir völlig unbekannt. Rückblickend hätte ich mir ein Coaching gewünscht. junge, neue Führungskräfte mit diesem Rollenwechsel auseinander setzen. Nicht selten führt er zu Irritationen und Unsicherheit. Spannungen auf der verlassenen unteren Ebene, sich verloren fühlen im Geflecht von Machtbeziehungen: Damit muss man (frau) erst zurechtkommen. Ein professionelles Coaching kann hier ein Katalysator für die eigenen Ressourcen sein. Coaching macht sich immer mehr unersetzbar in der Personalentwicklung. Coaching ist weder Beratung noch Mentoring. Es ist vielmehr eine Hilfe zur Selbstreflexion und Selbstregulierung, also durchaus eine Hilfe zur Selbsthilfe. Typische Coaching-Anlässe sind die erstmalige Übernahme einer Führungsposition, der Wechsel in eine höherwertige Führungsposition, die Übernahme komplexer

systemische Alternative geht davon aus, dass jeder Mensch die Wirklichkeit aus seiner individuellen Wahrnehmung “konstruiert” und sich im Kontext eines Systems (Familie, Arbeitsplatz und Gemeinschaft) befindet. Systemisches Coaching will bei Problemen das gesamte System positiv beeinflussen. Es ist also ein ganzheitlicher Ansatz. Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Coach und Coachee auf Augenhöhe ist unabdingbar. Darüber hinaus gedeiht erfolgreiches Coaching vor allem dort, wo der Chef den Unterstützungsprozess des Coachings zu seiner Führungsaufgabe gemacht hat. Coaching muss als ständiges In­strument der Personalentwicklung gesehen werden. Dabei sind kulturelle, strategische, personelle und strukturelle Grundpfeiler zu erarbeiten. Der kulturelle Denkanstoß beschäftigt sich mit der Akzeptanz des Coachings (wird Coaching als belohnende Unterstützung gesehen?). Ob wir durch Coaching als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen werden möchten, ist eine Frage des strategischen Ansatzes.

Pool aufbauen Coaching ist heute eine essenzielle Stimulans zur individuellen Selbstoptimierung von Führungskräften.

Foto: BS/Mohamed Hassan, pixabay.com

Projekte, die Reflexion der eigenen Führungskompetenz sowie Fragen des Selbst- und Konfliktmanagements.

Entwicklungschance oder Defizitbewältigung?

Als Mitglied der Verwaltungsleitung führen Sie verantwortungsbewusst und haben stets die gesamtstädtischen Belange im Blick! Die Stadt Ahlen ist mit ihren rund 54.000 Einwohner*innen die größte Stadt und wirtschaftlicher Schwerpunkt im Kreis Warendorf. Reizvoll in die Münsterländer Parklandschaft eingebettet, gilt Ahlen zugleich als Tor zum Ruhrgebiet. Ahlen verfügt über vielfältige Einrichtungen für Freizeit, Sport und Erholung, ein vollständiges schulisches Angebot sowie ein lebendiges, kulturelles Leben und versteht sich als wachsende, ökonomische und nachhaltige Stadt. Zum nächstmöglichen Zeitpunkt sucht die Stadt Ahlen eine menschlich überzeugende und führungserfahrene Persönlichkeit, die als

Erste*r Beigeordnete*r – Sozial-, Schul- und Kulturdezernent*in

den zugeordneten Geschäftsbereich bürger- und leistungsorientiert führt.

Der Geschäftsbereich der/des Sozial-, Schul- und Kulturdezernent*in setzt sich aus den Fachbereichen „Schule, Kultur, Weiterbildung und Sport“ sowie „Jugend, Soziales und Integration“ zusammen. Eine Änderung des Geschäftsbereiches bleibt vorbehalten. Zentrale zukunftsweisende Themen wie Vielfalt, Inklusion, Integration, gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Kultur, Engagement und Zivilgesellschaft sowie die Digitalisierung prägen die Herausforderungen des Geschäftsbereiches. Gleichzeitig ist die/der Erste Beigeordnete auch die/der allgemeine Vertreter*in des Bürgermeisters. Der/die Stelleninhaber*in wird für eine Amtsdauer von acht Jahren in das Beamtenverhältnis auf Zeit berufen. Die Besoldung erfolgt entsprechend der Eingruppierungsverordnung NW nach der Besoldungsgruppe B 3. Die Aufwandsentschädigung richtet sich nach der Eingruppierungsverordnung NW. Ihre Kernaufgaben: • eigenverantwortliche Leitung des zugeordneten Geschäftsbereiches • umsichtiges Finanz- und Organisationsmanagement • motivierende Führung der ca. 250 Mitarbeiter*innen • vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister, dem Verwaltungsvorstand und mit der Politik • Förderung der fachbereichsübergreifenden Zusammenarbeit • überzeugende Repräsentation der Interessen des Geschäftsbereiches in politischen Gremien und in der Öffentlichkeit • sachkundiger und vertrauensvoller Dialog mit Bürger*innen der Stadt Ahlen und externen Akteur*innen Unsere Anforderungen: • die gemäß § 71 Abs. 3 Satz 3 GO NW erforderliche Befähigung mindestens für die Laufbahn der Laufbahngruppe 2, 1. Einstiegsamt des allgemeinen Verwaltungsdienstes (früher: gehobener Dienst) • ein abgeschlossenes einschlägiges Hochschul- oder Fachhochschulstudium • mehrjährige einschlägige Berufs- sowie Führungserfahrung, wünschenswerterweise im sozialen oder im kulturellen Bereich oder in einer öffentlichen Verwaltung • ausgeprägte strategische und konzeptionelle Fähigkeiten sowie Management-Qualitäten • hohes Maß an Teamorientierung • engagiertes, kommunikatives und verbindliches Auftreten Sie sind motiviert, diese vielseitige und anspruchsvolle Tätigkeit zu übernehmen, und identifizieren sich mit der Stadt Ahlen und den vorgenannten Aufgaben. Als dynamische und verantwortungsbewusste Führungspersönlichkeit gehen Sie Projekte aktiv an und kommunizieren umsichtig mit unterschiedlichen Interessengruppen. Die Stadtverwaltung Ahlen zeichnet sich in besonderem Maße durch ein gutes Arbeitsklima, ein qualifiziertes und hochmotiviertes Team sowie umfangreiche soziale Angebote, z. B. Betriebliches Gesundheitsmanagement, aus. Die Stadt Ahlen fördert die berufliche Zukunft von Frauen. Bewerbungen von Frauen sind daher ausdrücklich erwünscht und werden nach Maßgabe des Landesgleichstellungsgesetzes NRW bevorzugt berücksichtigt. Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Dr. Berger, Bürgermeister (Tel.: 02382/59-221), und Frau Hewel, Leiterin der Gruppe Personal (Tel.: 02382/59-233), gerne zur Verfügung. Bitte reichen Sie Ihre Bewerbung bevorzugt online über das Bewerberportal der Stadt Ahlen ein. Hierfür klicken Sie bitte unten rechts auf dieser Seite den Button „Online-Bewerbung“ an. Sie füllen dort ein Online-Formular aus und laden anschließend Ihre vorbereiteten Bewerbungsunterlagen hoch. Ihre Eingaben können Sie sich vor dem Versenden in einer Vorschau anzeigen lassen. Während der Eingabe haben Sie jederzeit die Möglichkeit, das Bewerbungsportal zu verlassen. Ihre Daten werden dann automatisch gelöscht. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen bis zum 01.08.2021. Stadt Ahlen Der Bürgermeister Westenmauer 10 59227 Ahlen

Behörden Spiegel / Juli 2021

Damit Coaching erfolgreich ist, muss der Coachee (gecoachte Person) das Coaching wollen und darf keine Angst vor dieser Unterstützung haben. Wenig hilfreich ist es dabei, dass vor allem in kleineren Strukturen Coaching immer noch belächelt und mit “beim Psychologen auf der Couch sitzen” verwechselt wird. Es kommt vor allem auf das Verständnis der Behördenleitung zum Coaching an, ob es als Entwicklungschance oder als Defizitbewältigung angesehen wird. Es stellt sich die Frage, welchen Hintergrund braucht ein Coach: einen lebenspraktischen, eine philosophischen oder einen berufserfahrenen? Der Begriff des Coachings kommt aus dem Sport. Es gibt eine unüberschaubare Anzahl von Angeboten. Die methodische Heterogenität beim Coaching ist groß. Über 10.000 BusinessCoaches gibt es schätzungsweise in der Bundesrepublik. Der Begriff des Coachs ist nicht geschützt, die Branche ist nicht organisiert. Aber wie findet man nun den richtigen Coach? Besonders beachtet sind die Zertifikate des Bundesverbandes Coaching. Wer dort zertifiziert werden will, muss eine Coaching-Ausbildung, fünf Jahre Berufserfahrung, darunter drei Jahre als Coach, sowie in der

Regel ein Hochschulstudium nachweisen. Einen international halbwegs anerkannten Standard bilden außerdem die Zertifikate der international Coaching Federation (ICF). Diese Kriterien mögen den Rahmen für ein Ausschreibungsverfahren bilden, in der Praxis werden sie aber letztlich wohl zweitrangig sein. Nachhaltige Auftragsverhältnisse leben von Empfehlungen. Wenn aber entscheidend das Feedback der gecoachten Person ist, wandern Coache auf einem schmalen Grad. Ihre Auftragslage wird davon abhängen, wie zufrieden diejenigen sind, mit denen sie arbeiten sollen. Besteht unter diesen Umständen ein Anreiz, als Coach eine Führungskraft mit Defiziten zu konfrontieren? Sicherlich nicht. Dabei wäre diese Offenheit auf Augenhöhe vonnöten. Letztlich bedeutet dies für den Coach, dass es bei seiner Arbeit mehr um den Glauben an den Erfolg und weniger um überprüfbare Ergebnisse geht. Sinnvoll wäre es, das Coaching mit einem klaren Zeitplan und einem konkreten Ziel zu verbinden. Dann haben Coach und Coachee wenigstens einen Maßstab für den Erfolg und Misserfolg.

Ganzheitlicher Ansatz Für den Öffentlichen Dienst wird unter anderem die systemische Methode empfohlen. Die

Das personelle Konzept sieht vor, für welche Zielgruppen das Coaching angeboten wird. Fragen von Spielregeln, Qualitätskriterien für die Auswahl eines Coachs, der Qualitätssicherung und des Budgets implementieren die Struktur im Prozess. Für größere Kommunen empfiehlt sich der Aufbau eines Coaching-Pools, also einer Liste ausgewählter Coaches, die anhand festgelegter Kriterien bereits vorausgesucht worden

Rolf Hartmann war von 2004 bis Ende Oktober 2020 Bürgermeister der Gemeinde Blankenheim. Foto: BS/privat

sind. Für kleinere Kommunen ist ein gemeinsamer Aufbau im Rahmen interkommunaler Zusammenarbeit überlegenswert. Erwägungen der Wirtschaftlichkeit führen zu Überlegungen, eigene Coaches auszubilden. Das entscheidende Kriterium dafür ist die Größe der Kommune. Da ein erfolgreiches Coaching einen anonymen und geschützten Raum erfordert, kommen interne Coaches in kleineren Kommunen nicht in Betracht. In diesem Fall sollten externe Fachleute den Prozess durchführen. Externe Coaches können sowohl Personen aus anderen Verwaltungen (im Rahmen der interkommunalen Zusammenarbeit) oder Selbstständige sein.

Neues Prinzip oder No-Go?

Die FREIE WÄHLER-Landtagsfraktion in RheinlandPfalz sucht für das neue „Politik-StartUp“ in Mainz Verstärkung und freut sich auf Ihre Bewerbung als

wissenschaftliche Mitarbeiter (m/w/d) in Vollzeit (39 Stunden) für die Bereiche

Inneres & Finanzen | Arbeit & Soziales Werden Sie Teil eines engagierten Teams, um im Landtag Rheinland-Pfalz einer spannenden und vielseitigen Tätigkeit nachzugehen. Das Anforderungsprofil und weitere Informationen finden Sie im Internet unter:

www.fw-landtag-rlp.de/jobs

“Leader als Coach”: Dieses Prinzip setzt sich in der Privatwirtschaft immer mehr durch. Es geht darum, die Mitarbeitenden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Für mich bleibt es ein No-Go, dass Führungskräfte ihre unmittelbaren Mitarbeitenden coachen. Da es (auch) Aufgabe der Führungskraft ist, die Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beurteilen, kommt es hier zu Interessenkonflikten und es fehlt an der notwendigen Neutralität. Personalentwicklung ist die wichtigste Führungsaufgabe. Coaching ist als Instrument für starke, selbstreflektierte Leistungsträger im Hause sichtbar zu machen. Es darf nicht als Angebot für “Hilfsbedürftige” und somit als Ausdruck für Schwäche angesehen werden. Wenn dies gelingt, dann ist man auf einem guten Weg zu einem attraktiven und modernen Arbeitgeber.


Kommunaler Haushalt

Behörden Spiegel / Juli 2021

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Zukunftsfähige Infrastruktur

Sport- und Freizeitangebote

Investitionshemmnisse abbauen

Kommunale Bäder wirtschaftlich durch die Krise führen

(BS/lkm) Investitionen in den Kommunen scheitern nicht nur am Geld. Eine aktuelle Analyse des Deutschen Institutes für Urbanistik (Difu) und des Institutes für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Personalmangel und Bürokratie spielen auch eine Rolle.

von Dr. Ulrich Keilmann

Beide Institute haben für die Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht, welche strukturellen Hindernisse überwunden werden müssen, um öffentliche Investitionen zu erleichtern. Im vergangenen Jahr hätten die Kommunen einen Investitionsrückstand von rund 150 Milliarden Euro aufgebaut. Um diesen Investitionsstau aufzulösen, müssten, so die Meinung der Experten, rund 457 Milliarden Euro müssten innerhalb der nächsten zehn Jahre zusätzlich in die öffentliche Infrastruktur Deutschlands investiert werden. Die Entwicklung der Baukonjunktur der vergangenen Jahre zeige, dass die Investitionspolitik der öffentlichen Hand oft prozy­ klisch gewesen sei – also in Krisen zurückgefahren und in Hochphasen wieder verstärkt worden sei. Dies habe zu den Kapazitätseng­ pässen beigetragen. Denn die Bauwirtschaft habe in den folgenden Boomphasen meist deutlich langsamer ihre Leistungsfähigkeit wiederherstellen können, sodass auch öffentliche Aufträge nur mit Einschränkungen hätten übernommen werden können. “Um die volkswirtschaftlichen Schäden aus solchen Entwicklungen künftig zu vermeiden, muss die öffentliche Investitionstätigkeit verstetigt werden”, so Dr. Katja Rietzler, Forscherin im IMK und Mitautorin der Studie. “Gerade für die Zeit nach Corona bedeutet dies, dass auf eine strenge Haushaltskonsolidierung zulasten der öffentlichen Investitionen verzichtet werden sollte”, ergänzt Professor Dr. Carsten

Kühl, wissenschaftlicher Direktor des Difu. In einer im Rahmen der Studie durchgeführten Befragung gab rund jede fünfte Kommune an, dass Stellen im Hoch- und/ oder Tiefbauamt seit längerer Zeit nicht besetzt seien. Dies sei insofern problematisch, da die Studie einen Zusammenhang zwischen einem Anstieg des Personalbestands in der Bauverwaltung und steigenden Bauinvestitionen der Kommunen nachweise. Insofern sollten die Kommunen zukünftig die eigenen Ausbildungskapazitäten gerade in technischen Berufen stärken und verwaltungsinterne Ausbildungskapazitäten ausbauen. “Bund und Länder sollten flankierend dazu ein entsprechendes Förderprogramm auflegen”, so Dr. Henrik Scheller, Teamleiter Wirtschaft und Finanzen am Difu und Mitautor der Studie. Bei öffentlichen Infrastrukturvorhaben seien angesichts des komplexen Bauplanungs- und -genehmigungsverfahrens nicht nur unterschiedliche Fachverwaltungen zu koordinieren, sondern auch viele gesetzliche Einzelstandards zu berücksichtigen. Dies stelle die involvierten Fachverwaltungen vor Koordinationsherausforderungen. Daher empfiehlt das Forschungsteam die Verankerung einer gesetzlichen Pflicht, damit eine Bauausführung erst nach dem vollständigen Abschluss des gesamten Planungsprozesses beginnen darf. So ließen sich zeit- und kostenintensive Inkompatibilitäten zwischen bereits errichteten Baubestandteilen und Nachplanungen reduzieren.

Schon im letzten Jahr war die Ertragssituation der Bäder durch die Corona-Pandemie geprägt. Zudem hatte sich die Finanzsituation einiger Kommunen verschärft. Damit einher geht ein verstärkter Existenzkampf der ohnehin schon regelmäßig – zuweilen stark – defizitären Bäder. Wie die Besucherentwicklung in der Freibad-Saison 2021 verläuft, lässt sich trotz der bundesweiten Impffortschritte nicht voraussagen. Dafür ist die Situation noch immer zu dynamisch und von Region zu Region zu unterschiedlich. Dabei schützen selbst vorübergehende Schließungen nicht vor anfallenden Fixkosten. Unter diesen Rahmenbedingungen stellt sich die Frage nach Möglichkeiten zur Optimierung der Kostenstrukturen der kommunalen Bäder mehr denn je. Die Überörtliche Prüfung kommunaler Körperschaften in Hessen (ÜPKK) hat in ihrer 221. Vergleichenden Prüfung “Schwimmbäder und Badeseen” den Aufgabenbereich untersucht und Möglichkeiten zur Optimierung der Wirtschaftlichkeit festgestellt. Basierend auf den Erkenntnissen wurde ein praxisnaher Analyseleitfaden zum Erhalt des Schwimmbadangebots erstellt. Er hat das Ziel, frühzeitig Handlungsbedarf und -optionen zu identifizieren. Nach unseren Prüfungserfahrungen können insbesondere durch technische Investitionsund Instandhaltungsmaßnahmen wesentliche Betriebskosten der Bäder reduziert werden (s. Tabelle). Parallel sollten in regelmäßigen Abständen die jeweiligen Bezugspreise (Stromund Wärme) untersucht werden. Parallel sind Personalkosten ein

Dr. Ulrich Keilmann leitet die Abteilung Überörtliche­ Prü­fung kommunaler Körper­schaf­ten beim Hessischen Rechnungshof in Darmstadt. Foto: BS/privat

Standardthema rund um alle Fragen zur Wirtschaftlichkeit eines kommunalen Bads. Um der Verkehrssicherungspflicht nachzukommen, ist qualifiziertes Personal in quantitativ ausreichender Zahl bereitzustellen. Der Personaleinsatz ist von verschiedenen Gegebenheiten abhängig, exemplarisch: • der Größe des Bads, • b aulichen und technischen Anlagen,

• etwaigen Sprungtürme, • der Übersichtlichkeit des Beckens. Durch Reduzierung der täglichen Öffnungszeiten oder Kürzung der Saison können unmittelbar Personal- und mittelbar Betriebskosten eingespart werden. Im Bedarfsfall ermöglichen es diese Maßnahmen, trotz Corona-Pandemie die Zukunft dieser Infrastrukturen zu sichern. Zumindest dann, wenn unter

Berücksichtigung der absehbaren demografischen Entwicklung ein tatsächlicher Bedarf an Bädern gesehen wird und der Nutzen die Kosten rechtfertigt. Aus unserer Sicht bietet daneben interkommunale Zusammenarbeit (etwa in Form von Zweckverbänden) die Möglichkeit, bei Sparzwang ein flächendeckendes Schwimmbad­ angebot zu erhalten (siehe hierzu den Beitrag in der Dezember2020-Ausgabe, S. 31). Lesen Sie mehr zum Thema “Schwimmbäder” im Kommunalbericht 2020, Hessischer Landtag, Drucksache 20/3456 vom 25. September 2020, S. 44 ff. und 272 ff. Der vollständige Kommunalbericht ist kostenfrei unter rechnungshof. hessen.de abrufbar.

Verbesserung der Wirtschaftlichkeit kommunaler Bäder Strom

Wärme

Wasser

Abgleich des Stromverbrauchs mit den Wasserflächen-bezogenen VDI-Werten

Abgleich des Wärmeverbrauchs mit den Wasserflächen-bezogenen VDI-Werten

Abgleich des Wasserverbrauchs mit den VDI-Werten

Es kommen verschiedene Möglichkeiten zur Reduktion in Betracht1: • Einsatz energieeffizienter Pumpen und Leuchtmittel, • Photovoltaikanlagen zur Eigenstromerzeugung2.

Es kommen verschiedene Möglichkeiten zur Reduktion in Betracht: • energetische Maßnahmen wie Solarabsorber, • betriebliches ­Lastenmanagement, • Temperaturabsenkungen.

Es kommen verschiedene Möglichkeiten zur Reduktion in Betracht3: • Abdeckung von Becken, • sensor- oder zeitgesteuerte Duschen und Handwaschbecken, • Regenwassernutzung und Abdichtung der ­Beckenköpfe.

VDI = Verein Deutscher Ingenieure 1 Daneben empfiehlt sich eine Bestandsaufnahme wesentlicher Stromverbraucher, um durch gezielte Steuerung die Stromlastspitzen zu reduzieren und Netzentgeltkosten zu minimieren. 2 Wenn vor Anschaffung die Wirtschaftlichkeit überprüft und nachgewiesen wurde (vgl. auch § 12 GemHVO Hessen zu Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen nebst Folgekostenbetrachtungen). 3 Zusätzlich können zumindest in Hessen Verdunstungsmengen bei der Schmutzwassergebühr abgezogen werden. Quelle: eigene Darstellung auf Basis des Kommunalberichts 2020, S. 283 ff. Tabelle: Verbesserung der Wirtschaftlichkeit kommunaler Bäder

Kommunale Unternehmen im Förderdschungel Schlechterstellung durch Unternehmensbegriff (BS/lkm) Ein Großteil der von Kommunen erbrachten Wertschöpfung findet heutzutage nicht mehr innerhalb der Verwaltung statt, sondern wird von kommunalen Unternehmen erbracht. Mancherorts zählen kommunale Unternehmen, wie Stadtwerke und Verkehrsbetriebe, zu den bedeutendsten Arbeitgebern. Doch auch an ihnen geht die aktuelle Corona-Pandemie nicht spurlos vorbei. Insbesondere im kommunalen Kultur- und Veranstaltungsbereich wie bei Theatern, Konzerthäusern, aber auch bei Messen, Kongresszentren oder ­Einrichtungen im Tourismus- und Freizeitbereich besteht hier ein besonderer Unterstützungsbedarf. Die Förderlandschaft sei hier jedoch alles andere als verständlich und handhabbar, wie Baris Gök, Referent für Finanzen und Steuern beim Verband kommunaler Unternehmen, im Rahmen der Beihilfenrechtstage des Behörden Spiegel erklärte. Der größte Teil der Corona-Hilfen gehe, so Gök, zurück auf den “befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von Covid-19” der EUKommission. Der befristete Rahmen selbst ist keine Rechtsgrundlage für Beihilfen, sondern ist die Rechtsgrundlage für entsprechende Förderprogramme. Die verschiedenen Bundesregelungen, wie die Überbrückungshilfe und auch die Novemberund Dezemberhilfen, sind die rechtliche Grundlage für die Förderprogramme des Bundes. Auf Grundlage der verschiedenen Bundesregelungen dürfen Kommunen und Länder Betrieben aus ihren Haushalten auch weitere Finanzmittel neben den Förderprogrammen des Bundes zukommen lassen. Der befristete Rahmen war ursprünglich bis Ende 2020 terminiert. Mittlerweile wurde er zum fünften Mal verlängert und gilt aktuell bis Ende 2021. Der befristete Rahmen wurde auch mehrmals inhaltlich geändert. So wurde der Höchstbetrag pro Unternehmen für Beihilfen auf 1,8 Millionen Euro erhöht.

Wenn öffentliche Unternehmen aufgrund der Pandemie von einer Schließungsanordnung betroffen waren, wie zum Beispiel öffentliche Schwimmbäder oder kommunale Theater, konnten sie November- beziehungsweise Dezemberhilfe beantragen. Bei öffentlichen Unternehmen werde dabei ausschließlich auf die am Markt erzielten Umsätze abgestellt. Zudem gelte bei öffentlichen Unternehmensverbünden und öffentlichen Unternehmen mit mehreren Betriebsstätten nicht das Konsolidierungsgebot. Für die einzelnen öffentlichen Unternehmen oder Betriebsstätten könne daher jeweils ein eigener Antrag gestellt werden, auch wenn diese einen Unternehmensverbund bildeten. “Öffentliche Unternehmen hatten bei der November- beziehungsweise Dezemberhilfe erhebliche Vorteile in Bezug auf die Privatwirtschaft”, so Gök.

Kritik am ­Unternehmensbegriff Jedoch sieht der Jurist im Unternehmensbegriff, der erst kürzlich vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) klargestellt wurde, ein großes Hindernis für kommunale Unternehmen. Demnach ist hier der EU-rechtliche Unternehmensbegriff maßgeblich. Infolgedessen gelten auch mehrere rechtlich selbstständige Unternehmen unter anderem dann als ein Unternehmen, wenn zwischen ihnen

Kontrollbeteiligungen bestehen. “Alle wirtschaftlichen Betriebe der Kommune und ihre Beteiligungen, die sie mittelbar oder unmittelbar kontrolliert, bilden beihilferechtlich ein Unternehmen”, so der Jurist. Der EUUnternehmensbegriff sei daher für kommunale Unternehmen schädlich. Kommunale Unternehmen sind demnach keine kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), wenn die öffentliche Hand mit mehr als 25 Prozent beteiligt ist. “Kommunale Unternehmen sind im Ergebnis keine KMU und zugleich ein Unternehmen im beihilferechtlichen Sinn”, so Gök. Dies sei unverständlich, denn obwohl eine Besserstellung von kommunalen Unternehmen nach der De-minimis-Verordnung vorgesehen sei, würden sie so im Rahmen der bundesrechtlichen Kleinbeihilfen schlechtergestellt. Er fordert daher, dass die KMUDefinition überarbeitet wird und kommunale Unternehmen nicht mehr schlechtergestellt werden. Zudem sollen bei der Ausgestaltung von Förderprogrammen beihilferechtliche Spielräume besser ausgenutzt werden. Bei Förderprogrammen auf Grundlage der De-minimis-Verordnung sollen kommunale Unternehmen privaten gleichgestellt werden. Für die Zukunft sind dem Juristen jedoch keine weiteren Pläne der Bundesregierung für weitere Corona-bedingte Förderungen aus Bundesmitteln für öffentliche Unternehmen bekannt.


Kommunale Infrastruktur

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ie Novelle des PBerfG soll umfassender als bisher sogenannte Mietwagen mit Fahrer – dazu zählen Unternehmen wie Uber oder Bolt – reglementieren und den Kommunen mehr Steuerungsmöglichkeiten an die Hand geben. Während es für die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen wirklichen Unterschied zwischen Taxi und Mietwagen mit Fahrer gibt, ergeben sich rechtlich durchaus Unterschiede. Herwig Kollar, Präsident des Bundesverbandes Taxi, erklärt: “Wir haben im Bereich des Mobilitätsmarktes Verkehrsteilnehmer, die vom Gesetzgeber mit besonderen Pflichten belegt sind. Dazu gehört auch das Taxi.” Diese ÖPNV-Verkehre sind mit Daseinsverpflichtungen aufgeladen. Das heißt, diese haben u. a. eine Beförderungs-, eine Tarif- und eine Betriebspflicht. Das bedeutet, dass Taxiunternehmen verpflichtet sind, einen Betrieb einzurichten und dem öffentlichen Verkehrsbedürfnis entsprechend aufrechtzuhalten. Das Taxi spiele in der Stadt und auf dem Land eine entscheide Rolle bei der Mobilitätsversorgung der Bevölkerung. Dieses Angebot werde zu “vernünftigen und austarierten” Bedingungen angeboten, so Kollar. Der Taxiunternehmer könne nicht einfach unrentable Strecken nicht bedienen oder einen Aufpreis bei hoher Nachfrage verlangen. Dafür genöss diese aber auch Privilegien. Die zweite Kategorie seien Mobilitätsangebote, die rein privatwirtschaftlich unterwegs seien. Dort gebe es keine Pflichten

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“Ungleiches ungleich behandeln”

dort einen Markt gibt. Im ländlichen Raum funktionieren diese nicht”, so Kluckert. Sie plädiert dafür, eher die Digitalisierung in diesem Bereich besser zu nutzen. Deshalb müsste auch innovati(BS/bk) In der Debatte um Mobilitätsangebote wird häufig über den Individualverkehr und den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), beste- ven Unternehmen der Zugang zu hend aus Bus und Bahn, diskutiert. Das Taxigewerbe und Mietwagen mit Fahrer fallen dabei häufig aus dem Blick. Die verabschiedete Novelle des diesem Markt gewährt werden. Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) nimmt dabei die Mietwagen mehr in den Fokus. Eine Ungleichbehandlung zwischen Taxi und Mietwagen Marion Jungbluth, Teamleiterin Mobilität und Reisen beim wird fortgesetzt. Ob dies zielführend ist, ist umstritten. Verbraucherzentrale Bundesdass vernünftige Alternativen auf die Mietwagen. Dies könne verband (vzbv), findet, dass die verdrängt werden und die Kosten aber nicht im Sinne des Klima- Debatte um Taxi und Mietwagen für die Verbraucher steigen. Zu- schutzes sein. Ebenso müsste zu kurz greift. Es brauche eine dem würden die Innenstädte mit ja der ÖPNV weiter finanziert grundsätzliche Verbesserung des zusätzlichen Fahrzeugen geflutet. werden, sodass die Kosten für Mobilitätsangebots. Der Zustand Dr. Jan Schilling, VDV-Ge- die Gesellschaft stiegen, da die sei derzeit so, dass die Verbraucher momentan nicht zufrieden schäftsführer ÖPNV, hält eben- Einnahmen wegfielen. Für eine Stärkung des ÖPNV seien – weder mit dem Taxi noch so eine Ungleichbehandlung für geboten: “Es braucht eine als wichtigste Säule der Mobili- mit dem ÖPNV. Gerade mit Blick unterschiedliche Regulierung tät macht sich Daniela Kluckert, auf die Verringerung des Indivivon unterschiedlichen Dingen. (FDP) stellvertretende Vorsitzen- dualverkehrs müsse das Angebot Am Ende ist es nicht Aufgabe de des Ausschusses für Verkehr wesentlich attraktiver werden. des Gesetzgebers, betriebswirt- und digitale Infrastruktur, stark. Für die Regulierung des Taxischaftliche Optimierung zu er- Das kommende Jahrzehnt müsse und des Mietwagenmarktes gebe möglichen, sondern die gesamte ein Jahrzehnt des ÖPNV werden. es digitale Möglichkeiten. Jedoch Gesellschaft und dabei auch den Eine Privilegierung sei hier an- müsse man bei der Regulierung volkswirtschaftlichen Nutzen im gebracht. Dies sehe sie jedoch auch einen eleganten Spagat Wie viel Regulierung braucht es auf dem Mobilitätsmarkt? Im Bereich von Taxi und Blick zu behalten”, so Schilling. getrennt von einem Taximarkt. hinkriegen, so Jungbluth. Sie Mietwagen mit Fahrer scheiden sich die Geister. Foto: BS/MichaelGaida, pixabay.com Die internationalen Erfahrungen “Ich sehe nicht mehr den Sinn befürchtet, dass “die kommuhätten gezeigt, dass die Verspre- von Privilegien im Bereich des nalen Behörden damit komplett aber auch keine Privilegierung. die Dienstleistung zwar mehr chen der Mietwagenanbieter, was Taxis”, sagt Kluckert. Während überfordert werden”. So, wie die Zudem gälten unterschiedliche oder weniger die gleiche, aber Klimaschutz und ein besseres im Bereich der Pooling-, Sharing- Debatte geführt werde, würden Steuersätze. Das PBerfG greife für das gesamte Marktgesche- Mobilitätsangebot angehe, nicht und anderen Angebote Zufrieden- sie wahrscheinlich stark davon nun regulierend in den Mobili- hen und für das Funktionieren eingehalten worden seien. Nun heitswerte von 84 bis 92 Prozent getrieben, den Regulierungsrahtätsmarkt ein. So gebe es eine eines verlässlichen Mobilitätsan- würden in diesen Staaten diese erreicht würden, erreiche das men so zu nutzen, um Uber zu Rückkehrpflicht zum Betriebsort gebotes gibt es entscheidende Anbieter verstärkt reguliert, weil Taxi nur Werte von 36 Prozent. verhindern. Doch darum gehe für Mietwagen mit Fahrer. Des Unterschiede”, sagt Kollar. Es sei die Folgen für die Verbraucher Deshalb müsse man sich fragen, es ja nicht, sondern darum, wie Weiteren könnten die Anbieter sol- richtig, dass der Gesetzgeber dies und die Kommunen nicht posi- ob ein solcher Wert eine weitere die Verbraucher ein attraktives cher Angebote von den jeweiligen berücksichtige. Auch ist Kollar tiv seien. Der Markt solle eher Privilegierung rechtfertige, argu- und klimaverträgliches AngeKommunen verpflichtet werden, überzeugt, dass eine komplette evolutionär statt revolutionär mentiert die Abgeordnete. Des bot bekäm. Solange nicht vom eine Vorbestellfrist einzuführen. Deregulierung des Marktes nicht unter Bezugnahme von schon Weiteren würden in manchen Kunden her gedacht werde und Aufgrund der Pflichten für Taxis zu einer Verbesserung führt. bestehenden Erfahrungen ge- Gebieten die Taxiunternehmen auch kein Wettbewerb um den sei eine Gleichbehandlung mit Die Beispiele aus beispielswei- öffnet werden. Auch befürchtet nicht ihre Pflichten erfüllen. “Die Kunden stattfinde, werde es auch Mietwagen nicht zielführend. se Großbritannien hätten dies Schilling eine Verdrängung und Bedienpflichten von Taxis funkti- keine Veränderung geben, so “Aus Sicht des Verbrauchers ist schon gezeigt. Er befürchtet, einen Umstieg der Verbraucher onieren nur in der Stadt, weil es Jungbluth.

Streitthema im PBefG: Uber und Taxi

Neuer digitaler Sanierungs-Helfer

Nutzungsmischung versus Wohnruhe

Städte und Kommunen setzen auf “GebäudeCheck”

Wie kommt Leben in unser Quartier?

(BS/Thorsten Harig*) Eine Kernaufgabe der Bauämter in kommunalen Behörden ist die verantwortungsvolle Liegenschaftsbetreuung. Dazu gehört die regelmäßige und sorgsame Objektbegehung als Voraussetzung des Werterhalts, der Wertsteigerung und der klimafreundlichen Gestaltung der Immobilien. Klimaneutralität gilt heute als wichtiges Ziel der meisten Städte und Gemeinden. Da 35 Prozent des Endenergiebedarfs in Deutschland auf den Gebäudesektor fallen, nimmt die Bedeutung der Gebäudesanierungen stark zu. Bei der aktuellen Renovierungsquote von etwa einem Prozent pro Jahr werden die Klimaziele aber nicht erreicht werden können. Dazu bedarf es einer Verdreifachung der aktuellen Renovierungsquote.

(BS/Malin Jacobson) Eine Stadt der kurzen Wege, in der es keine Autos mehr gibt, alle Parkplätze zu Parks und alle Straßen zu Radwegen umgewandelt wurden: So sieht das Idealbild einer Stadt der Zukunft aus, die auf Nachhaltigkeit und gut erreichbare Nahversorgung ausgerichtet ist, in der es alles gibt, was man zum Leben braucht.

Die Bestandserfassung in den Kommunen ist ein mühsames Geschäft: Mithilfe von Check­ listen, Protokollen und einer Fotodokumentation werden üblicherweise Mängel in den Bereichen Sicherheit, Funktion und Sauberkeit sowie gebäudetech­ nische Besonderheiten geprüft, dokumentiert und deren Sanierung beantragt. Das Zusammenführen der ausgefüllten Zettel mit den vor Ort getätigten Fotos und dem geschätzten finanziellen Aufwand ist mühsam und zeitaufwendig. Hinzu kommt, dass die Bewilligung von Geldern für die notwendige Gebäudesanierung von anderen hausinternen Stellen in den Kommunen genehmigt werden muss. Ist für diese Bewilligungsstellen der Bewertungsprozess nicht transparent und nachvollziehbar, verzögert sich das finanzielle Genehmigungsverfahren erneut. Der mobile und ortsunabhängige Einsatz der Software “GebäudeCheck” auf Tablet oder Handy ermöglicht es, den Sanierungsaufwand in kürzester Zeit digi-

tal zu bewerten. Die intuitiv zu nutzende Software gestattet die Einbindung von Fotos und Notizen in die Analyse. Nach Ende der Begehung liegen dem Nutzer alle Bewertungsdaten vor. Der Clou ist ein Ampel-System, das dem User direkt anzeigt, ob alles in Ordnung ist, in Kürze Maßnahmen durchgeführt werden sollten oder ob unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Ein weiterer Pluspunkt sind die standardisierten Wertetabellen in der Software, die die Kosten der jeweiligen potenziellen Sanierungsmaßnahme bewerten. “Mit der Software tauschen wir das Klemmbrett gegen ein Tablet bei der Begehung unserer Bestandsgebäude”, meint etwa Manuel Eckhardt, Mitarbeiter des Hochbauamts der Stadt Konstanz. “Jetzt sind wir weit über die Hälfte schneller, haben keine Übertragungsfehler der Daten mehr und klar strukturierte, nachvollziehund bedienbare Gebäudeparameter. Mit diesen Voraussetzungen können wir unsere Gebäude zügig energieeffizient gestalten.” Eine

Mit der PLAN4-Software spart man bei der Begehung über 50 Prozent Zeit. Foto: BS/pasja1000, pixabay.com

Umfrage unter Verantwortlichen von Liegenschaftsbetreuungen ergab, dass anstatt der durchschnittlichen Arbeitszeit von elf Stunden pro Dokumentation nach Einsatz der Software nur noch fünf Stunden benötigt werden. Mittlerweile wird die Software GebäudeCheck in sechs Bundesländern von zahlreichen Kommunen eingesetzt. Der Weg zu den Verantwortlichen in den kommunalen Bauämtern verlief immer ähnlich. In den meisten Fällen wurden Vertreter der Freiburger PLAN4 Software GmbH vom zuständigen Gemeindetag eingeladen, um die Software-Lösung vorzustellen. Die Kommunen reagierten begeistert, woraufhin es zu Gesprächen, Workshops und schließlich zum Einsatz der Software kam. Auch die Stadt Augsburg hat den GebäudeCheck mittlerweile bei über 30 Gebäudebegehungen eingesetzt. Für die turnusmäßigen bautechnischen Begehungen und Prüfungen der rund 700 Gebäude der Stadt Augsburg wird die Software des Freiburger Startups auch in Zukunft genutzt werden. “Direkt nach der Begehung liegen alle erfassten Daten übersichtlich sortiert vor. Dank GebäudeCheck ist sofort nach der Begehung klar, in welchem Zustand sich die einzelnen Räume des jeweiligen Gebäudes befinden und wie hoch die Kosten für die Sanierungen sind”, erklärt Matthias Rüther vom Hochbauamt der Stadt Augsburg. “Wenn es jetzt um anstehende Sanierungen geht, kann auf Datenbasis der Software eine fundierte Entscheidung getroffen werden.” *Thorsten Harig ist Co-Founder der PLAN4 Software GmbH aus Freiburg.

“Es geht nicht darum, Einrichtungen wie Schwimmbäder oder Theater, die ein gewisses Einzugsgebiet brauchen, in jedes Quartier zu integrieren,” erklärt Uta Bauer, Projektleiterin “Stadtstruktur, Wohnstandortwahl und Alltagsmobilität” des Deutschen Instituts für Urbanistik, im Zuge einer Diskussionsrunde der Veranstaltungsplattform NeueStadt.org. “Sondern es geht um alltagsnotwenige Einrichtungen wie Schule und Kita, Supermarkt, Park und Naherholung.” Das umzusetzen, sei allerdings nicht so einfach. Städte seien bereits gebaut und würden nicht abgerissen und neu geplant. Hinzu komme, dass viel Raum in den Städten für Verkehr genutzt werde, und das nicht besonders intelligent, meint Miriam Dross, Fachgebietsleiterin für nachhaltige Mobilität in Stadt und Land beim Umweltbundesamt (UBA). Viele Autos stünden 23 Stunden am Tag, dabei sei die Frage der Raumverteilung eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. “Momentan gibt es zu wenig Raum für aktive Mobilität, zum Verweilen, zum Spielen oder für Stadtkunde”, fährt sie fort.

Umnutzung Die Lösung von Professor Elisabeth Merk, Architektin, Stadtplanerin und Stadtbaurätin der Stadt München: “Wir müssen die Stadt nicht umplanen, nur anders nutzen.” Fußballweltmeisterschaften zeigten, dass es möglich sei, über Nacht Straßen abzusperren, fährt sie fort. “Die Straßenverkehrsordnung macht eine solche Umnutzung allerdings sehr schwer”, ergänzt Dross. Diese habe nur das Auto im Mittelpunkt. Zudem gebe es in den Städten große Vorbehalte seitens der Bevölkerung gegenüber Umnutzungsvorhaben. Und Bauer erklärt, dass man mit Blick auf den Klimaschutz bei den Verkehrsgesetzen noch in den

Eine Stadt der kurzen Wege hat viele Vorteile: Besorgungen sind schnell gemacht, Fahrzeiten und Feinstaubbelastung werden reduziert und es finden wieder mehr Begegnungen im eigenen Lebensraum statt. Wenn man das denn will. Foto: BS/B_Me, pixabay.com

30er-Jahren rumeiere. Sie macht deutlich, dass Fahrradverkehr zu fördern teilweise sehr schwierig sei, weil jede Einschränkung des fließenden (Auto-)Verkehrs begründet werden müsse. Das führe dazu, dass in den Städten oft ein Flickenteppich an Möglichkeiten bestehe, aber keine Einheitlichkeit. Dabei gäben Klimaschutzgesetz und die bereits genannten Vorteile klare Handlungsrichtungen vor. “Eigentlich sollte der Verkehrssektor bis 2030 etwa 40-42 Prozent an Emissionen einsparen”, so die Fachgebietsleiterin des UBA. “Nach dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes könnte dieses Ziel aber durchaus noch angehoben werden.” Das Umweltbundesamt habe daher 150 Pkws pro 1.000 Einwohner als Ziel festgelegt, um das Verkehrsaufkommen zu verringern. Zum Vergleich: In Berlin gibt es momentan 350 Pkws pro 1.000 Einwohner.

Lebensraum Alle alltagsnotwenigen Einrichtungen fußläufig anbieten zu können, setze eine gewisse Funk-

tionsdichte und eine damit einhergehende Nutzungsmischung voraus. Gewerbliche Quartiere und Wohnquartiere dürften nicht streng voneinander getrennt sein, damit kurze Wege gewährleistet werden könnten. Jan-Oliver Siebrand, Bereichsleiter des Geschäftsbereichs Infrastruktur der Handelskammer Hamburg: “Das Planungsrecht ist da aber sehr starr und die Entmischung sowie die Wohnruhe sind im Baurecht tief verhaftet. Die Leute wollen zwar nutzungsgemischter leben und alles erreichen können, aber die Empfindlichkeiten bzgl. der Wohnruhe sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen. Das sind zwei sehr gegenläufige Bewegungen.” Zudem gebe es auch Räume, die nicht engräumig genutzt werden könnten, beispielsweise Gewerbegebiete und Industrieräume. Ein weiterer Aspekt für fußläufige Erreichbarkeiten sei die Bevölkerungsdichte. Für einen Nahversorger brauche man in der Regel einen Einzugsbereich von 7.000 bis 10.000 Einwohnern und das schaffe man nur mit einer fußläufigen Bebauung von Städten, erklärt Bauer.


Kommunale Infrastruktur

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Neuer “Bonus für Bäder”

Schulschwimmen sichern

Statt Millionen für Investitionen Gelder aus dem KFA

Kommunen müssen Bäder sanieren

(BS/Götz Konrad*) In der Corona-Krise wurde der Gesundheitsdienstleister vor Ort schmerzlich vermisst. Die Schwimmbäder blieben geschlos- (BS/jf) “Wir wollen moderne, barrierefreie Bäder in den Stadtbezirken”, sen. Jetzt müsste klar werden, was wir seit Jahren als “Bonus für Bäder” vorschlagen. Wir brauchen eine finanzielle Entlastung, die nichts kostet. sagt Stefan Günther, Leiter Sport- und Bäderamt in Bonn. Dafür muss die Bundesstadt rund 150 Mio. Euro investieren und ungewöhnliche Wege Das Freizeitbad “Panoramablick” Unterdecke erneuert werden, als gehen. Vielerorts ist der Sanierungsbedarf ähnlich groß, das Finanzsäin Eschenburg ist eines wie vie­ bei der Statik-Überprüfung in den ckel der Kämmerer aber leer. Entsprechend laut wird der Ruf nach Förderle andere. 1973 eingeweiht, als tragenden Betonteilen der Dach­ geldern des Bundes. Denn für einige steht ein Kulturgut auf dem Spiel. der Geist von Olympia und die Gebietsreform in Hessen viele bewogen, ein Schwimmbad zu bauen. Der Zweckverband “Mittel­ punktschwimmbad Dietzhölztal” wurde 1969 gegründet, als es die beiden heutigen Mitgliedsgemein­ den Eschenburg und Dietzhölztal noch gar nicht gab. “Etwaige Ge­ winne dürfen nur für satzungsge­ mäße Zwecke verwendet werden”, hieß es in der ersten Satzung. Vielmehr gab es bei diesem “ge­ borenen Verlustbetrieb”, wie ihn die Wirtschaftsprüfer nannten, reichlich Verluste. Es folgte ein jahrzehntelanger Streit um die Umlage. Das Freizeitbad “Panora­ mablick”, wie es seit einem ersten Umbau 1991 heißt, kam meist wegen der politischen Debatten in die Schlagzeilen der Lokalzeitung.

Kosten interkommunal ­aufgeteilt Erst mit einer neuen Satzung 2017 wurde die Zuschussfinanzie­ rung neu geregelt. Die Dreiviertel­ million an Betriebskostenzuschuss wird nun unter den beiden Ge­ meinden nach den tatsächlichen Einwohner-Anteilen an dieser in­ terkommunalen Zusammenarbeit aufgeteilt. Grundlage für Kompro­ miss und neue Kostenaufteilung war ein Bauprogramm für die Jahre 2017 bis 2022, das auf ein Volumen von 500.000 Euro gedeckelt wurde und von den beiden Mitgliedskom­ munen durch jährlich stetige Zu­ weisungen direkt finanziert wird. Das machte das Schwimmbad für beide Kommunen kalkulierbar. Die Schließung des Bades oder die Auflösung des Zweckverbands waren zuvor ständig auf der Tages­ ordnung. Politische Diskussionen sind nicht förderlich, wenn sie nur die Kosten im Blick haben, nicht aber den Nutzen.

Dank eines zukunftsweisenden Finanzierungsmodells erfreut sich das Freizeitbad “Panoramablick” in Eschenburg großer Beliebtheit. Foto: BS/privat

dell ganz klar die Entschuldung des Verbands und die Entlastung des Ergebnisses als Ziel. Mit der Ergebnisrechnung der doppelten Buchführung kam nicht nur der Schuldendienst alter Tage in den Blick, sondern auch die Abschrei­ bung auf neue Investitionen.

2023 schuldenfrei Für die Entschuldung war es ein großer Sprung, als ein Teil des viel zu großen Grundstücks für einen Altenheim-Neubau verkauft werden konnte. Kredite sollten nun nur noch zur Zwischenfi­ nanzierung und Umschuldung aufgenommen werden. Ab 2023 soll der Zweckverband erstmals ohne Schulden dastehen. Investiti­ onen werden durch Zuschüsse der Gemeinden und auch des Landes

finanziert. In der Ergebnisrech­ nung können jetzt auch “Erträge aus der Auflösung von Sonderpos­ ten” mit rund 64.000 Euro jähr­ lich als gutes Gegengewicht zur Abschreibung in die Waagschale geworfen werden. Die Zuschüsse des Fördervereins und die Zuwei­ sungen der Mitgliedsgemeinden werden hier ertragswirksam über die Nutzungsdauer des Anlagegu­ tes aufgelöst – wie auch insgesamt 390.000 Euro Zuschüsse aus dem Hallenbad-Investitionsprogramm HAI des Landes Hessen.

Hilfe über den kommunalen Finanzausgleich Hessens Hilfe hat in den Jahren 2008/2009 den Fortbestand des Freizeitbads gesichert. Eigentlich sollten nur die Lüftung und die

konstruktion Rost entdeckt wur­ de. Allein hätten wir eingepackt. Für den Endspurt dieses Baupro­ gramms sind auch wieder 80.000 Euro Zuschüsse der Landesförde­ rung SWIM zugesagt. Dennoch ist für das Bad “Pa­noramablick” die Investitionsförderung nicht alles: Ein “Bonus für Bäder” wurde für den Kommunalen Finanzausgleich (KFA) vorgeschlagen, um die lau­ fenden Betriebskosten anteilig aus dem KFA zu finanzieren. Die Idee dazu kam mir nach Auswer­ tung einer Besucher-Befragung im Jahr 2012: Nur 45 Prozent der Gäste kamen aus den beiden Träger-Kommunen, aber allein fünf Prozent aus der Heimatstadt von Hessens damaligem Finanz­ minister Dr. Thomas Schäfer: Hemer. Stattdessen fördert das Land Hessen die 31 Kurbäder mit Zuweisungen aus dem KFA mit 13 Millionen Euro jährlich. Gerade in der Krise, wenn alle Schwimm­ bäder geschlossen haben, sieht jeder, was fehlt. Deshalb brauchen wir einen Bonus für Bäder statt Millionen für Investitionen Mehr dazu im Blog des Autors unter www.freizeitbad-panorama blick.de/bonus *Götz Konrad ist Bürgermeister der Gemeinde Eschenburg.

Gelder vom “Fanclub” Privatisierung, Genossenschaft, Vereinsbad – es wurden auch andere Trägerformen beraten. Ein Förderverein wurde gegrün­ det, der zwar den Betrieb nicht übernehmen wollte, aber ideeller Träger wurde. Mit rund 70.000 Euro hat der Förderverein in zehn Jahren gezielt Projekte gespon­ sert. Diese Hilfe vom “Fanclub” reichte vom Laufställchen über die LED-Unterwasserbeleuchtung im Außenbecken bis zum Poollifter. Früher “auf Pump” finanziert, hatte das neue Finanzierungsmo­

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ieser Abwägungsprozess ist oft schon im Gesetz selbst ange­ legt (vgl. beispielsweise § 19 Abs. 1 Hessische Gemeindeordnung). Danach sollen Kommunen ihren Einwohnern die für erforderlich gehaltenen öffentlichen Einrich­ tungen im freiwilligen Bereich bereitstellen, sofern dies die in­ dividuelle Leistungsfähigkeit der Städte und Gemeinden erlaubt. Problematisch wird es bei Haus­ haltsschieflagen. Das verdeutlicht die Corona-Pandemie gerade wie ein Brennglas. Es gibt wesentliche Stellschrau­ ben, um die Wirtschaftlichkeit der in vielen Kommunen auffindbaren Bürgerhäuser zu verbessern. Vor diesem Hintergrund haben wir zur Identifizierung von Einsparpotenzi­ alen einen Analysebaum auf Basis von Bestands-, Kosten- und Nut­ zungsanalysen entwickelt (siehe Hessischer Landesrechnungshof, Konsolidierungsbuch 2020, Seite 64). Mit einem Energiecontrolling und Energiemanagementsystem als integrale Bestandteile der Liegenschaftsverwaltung können Kommunen aufgabenübergreifend

Das Frankenbad in der Bonner Nordstadt stammt aus den 60erJahren des letzten Jahrhunderts. Seit den 80er-Jahren steht es unter Denkmalschutz. “Eine Er­ weiterung von sechs auf acht Bahnen ist damit nicht möglich”, sagt Günther. Und damit auch keine höherklassigen Wettbe­ werbe mehr. Dennoch hat der Stadtrat eine Generalsanierung beschlossen. Gleichzeitig sollen städtebauliche und quartiersbe­ zogene Funktionen einbezogen werden. Das Frankenbad wird ein Quartiersbad, bei dem das Atrium künftig auch für andere Veran­ staltungen und als Begegnungs­ stätte genutzt werden kann. Das Frankenbad ist aber nur eins von fünf Bädern, die in der Bundes­ stadt saniert werden müssen. Damit kann in der 300.000-Ein­ wohner-Stadt mit ihren mehr als 40.000 Schülerinnen und Schü­ lern das Schulschwimmen nicht mehr stattfinden. Deshalb kann mit den Sanie­ rungsarbeiten erst begonnen werden, wenn ein neues, tem­ poräres Schwimmbad mit sechs Bahnen und 25 Meter langem Becken sowie einem Lehrbecken gebaut wurde. Dies soll aber nicht durch die Stadt errichtet werden. Diese hat die Aufgabe an einen Schwimmverein übertragen. Der soll das Bad in Leichtbauweise errichten, damit das Bad später wieder abgebaut und die techni­ sche Ausstattung an einem an­ deren Standort eingesetzt werden kann. Dazu will die Stadt dieses Interimsbad nach der Fertigstel­ lung vom Verein übernehmen. Dieses Vorgehen ist zwar ein Umweg, dadurch soll jedoch er­ heblich Zeit gespart werden. Zeit, die die Stadt nicht hat. Denn erst wenn dieses Bad fertiggestellt ist, kann mit der Sanierung der ande­ ren Bäder begonnen werden, um überhaupt einen Schulschwimm­ sport anbieten zu können. Würde die Stadt das Interimsbad direkt bauen, müsste sie das Verga­ berecht beachten. Der Verein ist jedoch kein öffentlicher Auf­ traggeber und kann somit Planer und Baufirmen direkt beauftra­ gen. Dieses Vorgehen habe man innerhalb der Stadtverwaltung geprüft und sich dabei an einem ähnlichen Vorgehen in BerlinKreuzberg orientiert. Insgesamt 130 Mio. Euro muss die Stadt

Bürgerhäuser – Wege zur Zukunftssicherung Überörtliche Prüfung hat umfassende Analyse entwickelt (BS/Ulrich Keilmann) Bürgerhäuser sind für den sozialen Zusammenhalt in einer Gemeinde wichtig – gleichzeitig sind sie regelmäßig defizitär. Zentral ist ergo eine vertretbare Abwägung der widerstreitenden Interessen. ihre Energieverbräuche in ener­ gierelevanten Bereichen signifikant senken. Darunter fällt etwa der Ab­ gleich und – falls möglich – die Sen­ kung des Energieverbrauchs von Bürgerhäusern auf den Verbrauch gemäß dem Richtwert des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI). Regelmäßig sind ortsansässige Vereine Hauptnutzer von Bür­ gerhäusern. Unabhängig von der Frage von Nutzungsgebühren sollten sie zumindest an den Be­ triebskosten beteiligt werden, um einen Anreiz zum Energie- und Wassersparen zu setzen. Des Weiteren kann geprüft wer­ den, ob Bürgerhäuser an Vereine übertragen werden können. Im Sinne einer Rationalisierungsdi­ vidende könnten die Vereine im Gegenzug zweckgebunden direkt gefördert werden. Letztlich wären Bürgerhäuser als “Ultima Ratio” auch gänzlich disponibel und

verkäuflich. Das sind indes keine Blaupausen. Allen erheblichen Bauinvestiti­ onen sollen Wirtschaftlichkeits­ betrachtungen zum Erhalt der fi­ nanziellen Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Folgekosten vorausgehen (vgl. etwa § 12 Abs. 1 GemHVO Hessen). Denn bei Bau­ projekten von jahrzehntelangen Nutzungsdauern darf der Aspekt der finanziellen Auswirkungen auf den Haushalt künftiger Jahre nicht ausgeblendet werden. Die nach Baukosten preiswerteste Lösung muss nicht zwangsläufig auf lange Sicht die wirtschaftlichste Lösung sein. Ebenfalls sind bereits in der Planungsphase mehrere in Be­ tracht kommende Möglichkeiten in Form eines Variantenvergleichs zu untersuchen. Darunter fällt beispielsweise die Untersuchung unterschiedlicher Standorte, Bau­ weisen etc.

ausschließlich eine schon vorher festgelegte Variante untersucht, liegt kein sachgerechter Wirtschaft­ lichkeitsvergleich vor. Einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung von Infrastrukturen wie Bürgerhäusern leisten regel­ mäßig Fördermittel. Sie bergen allerdings dann die Gefahr von Fehlanreizen, wenn sie das Haupt­ argument für Investitionen sind und Maßnahmen höherer Priori­ tät zugunsten geförderter Inves­ titionen zurück­ gestellt werden. Daneben werden oftmals künftige Ulrich Keilmann ist Direktor beim Hessischen LandesBelastungen durch Folgekosten in ge­ rechnungshof und leitet den Bereich Überörtliche Prüfung förderten Projekten kommunaler Körperschaften. vernachlässigt. De facto können hohe Foto: BS/privat ungeplante Haus­ haltsbelastungen die Folge sein. Im

Prüfungserfahrungen der Über­ örtlichen Prüfung zeigen, dass ge­ rade Folgekosten im Vorfeld von Investitionsentscheidungen nicht immer einkalkuliert werden. Noch dürftiger sieht es bei den Varian­ tenvergleichen aus: Selten werden mehrere in Betracht kommende Möglichkeiten miteinander vergli­ chen. Nur bei einem tatsächlichen Vergleich von Alternativen kann die für die Kommune wirtschaftlichs­ te Lösung ermittelt werden. Wird

Damit die Kleinen nicht nur Planschen, sondern auch Schwimmen lernen, müssen Städte und Gemeinden ihre Bäder sanieren. Foto: BS/Christo Anestev, pixabay.com

dafür in den nächsten Jahren investieren. Allein für das Fran­ kenbad werden schätzungsweise Ausgaben von 20 Mio. Euro not­ wendig. Entsprechend kritisiert Günther: “Es fehlt ein spezielles Investitionsförderprogramm für Schwimmstätten.” Zwar würden Bäder in diversen Förderprogram­ men auftauchen, aber eben nur am Rande. Ähnlich sieht es auch Achim Wiese. Der Pressesprecher der Deutschen Lebens-RettungsGesellschaft e. V. (DLRG) macht dies unter anderem an der Ent­ wicklung der Bäderzahlen fest. Habe es im Jahr 2000 rund 6.700 Bäder in Deutschland gegeben, seien es 2017 schon deutlich weniger gewesen: knapp 6.000. Vier Jahre später sei die Lage noch dramatischer. 2021 habe die Zahl der Bäder nur noch bei rund 4.700 Hallen- und Freibä­ dern gelegen. Zugleich hätten im letzten Jahr rund 70.000 Kinder wegen geschlossener Bäder kei­ nen Schwimmunterricht gehabt. Wiese sieht daher das Kulturgut Schwimmen in Gefahr und for­ dert: “Schwimmbäder müssen ein Teil der kommunalen Da­ seinsvorsorge sein und nicht als freiwillige Aufgabe der Städte und Gemeinden gelten.” Die Kultusmi­ nisterkonferenz habe Schwimmen als Aufgabe der Schulen definiert. Damit die Schulen diesen Auf­ trag erfüllen könnten, müssten die Schulträger, meistens die Kommunen, für die notwendige Infrastruktur sorgen. Siehe auch: Behörden Spiegel, Juni-Ausgabe 2021, Seite 21.

Bedarfsfall können die aufgezeigten Maßnahmen und die Beachtung der Investitions-Grundsätze durch­ aus die Zukunft vieler Bürgerhäu­ ser trotz pandemiebedingter Aus­ wirkungen sichern. Allerdings wird dies nicht in jedem Fall gelingen. Dann muss eine Abwägung erfol­ gen, in der es kommunalpolitische Aufgabe ist, unter: • Berücksichtigung kommunalpo­ litischer Präferenzen, • der demografischen Entwick­ lung und • der finanziellen Leistungsfähig­ keit zu entscheiden, ob jede einzel­ ne Einrichtung in der derzeitigen Form überhaupt weiterhin not­ wendig ist.

Mehr zum Thema Lesen Sie mehr zum Thema “Bürgerhäuser” im Konsolidierungsbuch 2020, S. 63 f. Das Konsolidierungsbuch ist kostenfrei unter www.rechnungshof.hessen.de, Suchwort “Konsolidierungsbuch 2020” abrufbar.


Kommunale Sicherheit

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Behörden Spiegel / Juli 2021

Mehr Kompetenzen für Kommunen gefordert

Kommission als Schnittstelle

Streckensperrungen durch Gemeinden bislang noch nicht möglich

Prävention erfordert ganzheitlichen Ansatz

(BS/Marco Feldmann) Zahlreiche deutsche Gemeinden sind aufgrund ihrer geografischen Lage massiv durch Motorradlärm belastet. Für die Anwohnerinnen und Anwohner von stark durch Zweiradfahrer beanspruchten Straßen kann das eine Belästigung und sogar eine Gesundheitsgefahr darstellen. Krankheiten wie Herzinfarkte und Schlaganfälle drohen gehäuft aufzutreten. Bislang können Kommunen gegen Motorradlärm allerdings nur wenig ausrichten.

(BS/mfe) In Berlin existiert seit 1994 die Landeskommission gegen Gewalt, wenn auch zunächst unter einem anderen Namen. Deren Mitglieder haben sich einem ressortübergreifenden Vorgehen verschrieben. Das Staatssekretärsgremium fungiert dabei als Schnittstelle zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Das müsse sich ändern, verlangt Sonja Schuchter, Bürgermeisterin der Schwarzwaldgemeinde Sasbachwalden. Die Initiatorin der “Initiative Motorradlärm” fordert ein Recht für Kommunen, Strecken im Einzelfall zumindest an Sonn- und Feiertagen aufgrund von Lärm zu sperren. Bislang dürfen Streckensperrungen allerdings nur von der jeweils zuständigen Straßenverkehrsbehörde, also durch das Landratsamt, vorgenommen werden. Zudem müssen sie gut begründet werden. Dafür braucht es oftmals auch Lärmmessungen. Den Gemeinden bleibe nur die Möglichkeit, für die Gefahren von und durch Lärm zu sensibilisieren, etwa durch das Aufstellen entsprechender Messdisplays in geschlossenen Ortschaften oder durch Plakataktionen. Derartige Maßnahmen würden zwar der Bevölkerung vor Ort durchaus helfen. Damit ließen sich aber leider nicht alle Motorradfahrer erreichen, meint Schuchter, die auch gegen generelle Streckensperrungen ist, da dies nur zu Verdrängungseffekten führe. Deshalb sei die Politik gefordert, hier nochmals gesetzgeberisch tätig zu werden. Ebenfalls in der Verantwortung sieht die Kommunalpolitikerin, an deren Initiative sich bereits mehr als 170 Gemeinden beteiligen, die Motorradhersteller.

Selektive Einzelmaßnahmen nicht sinnvoll Aus Sicht von Reiner Brendicke, Hauptgeschäftsführer des Industrie-Verbandes Motorrad Deutschland e. V., braucht es für Verbesserungen zwingend den Dialog aller Akteure. Erforderlich sei ein umfassendes Konzept. Für nicht zielführend hält er selektive Einzelmaßnahmen, durch die ganze Gruppen von Verkehrsteilnehmern in “Sippenhaft” genommen würden. Ähnlich äußert sich Michael Lenzen, Erster Vorsitzender des Bundesverbandes der Motorradfahrer (BVDM). Seine Vereinigung, die rund 20.000 Motorradfahrer hierzulande vertritt, sei gegen Streckensperrungen und klage auch gegen

Diskutierten über Motorradlärm und Maßnahmen gegen ihn (von oben links im Uhrzeigersinn): Sonja Schuchter, Bennet Klawon (Moderation), Reiner Brendicke, Michael Jäcker-Cüppers und Michael Lenzen. Screenshot: BS/Feldmann

derartige Anordnungen. Denn diese Maßnahmen würden Motorradfahrer unzulässigerweise unter Generalverdacht stellen und Verdrängungseffekte zur Folge haben. Seiner Meinung nach sind vielmehr die Innenminister gefragt, die Polizeien weiter zu verstärken, damit die Beamtinnen und Beamten effektiv gegen “schwarze Schafe” vorgehen könnten, die bewusst gegen Regeln verstießen. Denn laut Lenzen hat der Fahrer “viel in seiner Gashand” und könne durch sein Fahrverhalten den Lärmpegel erheblich beeinflussen und senken. Er findet: “Sound ja, Krach nein!”

en die dortige Orientierung am Standgeräusch der Motorräder sowie die direkte Korrelation zwischen dem Stand- und dem Fahrgeräusch, gibt Lenzen zu bedenken. Jäcker-Cüppers ficht das nicht an. Er fordert sogar noch mehr. So ist seines Erachtens in der Zukunft auch ein Umdenken in der Industrie in Bezug auf das Design und die Ausgestaltung von Motorrädern notwendig. So müsse dort vermehrt über elektrische Antriebe sowie einen Geräuschedeckel nachgedacht werden. Außerdem sollte es keine sportlichen Motorräder mehr in bewohnten Gebieten geben.

Tirol hat bereits gesperrt

Halterhaftung gefordert

Michael Jäcker-Cüppers, Vorsitzender des Arbeitsrings Lärm der DEGA (ALD), meint, dass wohl kein Weg an Streckensperrungen für Motorradfahrer vorbeiführen werde. Denn dabei handele es sich um rasch wirksame Maßnahmen, die im österreichischen Tirol bereits ergriffen worden seien. Denn die Lärmbelästigung durch Motorräder sei relativ hoch und habe negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Anwohnerinnen und Anwohner. So würden teilweise, auch aufgrund von Manipulationen an den Maschinen, bis zu 110 db erreicht. Der Grenzwert liege aber eigentlich bei 77 db, so JäckerCüppers. Lenzen und Brendicke halten von der österreichischen Maßnahme hingegen gar nichts. Sie sei aus juristischen Gründen nicht auf die Bundesrepublik übertragbar. Problematisch sei-

Bürgermeisterin Schuchter hingegen plädiert für praktikablere Lärmmessungen sowie die Einführung der Halterhaftung auch im fließenden Verkehr. Bislang gebe es sie nur für den Bereich des ruhenden Verkehrs. Und auch gilt nur eine Kostentragungspflicht. Sofern der Fahrer nicht ermittelt werden kann, muss der Halter eines Fahrzeugs die Verfahrenskosten in Höhe von jeweils 23,50 Euro tragen. Das Verwarngeld selbst muss er nicht zahlen, da dieses nur dem Verursacher des Verkehrsverstoßes angelastet werden darf. Die Halterhaftung müsse ausgeweitet werden, da Motorradfahrer aufgrund ihres Helms nur schwer zu identifizieren seien und eine Überwachung momentan nur durch personalintensive Polizeikontrollen möglich sei, findet Schuchter.

Vertreten seien dort unter anderem Staatssekretäre aus der Innen- und der Bildungsverwaltung sowie der Arbeits- und Justizverwaltung, erläutert Ingo Siebert von der Geschäftsstelle der Landeskommission. Ebenfalls beteiligt sind der Opferbeauftragte des Landes Berlin, der Polizeivizepräsident und Vertreter einiger Bezirke. Ziel sei es, Gesamtkonzepte und Strategien zu entwickeln sowie Anregungen und Impulse zu geben. Dies solle durch das Aufzeigen von “Best Practices” sowie die Entwicklung von Modellprojekten geschehen, so Siebert weiter. Dabei arbeiten die Kommissionsmitglieder mit einem weiten Gewaltbegriff, um zum Beispiel auch Gewalt im digitalen Raum erfassen zu können. Mittlerweile existiert ein Gesamtkonzept “Berlin gegen Gewalt”. Darin werden unter anderem Maßnahmen zur urbanen Sicherheit, zum Zusammenleben in Vielfalt, gegen Gewalt und für Prävention im digitalen Zeitalter benannt. Gleiches gilt für den Kampf gegen sexualisierte und häusliche Gewalt.

Kommunen gefordert Im nordrhein-westfälischen Essen hat der Stadtrat ein Handlungskonzept für Demokratie

und Vielfalt verabschiedet. Eine ähnliche Erklärung existiert im baden-württembergischen Mannheim. Der Essener Beigeordnete für Sicherheit, Recht, Verwaltung und Personal, Christian Kromberg, hält ein solches Konzept für unabdingbar. Denn die gesellschaftliche Spaltung nehme immer weiter zu und werde immer bedrohlicher. Aus seiner Sicht sind insbesondere die Kommunen hier gefragt. Die Organisation des friedlichen Zusammenlebens sei ihre Aufgabe, weil sie das Bindeglied zwischen Staat, Land und Gesellschaft sowie die Arena für gesellschaftliche Spannungen und Interessenskonflikte bildeten. Zudem seien die Städte und Gemeinden die wichtigsten Vertreter des Staates als Gewährleister alltäglicher Sicherheit, so Kromberg. Um an belasteten Orten im Stadtgebiet allerdings tatsächlich eine höhere Aufenthaltsqualität sowie eine verbesserte objektive und subjektive Sicherheit zu erreichen, brauche es einen ganzheitlichen, ressortübergreifenden Ansatz. Dazu seien verschiedenste Akteure gefordert, meinen Dr. Tim Lukas und Saskia Kretschmer von der Bergischen Universität Wuppertal. Um dabei erfolgreich zu sein, brauche es dann aber auch eine gute Mo-

deration, um die unterschiedlichen Interessen miteinander in Einklang zu bringen, betonten die beiden Wissenschaftler im Rahmen des Deutschen Präventionstages. Und auch Dr. Birgit Glock von der Geschäftsstelle der Landeskommission unterstrich, dass Prävention immer eine Querschnittsaufgabe sein müsse, an der sich verschiedene Professionen beteiligt. Wichtig sei zudem, dass bei der Präventionsarbeit in den einzelnen Quartieren zivilgesellschaftliche Akteure eingebunden würden.

Bündelung in Sachsen Unterdessen sind in Sachsen alle Angebote der Landesstrategie “Prävention im Team” (PiT) auf einer Internetseite gebündelt worden. Ziel von PiT ist es, dass regionale Partner gut abgestimmt zu allen Präventionsthemen in Bezug auf Kinder und Jugendliche zusammenarbeiten. Auf der neuen Homepage finden sich neben konkreten Präventionsangeboten für Schulen und Kitas auch Hinweise zu Ansprechpartnern vor Ort. Das PiT-Online-Portal startet mit über 150 Angeboten und wird ständig erweitert. Die Inhalte können nach Regionen, Themen sowie Zielgruppen gefiltert und angezeigt werden.

Alle einbeziehen Stadt Dortmund hat “Masterplan Sicherheit” (BS/mfe) Die Sicherstellung und Aufrechterhaltung der kommunalen Sicherheit fordert zahlreiche Bereiche einer Stadtverwaltung. Mit einem guten Ordnungsamt allein ist es nicht getan. Vielmehr braucht es ein ressortübergreifendes Vorgehen. Ein solches findet in Dortmund statt. Der dortige Rechts- und Ordnungsdezernent Norbert Dahmen meint in diesem Zusammenhang: “Eine gute Jugend- und Sozialpolitik ist Grundlage für eine gute Sicherheitspolitik.” Und er unterstreicht: “Gelebte Sozialpolitik ist effektive Ordnungspolitik.” Ausdruck findet diese Feststellung im “Masterplan Sicherheit” der Stadt im Ruhrgebiet mit fast 600.000 Einwohnern. Das Dokument, das laut Dahmen einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt und mit dessen Inhalten und

vorgesehenen Maßnahmen Ursachen für Probleme möglichst frühzeitig vermieden und verhindert werden sollen, umfasst mehr als 200 Seiten. So gehe es unter anderem da­ rum, Jugendliche rechtzeitig von der Straße zu holen oder eine vorbeugende Drogenarbeit zu leisten. Weitere Elemente sind unter anderem das städtische Vorgehen gegen Schrottimmobilien, gewerberechtliche Kon­ trollen sowie die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Hier sei es

insbesondere darum gegangen, die Verweilqualität auf öffentlichem Straßenland zu erhöhen, so Dahmen. Deshalb sei auch der städtische Planungsdezernent in die Erarbeitung des Konzeptes eingebunden gewesen. Darüber hinaus in die Erstellung des Masterplans, der seit 2019 in Kraft ist, involviert waren der Sozialdezernent, die Jugenddezernentin, der Stadtkämmerer, der Polizeipräsident, ein Leitender Oberstaatsanwalt und der Präsident des Amtsgerichtes.

Bundeskongress

Bundeskongress

Kommunale Verkehrssicherheit

Kommunale Ordnung

5. – 6. Oktober 2021

6. – 7. Oktober 2021

Würzburg Informationen und Anmeldung unter

www.kommunale-verkehrssicherheit.de | www.kommunale-ordnung.de

Veranstaltungen des


Digitaler Staat Behörden Spiegel

www.behoerdenspiegel.de

Berlin und Bonn / Juli 2021

Ein Wunschzettel für die Cyber-Sicherheit

KNAPP EU bekommt “Gemeinsame Cyber-Einheit”

Viele altbekannte und ein paar neue Ideen aus dem BMI (BS/Benjamin Stiebel) In der aktuellen Legislaturperiode war die Cyber-Sicherheit ein besonders zähes Thema für den Bund. Das IT-Sicherheitsgesetz 2.0 ist nach jahrelangem Ringen erst vor wenigen Wochen in Kraft getreten. Viele Vorhaben des unionsgeführten Bundesministeriums des Innern (BMI) sind versandet – teils im Widerstand des Koalitionspartners SPD. Mit einer aktualisierten Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2021 will das Ministerium nun sich und der nächsten Bundesregierung ins Stammbuch schreiben, was in Sachen Cyber-Sicherheit noch zu tun ist. Im Entwurf finden sich viele altbekannte und in Teilen kontroverse Vorhaben. Aber auch einige neue Ideen sind dabei. Erstmals will das BMI sich außerdem an den gesteckten Zielen messen lassen. Das BMI skizziert im Entwurf der Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2021 eine Mischung aus Regulierung, Kompetenzneuverteilung und -erweiterung sowie Wirtschafts- und Forschungsförderung. Unternehmen, Verbraucher/-innen und Verwaltung sollen kompetenter und souveräner im Umgang mit ihren Daten und IT-Systemen werden. Für Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz sollen IT-Sicherheitsstandards eingeführt werden. Durch finanzielle Förderung und verschlankte Zertifizierungsprozesse soll Innovation in Forschung und Entwicklung von neuen Technologien und Cyber-SecurityLösungen erleichtert werden. So weit, so gefällig. Kritisch wird es, wo widersprüchliche Sicherheitsinteressen aufeinandertreffen. So sollen anwenderfreundliche IT-Sicherheitsprodukte und Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vorangetrieben werden. Gleichzeitig sollen Behörden in Abstimmung mit Diensteanbietern technische Zugänge zu verschlüsselter Kommunikation erhalten. Das BMI beharrt also erwartungsgemäß auf dem paradoxen Credo “Sicherheit durch Verschlüsselung und Sicherheit trotz Verschlüsselung”. Erwartungsgemäß groß ist auch der Aufschrei aus der politischen Opposition und der IT-Sicherheitsszene. Die Diskussion dreht sich seit Jahren im Kreis: Sicherheitsbehörden sollen bei verschlüsselter digitaler Kommunikation genauso mithören können wie bei der Analog- und Mobilfunktelefonie. Doch jede Hintertür für Behörden kann auch von Kriminellen ausgenutzt werden. Was gut für die Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sein mag, ist schlecht für die Sicherheit und Privatsphäre aller.

Wie ein Wunschzettel für die nächste Legislaturperiode: Mit dem Entwurf für eine aktualisierte Cyber-Sicherheitsstrategie skizziert das BMI den Weg zu mehr Souveränität und Sicherheit im digitalen Raum. Ob die anderen Ressorts auch bei den Wünschen nach mehr Überwachungs- und Eingriffsbefugnissen mitziehen, bleibt abzuwarten. Foto: BS/thingamajigs, stock.adobe.com

70 Organisationen und Einzelpersonen forderten die Bundesregierung in einem offenen Brief deshalb dazu auf, die Verabschiedung der neuen Strategie in die nächste Legislaturperiode zu vertagen oder zumindest die neuen Befugnisse für die Sicherheitsbehörden ersatzlos zu streichen. Zu den Unterzeichnern gehören Interessenverbände wie die AG KRITIS, der Chaos Computer Club oder die Stiftung Neue Verantwortung, aber auch IT-Sicherheitsunternehmen und etliche Wissenschaftler. Sie schrei­ben: “Sollte die Strategie in ihrer jetzigen Form verabschiedet werden, würde dies auf Jahre eine Cyber-Sicherheitspolitik zementieren, für die es keinen ausreichenden Rückhalt in Wirtschaft und Gesellschaft gibt und deren Maßnahmen wenig Aus-

sicht darauf haben, die IT-und Cyber-Sicherheit in Deutschland zu verbessern.” Die Kritik erstreckt sich auch auf andere Kompetenzen, um die schon länger gerungen wird. So auf die zuletzt am Veto der SPD gescheiterte “aktive CyberAbwehr” bis hin zum Abschalten von ausländischen IT-Systemen, von denen gravierende Angriffe ausgehen (mehr dazu im Behörden Spiegel Juni 2021, Seite 37). Ein weiterer Dauerbrenner in der Cyber-Sicherheitspolitik: Der Umgang mit unsicheren Produkten. Eine allgemeine Herstellerhaftung für Schäden aufgrund von unsicheren Produkten bringt das BMI nicht ins Spiel. Über das Vertragsrecht wurde kürzlich aber die Pflicht für Hersteller eingeführt, IT-Produkte mit Sicherheitsupdates

zu versorgen. Laut Entwurf der Cyber-Sicherheitsstrategie soll diese so revolutionäre wie vage Vorgabe konkreter ausgestaltet werden. Für den Umgang mit neu entdeckten Schwachstellen soll ein standardisierter Prozess eingeführt werden. Auch hier gibt es Reibung. Denn die seit Jahren häufig geforderte Pflicht zur Offenlegung entdeckter Lücken auch durch Behörden soll es nach Willen des BMI nicht geben. Stattdessen soll eine behördenübergreifende Strategie zum Umgang mit Zero-DaySchwachstellen und -Exploits erarbeitet werden. Damit soll auch ein verbindliches Vorgehen zur Risikoabwägung eingeführt werden, wenn Sicherheitsbehörden IT-Schwachstellen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und nachrichtendienstliche Aufklärung ausnutzen wollen.

Architektur-Update Spannend sind die Vorhaben zur Neusortierung der staatlichen Cyber-Sicherheitsarchitektur. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) soll durch Grundgesetzänderung vergleichbar mit dem Bundeskriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz eine Zentralstellenfunktion im BundLänder-Verhältnis erhalten. In dem Rahmen sollen Informationsaustausch und Unterstützungsmöglichkeiten ausgeweitet und institutionalisiert werden. Das Nationale Cyber-Abwehrzentrum (NCAZ) soll weiterentwickelt werden. Die schon lange geforderte Einbindung der Länder in das Gremium bleibt aber unerwähnt. Im BSI soll ein Kompetenzzen­ trum zur operativen Sicherheitsberatung von Bundesbehörden eingerichtet werden. Zur Stärkung von Informationssicher-

heitsbeauftragten in der Bundesverwaltung will das BMI eine gesetzliche Grundlage schaffen. Zudem soll die Rolle des Chief Information Security Officers (CISO) Bund eingeführt werden. Welchen Rang dieser einnehmen wird, wird nicht spezifiziert. Der IT-Beauftragte (CIO) des Bundes Markus Richter hatte sich zuvor für einen CISO auf Staatssekretärsebene ausgesprochen. Mit der Wirtschaft soll die Bundesregierung in Zukunft stärker an einem Strang ziehen. So sollen Verbände früher und enger in Regulierungsvorhaben einbezogen werden. Um einen vertrauensvollen Austausch in Bezug auf Cyber-Angriffe zu ermöglichen, soll eine gesamtgesellschaftliche Informationsbasis mit technischen Plattformen geschaffen werden. Mit Mitteln aus einem IT-Sicherheitsfonds sollen sicherheitsrelevante Soft- und Hardwareproduzenten erworben werden können, die sonst an Investoren aus Drittstaaten verkauft würden.

Benchmark vorgesehen Neu ist, dass die Bundesregie­ rung sich an den Zielen der Cyber-Sicherheitsstrategie messen lassen will. Für alle Vorhaben sind mal mehr, mal weniger konkrete Kriterien formuliert. Das kann die Umsetzung eines Gesetzesvorhabens sein oder die Erhöhung von Kennzahlen wie Ermittlungsverfahren oder ausgestellten Sicherheits-Zertifikaten. Wie das Controlling konkret vonstattengehen soll, ist im Entwurf noch nicht ausgearbeitet. Die Strategie wird derzeit noch zwischen den Ressorts abgestimmt. Ob der umfangreiche Wunschzettel des BMI in Gänze zur To-do-Liste für die nächste Regierung wird, bleibt also abzuwarten.

(BS/stb) Die EU-Kommission hat ihre Pläne zu einer Gemeinsamen Cyber-Einheit (Joint Cyber Unit) konkretisiert. Diese soll die Reaktion auf große Cyber-Sicherheitsvorfälle EUweit koordinieren. Mitte 2022 soll die Plattform ihre Arbeit aufnehmen. Ein Jahr später soll sie voll ausgebaut und einsatzfähig sein. Die Agentur für Cyber-Sicherheit der EU (ENISA) soll den Aufbau vorbereiten und anschließend eng mit der Gemeinsamen Cyber-Einheit zusammenarbeiten. Bei großen Cyber-Vorfällen und Krisen soll die Einheit dann die Reaktion EU-weit koordinieren. Im Rahmen der neuen Plattform sollen Informationen zu Gefahren im Cyber-Raum besser ausgetauscht werden. Ergebnis soll ein gemeinsamer Lagebericht sein. Zudem sollen schnelle Eingreifteams eingerichtet werden. Die Einrichtung der Joint Cyber Unit soll hauptsächlich aus dem Programm “Digitales Europa” finanziert werden.

EfA-Leistungen geregelt­

(BS/sp) Der IT-Planungsrat hat sich auf Initiative Thüringens auf die perspektivische Finanzierung zentraler Online-Dienste (EfA-Leistungen) geeinigt. Damit sollen sich die Kosten zukünftig nach der Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer richten. Des Weiteren beschloss das Steuerungsgremium die Einrichtung des Projektes “Gesamtsteuerung Registermodernisierung”, welches unter der Federführung des Bundes und mehrerer Länder die ressortübergreifende Umsetzung rasch ermöglichen soll. Bereits im März hatte der ITPlanungsrat beschlossen, die Online-Dienste der Verwaltung mit Einer-für-alle(EfA)-Lösungen umzusetzen. Sie stellen die wirtschaftlichste Betriebsform für die Leistungen dar.

Der Kongress Deutschlands für IT- und Cyber-Sicherheit bei Staat und Verwaltung

www.public-it-security.de

PITS 2021

9.–10. September 2021, bcc Berlin

Eine Veranstaltung des

Foto: ©sdecoret - stock.adobe.com

Panta Rhei – IT-Security by future


HEssenDIGITAL

Seite 26

Behörden Spiegel / Juli 2021

HEssenDIGITAL Spezialisten gesucht

“I

ch finde den Begriff OZG 2.0 unglücklich, denn wir wollen ja nicht nur den Zugang regeln”, so Staatssekretär Patrick Burghardt, CIO der hessischen Landesregierung, auf dem Kongress “Hessen Digital”. Das große Ziel sei es, den gesamten Verwaltungsablauf zu digitalisieren. Dafür habe das OZG einiges an Schwung gegeben, den man nun mitnehmen müsse. Wichtig sei darüber hinaus, die Volldigitalisierung der Verwaltung schon jetzt mitzudenken und nicht erst nach der OZG-Umsetzung. Dem kann Joachim Kaiser, Direktor der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD), nur zustimmen. Neben der Volldigitalisierung brauche es jedoch auch eine Steigerung des Reifegrads: So müsste das Once-Only-Prinzip konsequent umgesetzt werden, auch müsse man über für den Bürger vorausgefüllte Anträge nachdenken. Klar ist für ihn: “Wir müssen ganz konsequent in Richtung Cloud gehen.” Nur so könnten die notwendige Verwaltungsagilität und die Service-Zuverlässigkeit hergestellt werden.

Die Volldigitalisierung der Verwaltung erfordert geschultes Personal

(BS/Matthias Lorenz) Was kommt nach dem OZG? Das OZG 2.0 oder ein wie auch immer ausformuliertes ODG, also ein Online-Durchführungsgesetz? Wie auch immer die neuen gesetzlichen Vorschriften genannt werden, eines steht fest: Das OZG ist erst der Anfang. Damit die weiter fortschreiGute Investition tende Digitalisierung nicht zum Chaos verkommt, braucht es neben vielen anderen Dingen vor allem gut ausgebildetes Personal.

Zwei Berufe gefragt Deutlich ist also, wie groß die Herausforderungen und Aufgaben sind, die auf die Behörden im Zuge der Digitalisierung zukommen. Gefragt ist also jede Menge qualifiziertes Personal, um die Aufgaben adäquat bearbeiten zu können. Generell seien alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefragt: “Niemand darf sich heute mehr der Digitalisierung entziehen, das haben wir durch die Pandemie gelernt”, erklärt der CDO der Stadt Darmstadt, Joachim Fröhlich. Im Detail benötige man aber zwei verschiedene Berufe.

müssen wir über dieses Thema in Zukunft noch einmal reden”, fordert Kaiser. Die benötigten Spezialisten ließen sich eben nicht in klassischen Tarifsystemen abbilden.

Das OZG ist erst der Anfang der Verwaltungsdigitalisierung, sind sich die Expertinnen und Experten auf dem erstmals durchgeführten Kongress “HEssenDIGITAL” einig. Es braucht dringend qualifiziertes Personal. Screenshot: BS/Matthias Lorenz

Einmal brauche es digitale Lotsen, die Koordinierungsaufgaben übernehmen könnten. Mit der konkreten Umsetzung, wie zum Beispiel der Entwicklung digitaler Prozesse, müssten hingegen ITSpezialisten beauftragt werden. “Wir reden hier über Personen, die zur Zeit an allen Ecken und Enden fehlen”, konstatiert Dr. Beate Eibelshäuser, Leiterin des Fachbereichs Verwaltung an der

Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV), in diesem Zusammenhang. Jedoch wolle man an dieser Stelle gegensteuern. Mit dem Studiengang “Digitale Verwaltung” sollen vermehrt sogenannte “Digital Scouts” ausgebildet werden. Diese übernähmen in der Verwaltung dann die Schnittstellenfunktion zwischen den Fachabteilungen und den IT-Spezialisten. “Die-

Tinder für die Weiterbildung

se Digital Scouts sollen dann auch Veränderungsprozesse in der Verwaltung begleiten”, so Eibelshäuser. Die von der HfPV ausgebildeten Fachkräfte würden allein jedoch nicht reichen, um den Fachkräftemangel zu beheben. Das HZD kooperiere deswegen mit mehreren Hochschulen und diene als Praxisausbilder in dualen Studiengängen, wie HZD-Direktor

Kaiser berichtet. Darüber hinaus müsse der Staat als Arbeitgeber attraktiver werden. Hier gehe es einerseits darum, die Arbeitskultur an die Anforderungen von jungen, digitalen Angestellten anzupassen, die andere Denkmuster hätten als alteingesessene Kräfte. Dazu komme noch ein anderer Faktor: “Bei der Bezahlung der IT-Fachkräfte haben wir zwar gut aufgeholt. Trotzdem

Zumindest die Arbeitskultur scheint sich, teilweise gezwungen durch die Pandemie, modernen Anforderungen anzupassen. Auf dem Kongress herrscht große Einigkeit, dass andere Arbeitsformen wie mobiles oder hybrides Arbeiten in Zukunft auch in der Verwaltung nicht mehr wegzudenken sein werden. Was bleibt, ist die Frage nach dem Geld. Die von Kaiser geforderte höhere Bezahlung von Fachkräften muss finanziert werden, und ganz generell gilt: “Die Digitalisierung wird teuer, da müssen wir nicht drum herumreden”, ist Dr. Walter Wallmann, Präsident des Hessischen Rechnungshofes, überzeugt. Dies sei aber gut investiertes Geld. Außerdem hofft Wallmann auf einige Einsparmöglichkeiten. Man müsse nicht immer das Rad neu erfinden, sondern auch mal über den Tellerrand hinausschauen und sich von Lösungen aus anderen Kommunen, Bundesländern und europäischen Nachbarn inspirieren lassen. “An dieser Stelle ist das EfA-Prinzip einfach der richtige Weg”, sagt der Rechnungshof-Präsident. Auch die neuen Arbeitsformen könnten Geld sparen, weil zum Beispiel längst nicht jeder Termin mehr vor Ort stattfinden müsse. Dieses gesparte Geld könnte letztendlich zum Beispiel wieder den Beschäftigten, vielleicht den dringend gebrauchten IT-Fachkräften, zugutekommen.

40 Millionen Euro für KI

Bei der Digitalisierung der Verwaltung geht es auch um Kompetenzen

Exzellenzinitiative bündelt Forschungskompetenz des Landes

(BS/Matthias Lorenz) Die Frist rückt immer näher: Laut OZG müssen bis Ende 2022 alle Verwaltungsdienstleistungen auch digital angeboten werden. Doch hinter dem Digitalisierungsprozess der Verwaltung steckt mehr als nur die Anschaffung moderner Technik: Es gehe darum, die Digitalisierung vom Menschen her zu denken, fordert die Hessische Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung, Prof. Dr. Kristina Sinemus, auf dem vom Behörden Spiegel veranstalteten Fachkongress HEssenDIGITAL. Außerdem sind innovative Lösungen, unter anderem für die Mitarbeiterweiterbildung, gefragt. Hier sei die Metropolregion Rhein-Neckar Vorreiter: Die von ihr entwickelte Plattform “KommunalCampus” sei ein “Tinder für die Weiterbildung”, so der Landrat des in der Region gelegenen Landkreises Bergstraße, Christian Engelhardt.

(BS/Paul Schubert) Das im letzten Jahr gegründete Hessische Zentrum für Künstliche Intelligenz (KIZentrum Hessen) erhält im Rahmen einer Exzellenzinitiative 40 Millionen Euro Landesmittel für insgesamt sechs Forschungsvorhaben. Das Geld soll genutzt werden, um intensive Grundlagenforschung, konkreten Praxisbezug mit Antworten auf wichtige Herausforderungen unserer Zeit und den Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft zu leisten.

“Die Digitalisierung soll dem Menschen nützen und nicht umgekehrt”, so Ministerin Sinemus. Grundlage für das Gelingen müsse eine gute und flächendeckende In­ frastruktur sein. Wichtig sei jedoch auch, dass bei der Digitalisierung sowohl das gesellschaftliche Wertesystem einbezogen werde als auch ein Regelwerk, welches in die digitale Zukunft leiten solle. Sinemus erklärt dies am Beispiel KI: Hier wolle man in Hessen ressortübergreifend eine Art KI-TÜV entwickeln, der ein solches Regelwerk aufbaue. “Ziel ist es, dass KI in der Verwaltung oder an anderer Stelle verantwortungsbewusst und rechtskonform eingesetzt wird. Andererseits sollen Agilität und Zukunftsoffenheit ermöglicht werden”, so Sinemus. Bei der digitalen Verwaltung soll für die Ministerin die einfache und transparente Antragsstellung an erster Stelle stehen: “So wird erstens die Akzeptanz erhöht und zweitens die Arbeit der Verwaltung reduziert.” Zur Umsetzung der Digitalisierung brauche es eine strategische Steuerung, alle Beteiligten müssten auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Diesen behördenübergreifenden Ansatz zu gewährleisten, sei auch Aufgabe eines Digitalministeriums.

Ein solches Ministerium, welches auch über ein eigenes Budget und operative Verantwortung verfüge, wünscht sich Sinemus nach der Bundestagswahl auch für den Bund. Auch wenn Behörden bei der Digitalisierung zusammenarbeiten müssen, stoßen sie je nach Kontext auf unterschiedliche Schwierigkeiten, zum Beispiel je nach Lage im ländlichen oder urbanen Raum. “Gerade durch die Digitalisierung lassen sich einige der im ländlichen Raum vorhandenen Standortnachteile lösen”, sagt Landrat Engelhardt. Grund sei, dass klassische Infrastruktur wie zum Beispiel im Bereich Medizin gut durch digitale Lösungen ergänzt werden könne. Aufbau der digitalen Infrastruktur sei eine öffentliche Aufgabe, da sich der Aufbau für Unternehmen im ländlichen Raum aufgrund fehlender Skaleneffekte nicht lohne.

Qualifizierte Mitarbeiter sind unerlässlich Aus Engelhardts Ausführungen wird deutlich, wie wichtig die Kooperation von Gemeinden und Kreisen untereinander für das Gelingen der Digitalisierung

gerade im ländlichen Raum ist. So werden in der Metropolregion mehrere Projekte, zum Beispiel ein 5G-Rettungsnetz oder ein geodatenbasierter Datenpool, vorangetrieben. Neues Aushängeschild der Region soll jedoch der KommunalCampus sein. Die Herausforderung, qualifizierte Angestellte zu finden, beschränke sich längst nicht nur auf Informatiker. “Wir brauchen Mitarbeiter, die Spezialisten in ihrem jeweiligen Verwaltungsfachgebiet sind, gleichzeitig aber auch eine hohe digitale Kompetenz haben und sich mit Prozessmanagement auskennen”, so der Landrat. Aus dieser Anforderung heraus sei die Weiterbildungsplattform entstanden. Dabei habe man sich für einen bedarfsorientierten Ansatz entschieden, erklärt Engelhardt. Jeder Weiterbildungsteilnehmer erhalte ein individuelles, aufeinander aufbauendes Weiterbildungsprogramm. Ähnlich wie bei der Dating-App Tinder würden auf KI basierende Match-Mechanismen eingesetzt. Mit Projekten wie diesen wolle man auch im ländlichen Raum bei der Digitalisierung vorne mit dabei sein, sagt Engelhardt.

In der fünfjährigen Aufbauphase richtet das Land 20 zusätzliche Professuren für das Forschungszentrum ein. Prof. Dr. Kristian Kersting, Co-Sprecher des KI-Zentrums Hessen, berichtet auf HEssenDIGITAL über praktische Anwendungsbeispiele für die Künstliche Intelligenz (KI). Klassischerweise könnten Terminvereinbarungen wie Friseurbesuche rein über KI geregelt werden, auch Chatbots würden in der Nutzung immer beliebter. Allerdings betont Kersting, dass die KI oft noch mit menschlichen Operatoren zusammen agieren müsse. Einige Probleme könne die KI noch nicht lösen, deswegen seien die meisten Programme mit einer Weiterleitung zu einem Menschen ausgestattet. Ziel des hessischen Innovationszentrums sei das Erreichen der “Dritten Welle der KI”: “Das sind KI-Systeme, die menschenähnliche Kommunikations- und Denkfähigkeiten erwerben können”, berichtet der Co-Sprecher des Forschungszentrums.

Menschen, allerdings würden sich diese zunehmend – vor allem nach positiven Erfahrungen – auf die Entscheidungen der KI verlassen, so Kahneman. Final werde die KI gegenüber der menschlichen Intelligenz gewinnen. In puncto Vertrauen, aber auch im Bereich des Erkenntnisgewinns, berichtet der Psychologe.

Verständnis über ­Zusammenspiel schaffen Aufgrund dieser Erkenntnisse möchte das KI-Zentrum Hes-

sen das Verständnis über das ­Z usammenspiel von KI-Algo­ rithmen, KI-Systemen und ­Synergien zwischen Künstlicher und menschlicher Intelligenz schaffen. Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir ist überzeugt vom Projekt: “In der hessischen Wirtschaftsstruktur steckt ein besonderes Potenzial für die Anwendung Künstlicher Intelligenz. Schon jetzt nutzen in Hessen mehr Unternehmen KI als in anderen Bundesländern.”

Menschen werden sich mehr auf KI verlassen Daniel Kahneman, ein israelischamerikanischer Psychologe beschreibt das Vertrauen der Menschen in die KI als einen Prozess. Noch vertrauten Menschen eher

Das KI-Zentrum Hessen möchte das Bundesland zum Vorreiter in der Nutzung von Künstlicher Intelligenz in Deutschland machen. Foto: BS/Gerd Altmann, pixabay.com


Informationstechnologie

Behörden Spiegel / Juli 2021

Die elektronische Schutzrechtsakte

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Ein “Leuchtturmprojekt” feiert runden Geburtstag (BS/Cornelia Rudloff-Schäffer) Seit zehn Jahren arbeitet das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) mit der Workflow-gestützten elektronischen Schutzrechtsakte – in der Pandemie zahlt sich der hohe Grad an Digitalisierung nun besonders aus. mussten. Was wir allerdings schon damals wussten: Nach jahrelanger Vorbereitung war uns damit ein großer Wurf gelungen! Von einem “Leuchtturmprojekt der Bundesregierung” sprach die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte einige Monate später beim Nationalen IT-Gipfel in München als erste die Möglichkeit zur Online-Akteneinsicht. Die Aufmerksamkeit kam nicht von ungefähr. Ein derart komplexes Projekt mit dem Ziel einer vollelektronischen Aktenbearbeitung und inzwischen mehr als fünf Millionen Programmzeilen hatte es noch nicht gegeben. Wir betraten Neuland – zumindest was die damalige Behördenlandschaft anging. In der elektronischen Schutzrechtsakte werden Patentund Gebrauchsmusterverfahren vollständig digital und medienbruchfrei bearbeitet – von der Anmeldung über die Bearbeitung bis zum elektronischen Versand von Beschlüssen und Bescheiden. Die Kund(inn)en sind an das System über die Schnittstelle DPMAdirektPro angeschlossen

Akten aufeinanderlegt eine Strecke von etwa 800 Metern. Das entspricht in München in etwa der Strecke vom Isartor am Rande der Altstadt bis zum Marienplatz in deren Herzen. Neben der technischen Aufgabe war es eine große Herausforderung, alle Beschäftigten auf dem neuen Weg mitzunehmen. Im Juli 2009 – also fast zwei Jahre vor der Einführung – starteten wir unter meiner persönlichen Führung einen Change-Prozess. Auf Veranstaltungen, im Intranet und durch speziell geschulte Kollegen hielten wir die Mitarbeiter auf dem Laufenden. Regelmäßige Umfragen reflektierten die Stimmung. Zudem mussten wir die Kolleg(inn)en, deren Arbeit in der Registratur wegfiel, für neue zukunftsgerichtete Aufgaben weiterbilden. Fest stand: Allen Beschäftigten sollten mindestens gleichwertige Arbeitsplätze angeboten werden können. Wie wir heute sehen, hat sich die Arbeit gelohnt. Unsere Mitarbeiter(inn)en schätzen unsere digitale Infrastruktur – nicht erst seit Corona. Inzwischen haben rund drei Viertel der Be-

OZG, SDG, RegMoG, eIDAS, ERV, Peppol…

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och wie kann es gelingen, die unterschiedlichsten Vorhaben und Lösungen zu einem integrativen und homogenen Zielbild zusammenzuführen? Gerade und vor allem in föderalen Strukturen ist es notwendig, auf Basisdienste und -bausteine zurückzugreifen, die auf nationalen und internationalen Standards basieren und gesetzliche Vorgaben einhalten. Überall dort, wo Personen und Organisationen sicher identifiziert, Daten sicher und vertraulich übermittelt oder Datenunverfälschtheiten sicher nachgewiesen werden müssen, sind bereits heute in den verschiedensten Szenarien standardisierte Lösungsbausteine flächendeckend im Einsatz, um vernetzend die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen. Die ITPlanungsratsanwendung Governikus besteht zwischenzeitlich aus 14 Produkten und weiteren Lösungsmodulen, die flächendeckend genutzt und kontinuierlich

gelegt. Mitte 2005 nahm das Vorhaben dennoch bei uns Fahrt auf: Geschäftsprozesse wurden modelliert Cornelia Rudloff-Schäffer ist und für den elekPräsidentin des Deutschen Patent- und Markenamtes mit tronischen WorkHauptsitz in München. flow in IT-Systeme umgesetzt. QuerFoto: BS/DPMA schnittsdienste, etwa für Adressund können sich sowohl elekt- und Nutzerdaten und den Zahronisch anmelden als auch alle lungsverkehr, mussten neu aufnotwendige Post und letztlich gesetzt und mit elektronischen Beschlüsse und Bescheide digital Schnittstellen angeschlossen empfangen. Intern – und das ist werden. Zudem wurden unzählidas eigentlich Besondere – stellt ge Tests durchgeführt, Schwachein digitaler Workflow sicher, stellen nach und nach behoben dass die elektronische Akte im- und die Mitarbeiter(inn)en auf mer genau dorthin weitergeleitet, die neue Arbeitsweise geschult. wird, wo der nächste ArbeitsEine besondere Schwierigkeit schritt zu erledigen ist. bestand auch in der Migration Der Einführung war jahrelange, der bestehenden Akten ins neue minutiös geplante Projektarbeit System – und zwar genau zu ihvorausgegangen, gemeinsam mit rem jeweiligen Verfahrensstand. IBM. Die Herausforderung, die 140.000 Papierakten mussten sich Mitte der 2000er Jahre stell- dafür zunächst eingescannt te, war allen Beteiligten bewusst. werden. Damals kursierte bei Andere große Patentämter hatten uns folgendes Rechenspiel: Mit Pläne für ein derartiges IT-Sys- durchschnittlich 56 Seiten pro tem nach erfolglosen Versuchen Akte und einer Seitenstärke von seinerzeit schon wieder auf Eis rund 0,01 cm ergibt sich für alle

An Ihrer Seite zur Umsetzung der “Akronymen-Vorhaben”: Governikus (BS/Petra Waldmüller-Schantz*) Die Digitalisierungsvorhaben nehmen jenseits der erlaubten Höchstgeschwindigkeit Fahrt auf und die Akronyme auf den Schildern am Straßenrand nehmen deutlich zu. Sie alle müssen berücksichtigt bzw. eingehalten werden, damit das große und keineswegs ausschließlich nationale Ziel auch erreicht werden kann: Verwaltungsvorgänge zum Nutzen von Bürger(innen) sowie Unternehmen und Verwaltungsmitarbeitenden zu digitalisieren. weiterentwickelt werden.

Beispiel Registerdatenaustausch Eines der jüngsten “Mitglieder” der Governikus-Produktfamilie entstand im Rahmen des Bremer Projektes ELFE – Einfach Leistungen für Eltern, das einen bundesweiten Pilotcharakter besitzt. Unabhängig davon, dass Eltern nun in einem Kombi-Antrag für Geburtsanzeige, Elterngeld und Kindergeld nur noch einmalig Daten eingeben müssen, braucht es keine weiteren Unterlagen, die zusätzlich vorgelegt werden müssen. Ganz dem Once-OnlyPrinzip verschrieben, tauschen

Standesamt und Elterngeldstelle die Daten zur Geburt elektronisch aus. Die notwendigen Einkommensdaten für das Elterngeld kommen von der Deutschen Rentenversicherung. Dass dieser Datenaustausch im Hintergrund natürlich nur funktioniert, wenn die Eltern hierfür auch ihre Zustimmung erteilt haben, ist selbstredend. Doch wie genau funktioniert diese Zustimmungserteilung? Die kurze Antwort lautet: ganz einfach mit dem Online-Ausweis. Die präzisere Antwort ist natürlich etwas länger. Der OnlineDienst ELFE ruft für den Konsent der Eltern die Serveranwendung

Governikus ID Crucis auf. Mit ID Crucis (Consent-Modul), dem eID-Server Governikus ID Panstar im Hintergrund sowie der AusweisApp2 im Vordergrund werden die Eltern nacheinander um eine Authentisierung durch ihren Online-Ausweis gebeten. ID Crucis verbindet die bestätigten eID-Daten des Identifizierungsprozesses mit den Formulardaten und siegelt für die Integritätssicherung und spätere Nachvollziehbarkeit (Stichwort Schriftformwahrung) den gesamten Datensatz elektronisch. Der gesiegelte Datensatz wird zur weiteren Verarbeitung an den Online-Dienst von ELFE übergeben. Damit in den weiter-

verarbeitenden Fachverfahren das elektronische Siegel auch geprüft werden kann, sind servicebasierte Validierungskomponenten im Einsatz. Alle benötigten Lösungskomponenten bedienen sich entsprechender Standards bzw. entsprechen auch Technischen Richtlinien des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Und alle sind Bestandteil der Anwendung Governikus des IT-Planungsrates. Genau solche Szenarien sind unsere Expertise – unabhängig von den Fachlichkeiten. Im Fokus unserer aktuellen Entwicklungen stehen aktuell die

schäftigten die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten. Heute bearbeitet das Amt seine Verfahren nicht nur bei Patenten und Gebrauchsmustern vollelektronisch, sondern seit 2015 auch im Markenbereich. Die elektronische Schutzrechtsakte für Designs befindet sich in der Umsetzung. Zudem wird ab dem kommenden Jahr die elektronische Verwaltungsakte eingeführt. Unsere elektronische Akte für Patene und Gebrauchsmuster hat inzwischen eindrucksvolle Leistungsdaten vorzuweisen: rund 500.000 abgeschlossene Prüfungs- und Eintragungsverfahren, fast 60 Millionen bearbeitete Prozesse und mehr als 76 Millionen gespeicherte Dokumente in den vergangenen zehn Jahren. Im Stich gelassen hat uns unser IT-System nie – vor allem dank unserer ausgezeichneten Mannschaft hochqualifizierter IT-Spezialist(inn)en, die DPMApatente/gebrauchsmuster stetig warten und weiterentwickeln. Mit einer Verfügbarkeit des Systems innerhalb der Kernarbeitszeit von bis zu 99,8 Prozent bewegen sich unsere Fachleute auf dem Niveau hochprofessioneller IT-Dienstleister. Nicht zuletzt die hohe Funktionsfähigkeit und Effektivität haben mich zunehmend darin bestärkt, dass wir den Weg der Digitalisierung konsequent weitergehen müssen – in Zeiten wie diesen gilt das umso mehr.

verschiedenen Akronyme für das Online-Zugangsgesetz, die Single-Digital-Gateway-Verordnung, das Registermodernisierungsgesetz, die eIDAS-Verordnung, das Vertrauensdienstegesetz, Peppol-Infrastrukturen im Kontext E-Rechnung, der elektronische Rechtsverkehr mit seinen besonderen Postfächern etc. und natürlich auch die Umsetzung des Smart-eID-Gesetzes. Natürlich niemals allumfassend, das ist weder möglich noch sinnvoll. Aber wir können entlang unserer Leitplanken in den unterschiedlichsten Szenarien unterstützen. Daran arbeiten über 200 Governikus-Mitarbeitende gemeinsam und in engem Dialog mit Kund(inn)en, Partner(inn) en sowie in unterschiedlichen Gremien für eine optimale Vernetzung. *Petra Waldmüller-Schantz ist Director Communications bei Governikus.

Grafik: BS/Hoffmann unter Verwendung von stock.adobe.com, Hurca!

eutschland im März 2020: Wegen der Covid-19-Pandemie begibt sich das Land in den Lockdown. Wie überall standen auch bei uns anfangs viele Fragen im Raum: Müssen wir unsere Räumlichkeiten für die Öffentlichkeit schließen? Wie gehen wir mit besonders gefährdeten Mitarbeiter(inn)en um? Und natürlich mussten auch wir uns in vielen Fragen der internen Verwaltung neu sortieren. Glücklicherweise mussten wir uns nicht fragen, ob wir unsere Kernaufgaben weiterhin gut erfüllen können. Dazu waren wir von Tag eins des Lockdowns an weiterhin vollumfänglich in der Lage. Dank der durchgehend digitalen Arbeitsweise bei unseren Schutzrechtsverfahren hatten wir schon über die vergangenen Jahre für viele unserer Beschäftigten Telearbeitsplätze eingerichtet. Nun konnten wir einen großen Teil zusätzlich ins Homeoffice schicken, ohne um unsere Produktivität fürchten zu müssen. Das IT-System, dem wir unsere derzeitige Krisenfestigkeit maßgeblich zu verdanken haben, wird dieser Tage zehn Jahre alt: unsere elektronische Schutzrechtsakte Patente/Gebrauchsmuster. DPMApatente/gebrauchsmuster nennen wir sie heute. Als wir das System am 1. Juni 2011 produktiv schalteten, dachten auch wir noch nicht an Situationen, wie wir sie in den vergangenen Monaten erleben

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Digitale Verwaltung

Rheinland-Pfalz 2021

Transformation der Arbeitswelt – Transformation der Verwaltung

26. August 2021 | Online-Event www.dv-rlp.de In Kooperation mit

#dvrlp21 Eine Veranstaltung des


Informationstechnologie

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nsbesondere seien Maßnahmen zur Unterstützung der Digitalisierung Öffentlicher Dienste, vor allem öffentlicher Gesundheitsdienste, sowie von Unternehmen geplant, so die Kommission in einer Mitteilung. Der Plan sehe demnach ferner Maßnahmen zur Förderung des Humankapitals sowie Investitionen in fortschrittliche digitale Technologien vor, wobei eine Komponente auf die Digitalisierung der Bildung ausgerichtet sei.

Kriterien erfüllt Die Kommission habe den von Deutschland eingereichten Plan nach den Kriterien der ARF-Verordnung bewertet, heißt es weiter. Dabei sei insbesondere analysiert worden, ob die von Deutschland geplanten Investitionen und Reformen den ökologischen und digitalen Wandel vorantrieben, ob sie zur wirksamen Bewältigung der im Rahmen des Europäischen Semesters ermittelten Herausforderungen beitrügen und ob sie das Wachstumspotenzial, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die wirtschaftliche und soziale Resilienz stärkten. Neben der Digitalisierung soll ein weiterer großer Teil der Mittel (42 Prozent) in Maßnahmen zur Unterstützung von Klimaschutzzielen fließen. Ein zentraler Bestandteil des Plans seien zudem Vorhaben von gemein-

Viel EU-Geld für die Digitalisierung Deutscher Aufbau-und Resilienzplan von Kommission gebilligt (BS/Matthias Lorenz) Die Europäische Kommission hat den deutschen Aufbau- und Resilienzplan (DARP) gebilligt. Somit ist die Auszahlung von 25,6 Milliarden Euro an Zuschüssen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) der EU an Deutschland nun wahrscheinlich. Zustimmen muss noch der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der EU (ECOFIN-Rat). Positiv hob die Kommission hervor, dass gemäß Deutschlands Plan 52 Prozent der Gesamtmittel für Maßnahmen zur Förderung des digitalen Wandels bereitgestellt werden sollen. samem europäischem Interesse (Important Projects of Common European Interests, IPCEI) in den Bereichen Wasserstoff, Mikroelektronik, Cloud-Infrastruktur und Datenverarbeitung, an denen sich alle interessierten Mitgliedsstaaten beteiligen könnten, hebt die Kommission hervor.

Lange Verhandlungen Bis der DARP zur Billigung an die Kommission weitergeleitet wurde, waren jedoch lange Verhandlungen zwischen der obersten EU-Behörde und Deutschland notwendig. “Eine Herausforderung war, dass viele Rahmenbedingungen zu Beginn der Verhandlungen noch nicht fixiert waren. Deswegen mussten wir im Laufe des Verhandlungsprozesses auch an einigen Stellen Änderungen vornehmen”, berichtet Werner Ebert, Projektleiter DARP beim Bundesministerium für Finanzen (BMF).

Auch der Behörden Spiegel thematisierte den DARP in einem Webinar, welches auf der Plattform Digitaler Staat Online in der Mediathek abrufbar ist. Screenshot: BS

Insgesamt solle die Mittel aus dem ARF nicht nur akut aus der CoronaKrise helfen, vielmehr müssen mit ihnen laut Ebert auch die langfristigen transformativen Aufgaben Europas angegangen werden. “Im

Halbzeit bei der OZG-Umsetzung Eine Zwischenbilanz aus dem Bundesverwaltungsamt (BS/Till Becker-Adam) Mit seinen 150 Aufgaben ist das Bundesverwaltungsamt (BVA) als zentraler Dienstleister des Bundes auch für einen Großteil der OZG-Leistungen im Geschäftsbereich des BMI zuständig. Wie sich das BVA bei deren Umsetzung bis Ende 2022 schlägt, ist entscheidend für die Erreichung der gesetzlich vorgegebenen Ziele innerhalb des Ressorts. Rund 18 Monate bleiben bis zum Ablauf der OZG-Umsetzungsfrist. Zeit für ein Halbzeit-Resümee. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BVA arbeiten gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) sowie der Bundesdruckerei an der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen im Bundesportal und weiteren Systemen. Der weitaus größte Teil der Online-Leistungen des BVA wird bereits oder wird demnächst im neuen einheitlichen Bundesportal bereitgestellt. Hierfür nutzt das BVA die sogenannte “Fertigungsstraße” von Bundesdruckerei und BMI. Diese gibt eine standardisierte Vorgehensweise zur Spezifikation von Leistungen vor und stellt passende Werkzeuge und Vorlagen zur Verfügung. Die nutzenden Behörden können sich voll und ganz auf die fachlichen Aspekte der Umsetzung konzentrieren. Das BVA hat die Entwicklung des Bundesportals von Anfang an begleitet und konnte als “Early Adopter” aktiv beim Aufbau der

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wie z. B. den digitalen Rückkanal zum Nutzerkonto Bund angereichert. Andere Dienste, wie etwa die Corona-Hilfen für Profisportvereine, kamen erst im vergangenen Jahr dazu. Eine weitere Herausforderung bei der OZG-Umsetzung besteht in Leistungen, die in gemischter Bund-, Länder- oder kommunaler Zuständigkeit wahrgenommen werden, beispielsweise waffenrechtliche Erlaubnisse. Während die Formulare nahezu identisch aufgebaut sein können, findet die Bearbeitung je nach Antragsteller bei unterschiedlichen Behörden statt. Hier ist eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten nötig.

Enge Einbindung von Fachexperten

Bei der Umsetzung der Leistungen setzt das BVA auf interdisziplinäre, abteilungsübergreifende Kooperation und die Methoden des hauseigenen Digitalisierungslabors: In verschiedenen Workshop-Formaten werden fachliche Prozesse modelliert, FIM-BeschreiTill Becker-Adam ist Leiter bungen erstellt, des OZG-UmsetzungsproVertrauensnijektes im Bundesverwalveaus festgestellt tungsamt. Foto: BS/BVA und Formulare spezifiziert. Der Formular-Workshop ist dabei ein regelmäßiges Plattform und deren Features Highlight für die Teilnehmenmitwirken. Ein technisches High- den. Parallel dazu erstellt eine light des Bundesportals ist die Kollegin dabei ein Mock-up im gelungene mobile Webseite des Look-and-Feel des BundesporBundesportals, die in Verbin- tals, sodass am Ende alle ein dung mit der Ausweis-App die greifbares Ergebnis betrachten Authentifizierung per eID und können. Die Vor-Ort-Workden Zugriff auf das Nutzerkon- shops sind stark geprägt von to Bund erheblich vereinfacht. haptischen Arbeitsmitteln wie Ausprobieren empfohlen! Stiften, Papierschnipseln und Bereits seit vielen Jahren Gruppenarbeit an einer Werk– schon vor Inkrafttreten des bank – im Stehen. Das verleiht Onlinezugangsgesetzes – stellt der Gruppe Dynamik und Agidas BVA Online-Services bereit. lität. Die Räumlichkeiten des Bafög-Online, das Portal für die Labors wurden bewusst so einRückzahlungen der BAföG-Dar- gerichtet, dass Teilnehmende lehen, zählt zu den etabliertes- ihrem gewohnten Arbeitsumfeld ten Beispielen. Den Zielvorgaben entfliehen und sich wohlfühdes OZG folgend, werden diese len können. Das Labor wurde Lösungen künftig um Features im Spätsommer 2019 eröffnet

und bis zum Beginn der CoronaPandemie intensiv genutzt. Die Pandemie hat die Arbeitskultur rasant und nachhaltig verändert. In vielen Bereichen wurde das Homeoffice über Nacht zum Quasi-Standard. Videokonferenz-Systeme wurden im Schnellverfahren aus dem Boden gestampft. Da Treffen im Digitalisierungslabor nicht mehr möglich waren, mussten die WorkshopFormate angepasst werden: In den Videokonferenzen wurden Schere und Papier durch Paint (funktioniert tatsächlich), digitale Whiteboards, Office und andere Tools ersetzt. Die vor Corona langen, teils ganztägigen Veranstaltungen wurden durch kürzere Treffen in höherer Schlagzahl abgelöst, da diese dem OnlineFormat besser gerecht werden. Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass keine Kompromisse bei der Umsetzungsgeschwindigkeit in Kauf genommen werden mussten. Im Gegenteil: Im Homeoffice ist es sogar einfacher geworden, gemeinsame Termine zu finden, da Anreisezeiten wegfallen und generell mehr Flexibilität vorhanden ist. Durch Corona konnte das Homeoffice in diesem Bereich auf breiter Ebene seine Alltagstauglichkeit unter Beweis stellen. Deshalb möchte das BVA künftig auf einen Mix aus Vorort- und Online-Veranstaltungen setzen und situativ die Vorteile beider Varianten nutzen. Trotz der Einschränkungen und zusätzlicher Aufgaben im Rahmen der Pandemie ist das BVA gut aufgestellt, um die Digitalisierung der OZG-Leistungen bis zum Ende des Jahres 2022 abzuschließen. Klar ist schon heute, dass damit zwar ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt erfolgt ist. In Zukunft erwarten Bürger, Unternehmen und Organisationen einen sukzessiven Ausbau der Funktionalitäten: “Once Only”, vollständig digitale Abwicklung der Kommunikation mit den entsprechenden Behörden, neue Formen der Authentifizierung – z. B. die Smartphone-ID – und viele weitere Features müssen sich dazugesellen. Auf in die zweite Halbzeit!

Vergleich zu den Plänen anderer Mitgliedsstaaten ist es unser Alleinstellungsmerkmal, dass wir auch IPCEI in den Plan mitaufgenommen haben.” Es sei der deutschen Seite immer auch um die europäische Perspektive gegangen.

Mittel bieten historische Chance Der Digitalverband Bitkom bewertet die Mittelausgabe positiv. “Der deutsche Aufbau- und Resilienzplan ist ein echter Digitalisierungsplan, mehr als die Hälfte der Mittel sollen für Maßnahmen verwendet werden, die zum digitalen Wandel beitragen. Der von der EU vorgegebene Zielwert liegt mit 20 Prozent Digitalisierungsanteil deutlich niedriger”, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. Die Mittel böten eine historische Chance, die Digitalisierung auch in Deutschland zu beschleunigen. Dass die Digitalisierung in Deutschland gleichermaßen schnell wie nachhaltig vorangetrieben werden müsse, hätten die Erfahrungen in der Pandemie deutlich vor Augen geführt.

Damit auch die Umsetzung nun ein Erfolg werde, dürfe man jetzt zum einen nicht einfach bestehende, analoge Abläufe eins zu eins in die digitale Welt überführen, fordert Berg weiter. Digitalisierung sei mehr als Hardund Software, sondern vor allem auch ein Mindset. Zum anderen solle man darauf achten, bei der Verwaltungsdigitalisierung wirklich nach vorne zu denken. Dies bedeute, auch Start-ups und innovative Mittelständler mit ins Boot zu holen und sie bei der Umsetzung zum Zug kommen zu lassen.

Einige kritische Punkte und Herausforderungen Der DARP wird jedoch nicht restlos positiv gesehen. “Wir hätten uns gewünscht, dass es keine Querfinanzierung von Projekten gibt, die eigentlich schon beschlossen wurden”, berichtet Benjamin Ledwon, Büroleiter der Bitkom-Niederlassung in Brüssel. Nun tauchten im DARP aber auch Projekte auf, die bereits in deutschen Konjunkturprogram-

men genannt würden. DARPProjektleiter Ebert begründet dies mit der Notwendigkeit, in Konjunkturprogrammen verankerte Projektideen zu konkretisieren. Des Weiteren hebt Ledwon hervor, im Zusammenhang mit dem ARF gebe es nun ein Konstrukt vieler nationaler Reformpläne. Nun müsse es gelingen, die einzelnen Projekte zu koordinieren und so auszugestalten, dass möglichst viele auch einen grenzüberschreitenden, europäischen Nutzen entwickelten. Gerade aus der digitalen Sicht gebe es in den nationalen Plänen bis jetzt viele Unterschiede. So investiere Finnland 72 Prozent in digitale Technologien, andere Staaten einen geringeren Anteil. Weiter führt Ledwon aus, Litauen wolle wie Deutschland viel in Cloud-Technologien investieren, während Polen sich stark auf den Breitbandausbau im ländlichen Raum fokussiere. Florian Siekmann, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und europapolitischer Sprecher der Grünen im bayerischen Landtag, sieht noch ein anderes Problem im Zusammenhang mit dem deutschen Aufbauplan: “Nur mehr Geld ist nicht immer hilfreich, man muss gerade im Digitalsektor auch mehr Kompetenz beim Personal schaffen”, sagt Siekmann und verweist im speziellen auf die Digitalisierung des Bildungssektors und die OZG-Umsetzung. An fehlender Kompetenz, so seine Sorge, könnten letztendlich viele Projekte scheitern. Auch kritisiert der Landespolitiker, sowohl die Landes- als auch die Kommunalebene hätten bei der Erstellung des DARP stärker miteingebunden werden müssen. Diese Einbeziehung könnte in Zukunft sicherlich noch weiter gestärkt werden, gesteht auch Ebert ein. Allerdings habe es, was die Entstehung des Aufbauplans angehe, auch enorme Restriktionen von europäischer Ebene aus gegeben. Dies liege aber unter anderem daran, dass der ARF ein ganz neuer Plan sei. “Da haben alle Beteiligten viel Lehrgeld bezahlt”, bilanziert der DARP-Projektleiter.

Lessons learned? Fit für das digitale Jahrzehnt? (BS/Wilfried Kruse*) Im November, zu “e-nrw 2021”, werden gut 18 Monate Corona-Pandemie mit vielen schmerzlichen menschlichen und organisatorischen Erfahrungen im föderalen Staat hinter uns liegen. Bekommt die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung nun endlich den Stellenwert, von dem seit langen Jahren immer wieder die (Sonntags-)Rede ist? Haben alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen aus vielen teuren und zu wenig geplanten, hektischen und unkoordinierten Entscheidungen endlich notwendig Schlüsse gezogen, die – und das ist entscheidend – zügig in die Tat umgesetzt werden? Bei “e-nrw 2020” wollte Stefan Pusch, Landrat des Kreises Heinsberg, über die ominöse Karnevalssitzung der Session 2020 in der Gemeinde Gangelt in seinem Kreis und dem damit verbundenen ersten Corona-Ausbruch in Deutschland berichten (Schließung von Schulen und Kitas, Einschränkung von Feierlichkeiten pp.). Seinen Vortrag musste er aber wegen akuter Vorfälle in seinem Kreis als Leiter des Krisenstabes in der zweiten Pandemiewelle Anfang November 2020 kurzfristig absagen. Als einer der in Pandemiezeiten profiliertesten verantwortlichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hat er für seine mutigen Entscheidungen und schnellen Aktionen viel Lob und Anerkennung erfahren. Bei der Kommunalwahl im September 2020 ist er mit beeindruckenden 80 Prozent der Wählerstimmen wiedergewählt worden. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat ihn zwischenzeitlich mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. In einem Interview in der Rheinischen Post vom Februar hat er sein persönliches Erfolgsrezept, beruhend auch auf täglichen Vi-

deos in den Sozialen Netzwerken für Bürgerinnen und Bürger, wie folgt beschrieben: “Ich sage darin, was Sache ist und was mich bewegt … Man muss brutal ehrlich sein, der Bürger ist nicht blöd …” Die Idee zu dieser Kommunikation hatte seine Frau und rückblickend sagt er, sie hatte Recht und es hat funktioniert. Am 10. November wird Landrat Stefan Pusch nun bei “e-nrw 2021” über seine dann 18-monatigen Erfahrungen an der Spitze der Katastrophenbekämpfung berichten. Er tut dies gemeinsam mit einem führenden Vertreter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn, dessen Thema die “Krisenbewältigung im Kontext Kritischer Infrastrukturen – neue Methoden und Instrumente des “Baukastens KRITIS” ist. Beide werden in einem Fachforum zum Thema “Die Konsequenzen der Covid19 Pandemie – digitaler Entwicklungsschub für Krisen-, Gesundheits- und Katastrophenmanagement in NRW?” zu erleben sein. Es steht zu hoffen, dass aus der zurückliegenden Extremsituation der Pandemie neue stringente und wirksame Steuerungsinstrumen-

te, digitales Equipment, digitale Modernisierung und Komponenten für die digitale Verwaltung 4.0 erwachsen sind, vor Ort und “oben in Bund und Ländern” in neuen Produkten, Standards, Interoperabilitäten und ganz besonders für die verantwortlich arbeitenden Menschen in der Verwaltung, die unser demokratisches Gemeinwesen in der nächsten Katastrophe dann besser und konsequenter schützen können. *Wilfried Kruse, Geschäftsführender Gesellschafter IVM², ist fachlicher Leiter und Moderator des Verwaltungskongresses “enrw”, den der Behörden Spiegel am 10. November 2021 in Neuss veranstaltet. Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.e-nrw.info

Zukünftige IT-Strategien in Nordrhein-Westfalen 10. November 2021 Düsseldorf/Neuss www.e-nrw.info


Informationstechnologie

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s war nicht unsere Ambition, die Gesellschaft neu zu ordnen”, meint Prabhat Agarwal, Referatsleiter GD Connect der EU-Kommission und in dieser Funktion verantwortlich für die beiden Gesetzesvorschläge. Auf Einladung der EuropaUnion Mecklenburg-Vorpommern sprach er im Rahmen der OnlineKonferenz “Gesetz über digitale Dienste und Märkte – digitale Maßnahmenpakete der EU ordnen das Netz“ über die Gesetzesvorhaben der EU-Kommission und ihre potenzielle Reichweite. Seine Einschätzung: Nicht aller Hass, alle Gesetzesverstöße und Verbrechen werden sich durch bloße Regulierung aus der Welt schaffen lassen. Auf lange Sicht komme man auch in Europa nicht umhin, einen breiten gesellschaftlichen Dialog über den künftigen Umgang mit der Digitalisierung zu führen. Einstweilen habe man jedoch mit DMA und DSA einen rechtlichen Rahmen geschaffen, der Europa und seine Mitgliedsstaaten in den Stand setze, große internationale Online-Plattformen – wo geboten – zur Verantwortung zu ziehen. Doch zunächst zum Inhaltlichen: Was sind eigentlich Digital Services Act und Digital Markets Act konkret und an welcher Stelle setzen sie an? Beide Gesetzesvorhaben wurden seitens der EU-Kommission im Dezember vergangenen Jahres eingebracht und liegen aktuell dem Europäischen Parlament und Rat zur

Ein Kampf wie David gegen Goliath Wie die EU-Kommission das Netz bändigen will (BS/pet) Hass und Hetze im Netz einschränken, Wettbewerbsfähigkeit, Kultur und Meinungspluralität in Europa fördern: Es ist ein umfassender und nicht eben leichter Komplex, den die EU-Kommission mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) anzupacken ­versucht. Nicht von ungefähr stammen denn auch die Vergleiche, welche die Regulierungsmaßnahmen der Kommission als einen Kampf wie David gegen Goliath apostrophieren. Und doch: Ob bei der Auseinandersetzung mit übermächtigen Hyperscalern wie Google bzw. Alphabet und Amazon oder bei Straftaten auf Social-Media-Plattformen – die Schritte waren längst überfällig. weiteren Erörterung vor. Ziel hier wie dort: Harmonisierung der gesetzlichen Grundlagen in den europäischen Mitgliedsstaaten. Angesichts der raschen Entwicklung digitaler Technologien soll Rechtsklarheit für Plattformen und deren Nutzerinnen und Nutzer geschaffen werden. Kurzum: Es geht um Verbraucherschutz – und das europaweit. Danach gehen die Vorhaben allerdings auseinander: Während der Digital Markets Act – zu Deutsch “Gesetz über digitale Märkte” – auf fairen Wettbewerb und bessere Konditionen für europäische Unternehmen und Start-ups setzt, geht es dem Digital Service Act oder “Gesetz über digitale Dienste” insbesondere um mehr Fairness, Transparenz und Rechenschaftspflichtn sogenannter Intermediärer mit Blick auf die Moderation digitaler Inhalte.

Fortschreiben der E-Commerce-Richtlinie Letztere beruht bis heute weitestgehend auf der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsver-

Übergang zur Ordnung: Vornehmliches Ziel der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Gesetze über digitale Dienste bzw. Märkte ist es, rechtliche Orientierung zu geben, die ein sicheres und faires Bewegen im Netz ermöglicht. Foto: BS/chaos_geralt, pixabay.com

kehr aus dem Jahr 2000, auch bekannt als E-Commerce-Richtlinie. Doch ist die technologische Gemengelage heute eine andere als noch vor rund 20 Jahren, als die Sozialen Medien noch in den Kinderschuhen steckten. Zwar gab es – darauf weist Agarwal

Deutlich gestiegene Erwartungen Neun von zehn Befragten wollen umfassende digitale Bürgerservices (BS/gg) Nach über einem Jahr Covid-19-Pandemie sind die Erwartungen an digitale Angebote in Deutschland deutlich gestiegen. Dies ist auch das Ergebnis einer Umfrage von Civey im Auftrag des Unternehmens ServiceNow. Die Erfahrungen aus dem Online-Shopping sowie die nahtlosen und einfachen Prozesse gelten als Maßstab für digitale Angebote wie z. B. Bürgerservices. “Die Menschen haben während der Pandemie live erlebt, was ihnen die Digitalisierung bieten kann. Integrierte, reibungsfreie Services überzeugen schon seit Längerem im Online-Handel – mit einem Klick alles erledigen. Alle anderen Angebote werden sich spätestens jetzt daran messen lassen müssen, egal ob es um Bürgerservices, mobiles oder hybrides Arbeiten, Firmen-interne Serviceangebote oder das zurzeit äußerst schlecht bewertete Homeschooling geht”, so Detlef Krause, Vice President EMEA Central und DeutschlandChef von ServiceNow.

Auf hybride Arbeitswelt einstellen Auch Behörden müssen sich zukünftig auf eine hybride Arbeitswelt einstellen. Die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Mitarbeiter haben während der Covid-19-Pandemie viele neue technologische Möglichkeiten kennengelernt. Reibungslose Prozesse und die hohe Flexibilität, die sie beispielsweise beim OnlineShopping gewohnt sind, werden nun auch in anderen Lebensbereichen erwartet. So ist es nicht verwunderlich, dass bei 60 Prozent der Befragten die Erwartungen

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an digitale Services während der Covid-19-Pandemie gestiegen sind. Besonders anspruchsvolle Gruppen sind hier die 18- bis 29-Jährigen sowie Haushalte mit Kindern. Immerhin 20 Prozent der Befragten kommen aber auch mit einer deutlichen Digitalernüchterung aus dem Pandemie-bedingten Realitätscheck für digitale Angebote. Bei der überwiegenden Mehrheit haben sich jedoch klare Vorstellungen herausgebildet, wie Angebote digital funktionieren sollten.

Luft nach oben bei digitalen Bürgerservices Im Schnitt will nur jeder Dritte (35,6 Prozent) in Zukunft häufiger digitale Bürgerservices nutzen. Differenziert nach Altersgruppen ergeben sich allerdings auch hier große Unterschiede. So wollen 80,2 Prozent der Studierenden zukünftig Online-Services der Verwaltung vermehrt nutzen. Bei den Auszubildenden sind es immerhin 60 Prozent. Auf die Frage nach einzelnen Bürgerservices antworteten rund 67 Prozent der Befragten, dass sie ihren Personalausweis, die Kfz-Zulassung, die An- oder Ummeldung ihres Wohnsitzes oder den Reisepass zukünftig gerne digital beantragen

würden. Spitzenreiter sind hier Anträge zum Personalausweis. 80 Prozent der Studierenden würden das gern zukünftig digital erledigen. Bei den 30- bis 39-Jährigen sind es sogar 88,9 Prozent.

Reibungsloser Alltag Grundsätzlich, dies zeigt die Umfrage, erwarten die Deutschen, unabhängig davon, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, in Zukunft einen Alltag, der als rundum reibungsloser, hybrider Prozess organisiert ist. “Angefangen beim Homeoffice oder Homeschooling über ­Online-Shopping bis hin zu digitalen Bürgerservices wollen die Deutschen einen hybriden Ansatz verfolgen und flexibel entscheiden können, ob sie Onlineund Offline-Angebote in Anspruch nehmen – und das alles ohne Reibungsverluste”, unterstreicht auch Detlef Krause. “Die Arbeit der Zukunft ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden, das haben uns die letzten Monate gelehrt. Unverbundene Teams, SiloSysteme sowie manuelle Prozesse gehören der Vergangenheit an. Damit befinden wir uns mitten in der Workflow-Revolution, die den Weg für eine hybride Welt ebnet.”

hin – sektorspezifische Eingriffe wie im Fall terroristischer Inhalte, jedoch keinen allgemeinen Rahmen, der auf gesamteuropäischer Ebene Verbindlichkeiten schafft. Insofern kann der Gesetzesvorschlag durchaus als Update gelten. Trotzdem bedeutet der DSA keine Absage an die ECommerce-Richtlinie, sondern schreibt deren Agenda konsequent fort. Dabei sieht der Digital Services Act vor, dass auf allen Plattformen, auf denen Inhalte Dritter, also von Nutzenden, moderiert werden, entsprechende Moderationsregeln bzw. Maßnahmen zu deren Durchsetzung in den Geschäftsbedingungen angezeigt

werden müssen. Grundsätzlich können die Plattformbetreiber für illegale Inhalte nur eingeschränkt zur Verantwortung gezogen werden; es gilt der sogenannte Haftungsausschluss. Sofern ein Plattformdienst aber nicht kenntlich macht, dass abrufbare Inhalte von Anbietern und nicht vom Plattformbetreiber angeboten werden, muss auch der Betreiber gegenüber Verbrauchern haften. Um Transparenz geht es auch beim Abschalten suspendierter Accounts samt Angabe von Gründen für deren Sperrung. Darüber hinausgehende Sorgfaltspflichten sind im DSA asymmetrisch angelegt, d. h. sie gelten für eine operative Nutzerschwelle von 45 Millionen Usern. Ferner sichert sich die EU diesmal auch direkte Durchsetzungsbefugnisse gegenüber Anbietern, wenn nicht entsprechend agiert wird. Dafür müssen Anbieter, die über keine Niederlassung in der EU verfügen, einen rechtlichen Vertreter benennen. In diesen beiden Punkten unterscheidet sich der DSA von einem anderen europäischen Regulierungsvorhaben: der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die, wie Agarwal betont, auch als Erfahrungshorizont für den DSA fungiert hat.

Gegen die Macht der ­Gatekeeper Mehr wirtschaftliche Interessen – der Name kündigt es an – verfolgt der DMA, dessen Fokus darauf ruht, die datenbasierte

Marktmacht der Hyperscaler zu durchbrechen. Ein wohl jedermann bekanntes Beispiel für solch ein Szenario sind AppStores von Anbietern wie Google oder Apple. Aber auch OnlineMärkte, wie Amazon soll durch den DMA untersagt werden, eigene Produkte gegenüber den Waren Dritter zu bevorzugen, indem sie in der Übersicht weiter oben angezeigt werden. Weitere Maßnahmen des DMA betreffen das Schalten von Werbung, die transparenter mit Blick auf Preispolitik und Performance, also tatsächliche Klickzahlen, gestaltet werden soll. Um Wettbewerbsprobleme auf den digitalen Märkten nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu beseitigen, setzt der DMA auf Geldbußen von bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes. In extremen Fällen hat die EU-Kommission sogar eingebracht, eine sogenannte strukturelle Trennung vorzunehmen; mit anderen Worten einen Geschäftsbereich zu zerschlagen.

“Wie bei einem Rockkonzert” Ob und in welcher Gestalt beide Gesetzesvorhaben letzten Endes in geltendes EU-Recht überführt werden, steht derzeit noch in den Sternen. Die Endposition des Parlaments etwa wird für Dezember dieses Jahres erwartet. Fest steht aber schon jetzt, dass sowohl DSA als auch DMA ein starkes Plädoyer gegen Lobbyarbeit und für ein freies Internet sind, wenngleich es sich nur um einen Schritt in der Evolution des Netzes handelt. So zumindest sieht es Agarwal und bemüht schließlich folgende Analogie: “Es ist wie bei einem Rockkonzert. Wir sagen nicht, wer was singen darf oder nicht. Das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist aber sehr wohl, dass, wenn etwas schief geht, Notausgänge oder ein Feuerlöscher bereitstehen.”

Sicheres Homeoffice Wie die Pandemie die IT-Arbeitswelt verändert (BS/df) Vor der Pandemie war Präsenzpflicht in eigentlich allen deutschen Ämtern, Behörden und Unternehmen die indiskutable Regel. Oftmals existierte keine entsprechende Infrastruktur, um die Beschäftigten überhaupt von ihrem Zuhause sicher an die betriebliche IT anzuschließen. Die hierfür notwendigen Investitionen waren nicht zeitkritisch und daher entbehrlich. Die BWI, IT-Systemhaus und ­Digitalisierungspartner der Bundeswehr, besaß zwar das notwendige Know-how und auch die Technologien, allerdings zu Beginn der Pandemie noch nicht in der notwendigen Stückzahl. ­Dennoch schickte sie zum Schutz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor der Pandemie über 80 Prozent der Beschäftigten ins Homeoffice. Um dies zu leisten, war allerdings durchaus Improvisationstalent gefragt. So konnten beispielsweise die für sichere Verbindungen notwendigen genucards nicht von heute auf morgen bereit stehen, da die Nachfrage nach der BSI-zugelassenen Lösung in Deutschland quasi innerhalb von Tagen explodierte, mitten in der Pandemie mit unklaren Arbeitsplatzregeln, die natürlich auch für den Hersteller der genucard galten. Zudem schickte auch die Bundeswehr ihre Soldatinnen und Soldaten in das Homeoffice und meldete bei der BWI einen entsprechenden “Sofortbedarf” an sicheren Assets für das heimische Arbeiten an. Die BWI zeigte sich in dieser angespannten Situation als in der Lage, zeitgerecht Lösungen sowohl für die Bundeswehr als auch die eigenen Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen, abgestuft nach Notwendigkeit, Sicherheitsanforderungen und weiteren Roll-out Kriterien.

Planen für Post-Corona Die Zeit der Improvisation ist längst vorbei, die Mitarbeiter der BWI können effizient aus dem Homeoffice arbeiten. Nun zeigen

Die BWI musste zu Beginn der Pandemie nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter für das Homeoffice ausrüsten, sondern auch die Soldaten der Bundeswehr. Foto: BS/Bundeswehr, Weber

sich die Vorteile und bewegen die Führung der BWI dazu, über neue Wege nachzudenken. “Wir nehmen unsere Erfahrungen aus der Corona-Zeit zum Anlass, unser Arbeitsmodell neu aufzustellen”, sagte Katrin Hahn, Chief Resources Officer bei der BWI. “Wir möchten als eines der ersten Unternehmen des öffentlichen Sektors zeigen, wie moderne und flexible Arbeitsformen in der Praxis noch stärker und konsequenter gelebt werden können: zum Wohle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unserer Kunden.” So sollen auch in der Zeit nach der Pandemie nur noch jene Mitarbeiter zurück in die Büros gehen, bei denen es das Tätigkeitsprofil zwingend erforderlich mache. “Neu geschlossene Arbeitsverträge sehen regelmäßiges Homeoffice von vornherein vor”, beschreibt

die BWI und prognostiziert, dass “rund 75 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter künftig in weiten Teilen überwiegend von daheim aus arbeiten können”.

Erwartbare Vorteile Das künftige Arbeitsmodell wurde dabei für die Umsetzung ganzheitlich betrachtet, das daraus entstandene Konzept gibt die Richtung für die Umsetzung vor. Vorteile ergeben sich nicht nur für die Mitarbeiter. Ein Vorteil liegt beispielsweise in der Personalwerbung. Gerade im IT-Bereich sind Fachkräfte schließlich überaus knapp. Mit dem neuen Homeoffice-Konzept können neue Mitarbeiter an ihren Wohnorten bleiben, egal wo diese in Deutschland die liegen. Beim Kampf um die besten Köpfe ein durchaus wichtiger Aspekt.


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in bekannter Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz (KI) ist das autonome Fahren. Schon vor Jahren wurden große Erfolge von zumeist US-amerikanischen oder chinesischen Unternehmen verkündet. Pilotversuche folgten, auch in Deutschland. Es sah aus, als ob uns vom autonomen Verkehr nur noch wenige Jahre trennen würden. Seitdem ist die Betrachtung wieder nüchterner geworden. Trotz erstaunlicher Leistungen der Systeme ist die Unsicherheit noch zu groß – das zeigten auch Unfälle bei Testfahrten. Das Problem erläutert Prof. Dr. Simon Burton, Forschungsleiter für den Bereich Safety am Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme IKS: “Der Straßenverkehr ist ein äußerst komplexes Gesamtsystem.” Neben dem Fahrzeug selbst gehörten dazu andere ggf. autonom oder teilautonom fahrende Autos, weitere Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger oder Fahrradfahrer und die ganze Straßeninfrastruktur. In dem Gesamtgefüge habe KI es häufig mit unvorhersehbaren Ereignissen zu tun. KI-Systeme lernten anhand von massenhaften Daten. Trotzdem ergäben sich Unschärfen bei Ereignissen, die sehr selten vorkämen. Gerade diese könnten aber besonders wichtig für die Sicherheit sein, wie z. B. Kleinkinder, die vor das Auto liefen. Letztlich dürfe die Sicherheit aber nicht nur auf technischer Ebene betrachtet werden, so Burton. Fehlerquellen gebe es auf verschiedenen Ebenen. Das beginne schon bei der Gestaltung der Straßen, damit zum Beispiel Fußgängerüberwege eindeutig erkannt werden könnten. Klarheit brauche es zudem im Nutzungskontext: Wie müssten Fahrzeugführer/-innen geschult werden? Wer hafte bei Unfällen? Es zeige sich: KI könne ein Problemlöser sein, schaffe selbst aber auch neue Probleme. “Wir wollen KI besonders in Bereichen einsetzen, die wir nicht gut spezifizieren können”, sagt Burton. “Entsprechend können wir aber auch die entstehenden Risiken schlecht spezifizieren.” Das Dilemma ließe sich nicht technisch lösen. Was es brauche, sei ein breiter Diskurs darüber, was wir von KI-Systemen erwarten und

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olker Wehmeier von Materna: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen dem Land Niedersachsen und den Kommunen?

Dr. Horst Baier: Länder und Kommunen müssen eng zusammenarbeiten. Die Kommunen sind ein wesentlicher Teil der zentralen, jeweils von den Ländern gesteuerten Umsetzung des OZG. Das Gesetz macht die Länder und die Kommunen samt ihrer lokalen IT-Dienstleister zu Umsetzungspartnern in einem ambitionieren Vorhaben. Land und Kommunen müssen lernen, ihre kollaborativen Prozesse effizient auszurichten und aufeinander abzustimmen. Genauso wichtig ist es, die Kommunikation auf Augenhöhe zu organisieren und gemeinsame Ziele zu formulieren. Wehmeier: Worin liegt die besondere Chance dieser Zusammenarbeit? Baier: Auf kommunaler Ebene wurde die Digitalisierung pragmatisch vorangetrieben. Das OZG erfordert nun eine viel stärkere Vernetzung auf fachlicher Ebene und die Schaffung einer gemeinsamen IT-Infrastruktur. Das Land stellt für das OZG zentrale Infrastrukturkomponenten zur Verfügung, wie z. B. ein Servicekonto, ein Payment-System oder ein Antragsverwaltungsver-

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KI auf Kurs bringen Innovation ermöglichen, Risiken vermeiden (BS/Benjamin Stiebel) Der Vormarsch von Künstlicher Intelligenz ist nicht aufzuhalten. Aufgabe ist es daher, Chancen und Risiken in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Deutschland und Europa tun sich in dem Bereich einmal mehr als Vorreiter der Regulierung und Standardisierung hervor. Doch europäische Anforderungen auf Papier werden bei der Gestaltung der digitalen Zukunft nur ins Gewicht fallen, wenn sie mit wettbewerbsfähigen europäischen Lösungen flankiert werden. unter welchen Bedingungen wir sie einsetzen wollen. “Bisher gibt es keine Richtlinie dafür, welche Fehlerrate wir bei einer KI tolerieren wollen”, gibt Burton zu bedenken. Lange fehlte es generell an konkreten Anforderungen für den KI-Einsatz. Inzwischen hat die EU-Kommission einen Verordnungsentwurf zur Regulierung vorgelegt. Im Kern steht ein risikobasierter Ansatz. Systeme der höchsten Risikoklasse wie Social Scoring sollen demnach gänzlich verboten werden. Anwendungen mit minimalem Risiko wie einfache Spamfilter werden dagegen gar nicht gesondert reguliert. Ist das Risiko als begrenzt einzustufen, wie bei Chatbots, werden vor allem Transparenzpflichten eingeführt. Systeme mit hohem Risiko werden deutlich stärker reguliert. Dazu gehören Anwendungen, die über den Zugang zu Berufs- und Bildungsangeboten oder die Kreditvergabe entscheiden sowie Anwendungen im Rahmen der Strafverfolgung. Hier muss eine umfangreiche Konformitätsbewertung vorgenommen werden. Die Richtigkeit der verwendeten Daten muss sichergestellt werden. Zudem müssen die Anwendungen registriert werden und staatliche Kontrollen sind vorgesehen.

Vertrauen schaffen Für Arne Schönbohm muss das Ziel der Regulierung sein, nachweislich resiliente und vertrauenswürdige KI-Systeme zu schaffen. “Wir müssen Akzeptanz bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern erreichen”, fordert der Präsident des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Dazu brauche es neben einem Rechtsrahmen auch Normen und Standards für sichere und vertrauenswürdige Systeme. “Über diesen Weg wird mit entschieden, wie erfolgreich

Die grüne Bundestagsabgeordnete Dr. Anna Christmann (dritte von links) forderte auf dem zweiten Innovationssymposium Künstliche Intelligenz in Berlin Investitionen ins europäische KI-Ökosystem. Bei der Regulierung von KI-Anwendungen müsse es gelingen, klare rote Linien zu ziehen, ohne dabei kleine Unternehmen und Start-ups zu sehr in ihrer Innovationsfähigkeit einzuschränken. Foto: BS/Stiebel

wir aus Deutschland und Europa heraus das Thema mitgestalten können.” Einen Aufschlag hat das Bundesamt mit dem AIC4 (AI Cloud Service Compliance Criteria Catalogue) gemacht. Der weltweit erste Kriterienkatalog für den Bereich spezifiziert Mindestanforderungen an die sichere Verwendung von KI-Methoden in Cloud-Diensten. Regulierung und Normen könnten jedoch nicht das einzige Instrument sein, um den unvermeidlichen Siegeszug von KI im europäischen Sinne zu gestalten, wie die Bundestagsabgeordnete Dr. Anna Christmann (Bündnis 90/Grüne) zu bedenken gibt. “Rote Linien gegen Einsatzszenarien wie massenhafte Gesichtserkennung oder Social Scoring sind absolut notwendig”, so Christmann. “Es wäre aber ein großer Fehler, nur auf Regulierung zu setzen und nicht auch eigene praktische Kompetenzen zu entwickeln.” Dafür brauche es zum

einen Investitionen. Zum anderen müsse hiesigen Unternehmen und auch Start-ups Freiheit für Innovation eingeräumt werden. “Wir dürfen durch Generalität in der Gesetzgebung keine unüberwindbaren Hürden schaffen.” Diese Gefahr sieht die Abgeordnete beim Verordnungsentwurf der EU-Kommission, der z. B. Fehlerfreiheit der verwendeten Datensätze fordert. Hier sei unklar, was das in der Praxis genau heißen soll – buchstäblich verstanden, sei die Anforderung nicht erfüllbar, moniert Christmann. Auch Jochen Dahlke warnt vor Pauschalisierung im Diskurs über den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Der frühere Geschäftsfeldleiter Big Data bei der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) ist inzwischen für das Bundesministerium der Verteidigung tätig. “Anforderungen an Genauigkeit, Transparenz und

Sicherheit unterscheiden sich in verschiedenen Einsatzkontexten erheblich. Deswegen müssen wir Kompetenzen sektorenspezifisch aufbauen auch viel differenzierter diskutieren”, fordert Dahlke. So könne ein Bias – also eine vorurteilsartige Verzerrung in KI-getriebenen Entscheidungsprozessen – in bestimmten Anwendungen vorsätzlich eingebaut sein, während er in vielen anderen Anwendungen als gefährlicher, unerwünschter Effekt gilt. Zudem sei die Eingriffstiefe bei Anwendungen für Analysten in der Polizeiarbeit eine ganz andere als bei kommerziellen Angeboten. “Eine Art Ampelsystem zur Einteilung aller KI-Systeme ist nicht die Lösung”, kritisiert Dahlke. “Die Regulierung muss sektorenbezogen vorgenommen werden.” Dem schließt sich Dr. Martin Conrad an. Er ist als Referatsleiter im Bundesinnenministerium für den IT-Einsatz und die Cyber-

Wie Land und Kommunen das OZG umsetzen

Fähigkeiten der Bundespolizei zuständig. “Die EU-Kommission hat sich mit ihrem Vorstoß die Kompetenz angemaßt, den KIEinsatz für die nationalen Sicherheitsbehörden mitzuregulieren”, kritisiert er. Für die Entwicklung von Fähigkeiten im Rahmen von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr sei der Entwurf ein enormer Bremsklotz, Kompetenzstreitigkeiten seien vorprogrammiert. Milder gestimmt ist Patrick Voss-de Haan, Leiter des Referats “Cybercrimeforschung” im Bundeskriminalamt. Für ihn gilt: Ein schlechter Rechtsrahmen ist besser als gar kein Rechtsrahmen. Beim polizeilichen Handeln werde tief in die Rechte der Menschen eingegriffen. Entsprechend brauche es solide Grundlagen für den Einsatz von Technik. Voss-de Haan weiter: “Wir wollen innovativ sein und neue Werkzeuge einsetzen. Aber wir wollen auch akzeptable Lösungen schaffen. Nur wissen wir schlicht nicht, wie wir es machen können, weil es bisher keine klaren Kriterien für den akzeptablen Einsatz von KI im Sicherheitsbereich gibt.”

Den Spagat wagen Im kommerziellen Bereich werden KI-Systeme in Ermangelung klarer Kriterien bisher vor allem in den USA und China weitgehend ungebremst entwickelt und eingesetzt, während europäische Unternehmen sich mit der bevorstehenden Regulierung einzurichten haben. Im öffentlichen Bereich ist es dagegen gerade das Fehlen klarer Vorgaben, dass sich bremsend auswirkt. Ähnlich wie schon beim Datenschutz besteht die fromme Hoffnung darin, dass sich technische Innovation und rechtliche Restriktion langfristig werden verheiraten lassen. Im besten Fall soll eine Regulierung des wichtigen europäischen Marktes das Sicherheits- und Transparenzniveau auch bei Angeboten aus Drittländern hochziehen. Für hiesige Anbieter soll eine Art “AI made in Europe” zum Wettbewerbsvorteil werden. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten. Im Datenschutz ist das Kalkül bisher jedenfalls nicht ganz aufgegangen – vor allem, weil im internationalen Kontext von konsequenter Rechtsdurchsetzung keine Rede sein kann (siehe Seite 35).

kommunalen Behörden durch eine überzeugende User Experience auszeichnen. Mit einer Interview mit Dr. Horst Baier, CIO des Landes Niedersachsen einfachen Benutzerführung, (BS) Im August 2021 wird das OZG vier Jahre alt. Dies ist ein guter Zeitpunkt für ein Zwischenfazit. Antworten auf wichtige Fragen zum Stand der einer nachvollziehbaren AnUmsetzung in Niedersachsen gibt Dr. Horst Baier, IT-Bevollmächtigter der Landesregierung (CIO) im Ministerium für Inneres und Sport. Das Inter- sprache und mit digitalen Assisview führte Volker Wehmeier von Materna*, Vertriebsbeauftragter für Landes- und Kommunalbehörden schwerpunktmäßig in Norddeutschland. tenten sollen die Online-Dienste den populären Plattformen in fahren. Darüber hinaus werden Wehmeier: Über welchen Zu- schaffen ein “Digitales Kaufhaus der freien Wirtschaft in nichts zentral durch das Land Verwalnachstehen. Durch das Regisgang werden die Bürger/-innen der Verwaltungsdienste”. tungsleistungen als Onlinetermodernisierungsgesetz und die Online-Dienste nutzen? Dienste zur Nutzung angeboten. Wehmeier: Welche Bedeutung die einheitliche Bürger-ID lassen Baier: Die im Land eingesetzten hat für Sie die Einbindung der sich in Zukunft viele DatenzuDer Erfolg des OZG hängt von der Portale sollen miteinander ver- kommunalen Bedürfnisse in Nie- griffe automatisieren. Das macht Akzeptanz der Bürger/-innen in netzt werden. Letztlich wird es dersachsen? Bezug auf die neuen Angebote ab. das Ausfüllen von Online-Anträdann egal sein, wo die Bürger/Die Kommunen sind die Experten gen noch einfacher. Wenn wir Baier: Wir investieren viel Zeit es dann noch schaffen, unsere innen den Einstieg wählen. Über für die örtlichen Belange und unseren Zuständigkeitsfinder und Energie in die Kommuni- Gesetze einfacher zu gestalten, haben den direkten Kontakt zu den Menschen. finden sie immer den passenden kation und arbeiten auf der haben wir schon viel erreicht Online-Dienst und die zustän- Basis gemeinsamer Ziele. Die im Sinne einer modernen Verdige Behörde. Entscheidend ist, Umsetzung des OZG darf nicht waltung. Wehmeier: Wird sich der Erjede Komplexität aus der Nut- in einen Flickenteppich münden folg der Zusammenarbeit messen zung zu nehmen. Das bewährte und auch nicht von der Finanz*Materna engagiert sich im lassen? Lebenslagen- bzw. Unterneh- kraft der einzelnen Kommune Auftrag der niedersächsischen menslagenmodell bleibt der Leit- abhängen. Landesverwaltung für die OZGBaier: Mein Maßstab ist: Wenn gedanke: Je nach Situation und Wir werden auf Basis einer nahen Interessen der kommunaviele Bürger/-innen wie selbstverständlich ihre Anliegen online Dr. Horst Baier hat im März 2020 den Anlass öffnet sich ein spezifi- Befragung und von Veranstal- len Dienstleister und der rund abwickeln, wenn sie in wenigen Posten des Landes-CIOs in Niedersach- scher Prozess, ein digitaler Pfad, tungen versuchen, den Bedarf 400 Gemeinden. Die hohe Anzahl Minuten ihre Anliegen adressieren sen übernommen. Foto: BS/Ministerium auf dem die Bürger/-innen und an Unterstützung und die Pro- von Gemeinden erfordert eine können und ein Gefühl der Zufriefür Inneres und Sport Niedersachsen Unternehmen komfortabel und bleme bei der Umsetzung vor überlegte Kommunikation und denheit empfinden, dann haben verlässlich ihre Angelegenheiten Ort besser zu verstehen und die Einbeziehung vieler AnsprechLand und Kommunen eine gute strukturierte, verständliche und regeln können. Das Ergebnis daran unsere Aktivitäten aus- partner. Mit der Verantwortung Arbeit abgeliefert. Die Anwen- barrierefreie Online-Dienste. Da- einer Verwaltungsdienstleistung richten. Schritt für Schritt wollen der erfolgreichen Einbindung der dungen müssen auch auf einem mit das auf allen Ebenen gelingt, landet dann in dem Postfach der wir nachhaltige kollaborative Kommunen in die Projekte der Smartphone gut funktionieren. Zu plant das Land Befragungen von Bürger/-innen. Die Technologie Strukturen aufbauen, in denen Landesverwaltung überträgt die den quantitativen Zielen gehört Bürger(inne)n zur Qualität und regelt alles weitere – von der die Landes- und kommunalen Landesverwaltung hiermit der die Anzahl gemeinsam realisierter Akzeptanz der Online-Dienste. Authentifizierung gegenüber den Interessen gleichermaßen be- Bechtle AG als GeneralunterOnline-Services ebenso wie die Das langfristige Ziel sollte eine Bürgerdiensten über die rechts- rücksichtigt werden. Und wir nehmer und Materna eine der Einhaltung vorgegebener Budgets Nutzung der Online-Dienste von konforme Weiterleitung von Da- haben eine weitreichende Vision: wichtigsten Aufgaben aus dem und die Termintreue. Besonde- über 90 Prozent der Bürger/- ten bis hin zu den digitalen Be- Wir möchten, dass sich die di- Gesamtprojekt Digitale Verwalren Wert legen wir auch auf gut innen sein. zahlmöglichkeiten. Kurzum: wir gitalisierten OZG-Angebote der tung Niedersachsen (DVN).


Informationstechnologie

Behörden Spiegel / Juli 2021

KOMPETENZZENTRUM ÖFFENTLICHE IT (ÖFIT)

Seite 31

Juli 2021

Kompetenzzentrum Öffentliche IT

Piazza für digitale Verwaltung & Gesellschaft sucht Workshop-Ideen Die neue Konferenz für Expert(inn)en aus Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft will Gestaltungsideen für die Digitalisierung des öffentlichen Sektors neu und weiterentwickeln. Die Piazza-Konferenz für digitale Verwaltung & Gesellschaft sucht Workshops an den Berührungspunkten von Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Wenn Sie rund um die Digitalisierung des öffentlichen Sektors eine Gestaltungsaufgabe oder eine Fragestellung haben, zu der Sie in einem Workshop neue Ideen entwickeln oder bestehende Konzepte einen merklichen Schritt voranbringen möchten: Reichen Sie diese beim Call for Workshops der Piazza-Konferenz ein! Sechs ausgewählte Workshops bieten am 2. Dezember 2021 im Rahmen einer virtuellen Tageskonferenz Raum und Anlass für den konstruktiven Austausch zur Gestaltung unseres digitalen Gemeinwesens. Die Konferenz veranstalten das Kompetenzzentrum Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS, das NExT-Netzwerk, die Gesellschaft für Informatik und AlgorithmWatch gemeinsam.

Warum noch eine Konferenz? Piazza hebt sich in drei Punkten von anderen Kongresse und Messen zur Verwaltungsdigitalisierung ab: Erstens liegt der Fokus auf der Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Verwaltung. Damit werden Perspektiven und alternative politische und technische Handlungsoptionen hervorgehoben, die sonst selten Raum in Konferenzprogrammen und auf Paneldiskussionen

M

it Inkrafttreten des Wirtschafts-Portal-Gesetzes NRW (WiPG NRW) im Juli 2020 wurde das Gewerbe-ServicePortal.NRW (GSP.NRW) zum Wirtschafts-Service-Portal. NRW (WSP.NRW). Das 2018 errichtete GSP.NRW ermöglichte bereits die elektronische Gewerbeanmeldung für Einzelgewerbetreibende, wurde nach und nach auf alle Rechtsformen ausgedehnt und um die elek­ tronische Gewerbeummeldung und -abmeldung ergänzt. Mit dem WSP.NRW haben wir nun das zentrale digitale Zugangstor für die Wirtschaft in NordrheinWestfalen geschaffen, das zur Allround-Plattform für digitale Services ausgebaut wird. Das WSP.NRW gewährleistet einen klaren datenschutzrechtlichen Rahmen und eine klare Rechtsgrundlage zur Organisation und Umsetzung der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen für die Wirtschaft. Das Portal erfüllt bereits die Vorgaben der Single-DigitalGateway-VO der EU und ist gleichzeitig “Einheitlicher Ansprechpartner” im Sinne der EUDienstleistungs- und Berufsanerkennungsrichtlinie.

Geteilte Verantwortung ein wesentlicher Faktor Nordrhein-Westfalen geht voran – die Vorteile der Portal-Lösung können aber über die Grenzen unseres Landes hinaus realisiert werden. Für eine schnelle und flächendeckende Digitalisierung von Verwaltungsprozessen ist geteilte Verantwortung ein wesentlicher Faktor. Nicht Insellösungen, sondern wechselseitiges Voneinander-Lernen,

finden. Zweitens will Piazza neue Konzepte für die Verwaltungsdigitalisierung in die Diskussion einbringen sowie bestehende Ideen vertiefen und konkretisieren. Wesentliches Kriterium für die Zusammenstellung des Konferenzprogramms ist deshalb der Neuigkeitsgrad der Ideen und ihr Potenzial für nachhaltige Veränderungen. Drittens geht es in den Workshops darum, mit den Teilnehmenden gemeinsam greifbare Ergebnisse zu erarbeiten. Dazu werden für jedes Thema Format und Ablauf des Workshops maßgeschneidert und die Teilnehmenden gezielt zusammengestellt.

Sechs Schwerpunktthemen Den inhaltlichen Rahmen der Konferenz setzen sechs Schwerpunktthemen: 1. Wege zu digitaler Souveränität, also Leitlinien und Maßnahmen, die zur Selbstbestimmung des Staates im Digitalen beitragen. 2. Civic-Tech-Schnittstelle rund um die Frage, wie die Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung bei technischen Lösungen für demokratisches und bürgerschaftliches Engagement verbessert werden kann. 3. Verwaltung automatisieren – wer redet mit? Hier geht es um Ideen und Fragen zur Beteiligung und Mitsprache von Stakeholdern wie Bürger(inne)n und Mitarbeitenden bei der Automatisierung in der Verwaltung. Innovationstheater vs. Strukturarbeit 4. richtet einen kritisch-konstruktiven Blick auf Hackathons, Innovationslabore und Leuchtturmprojekte und wie diese zu nachhaltigerer Wirkung gebracht werden können. Befähigung von Mitarbeitenden in der 5. öffentlichen Verwaltung sowohl zum Einsatz als auch zur kritischen Begleitung digitaler Technologien.

Auf der virtuellen Piazza-Konferenz geht es am 2. Dezember 2021 um den konstruktiven Austausch zur Gestaltung des Grafik: BS/ÖFIT ­digitalen Gemeinwesens. 6. Standardisierung aus strategischer wie technischer Sicht, insbesondere mit Blick auf die mögliche Rolle der Zivilgesellschaft.

Ihr Workshop für Piazza Ihr Workshop sollte eines dieser Themen aufgreifen und vor allem Ihnen selbst nutzen: Entweder haben Sie eine Gestaltungsidee, die Sie mit Menschen aus Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft teilen und verfeinern möchten. Oder Sie haben eine Gestaltungsfrage, die Sie mit einschlägigen Menschen aus diesen Sektoren beantworten möchten. Für Ihren Workshop haben Sie 90 Minuten Zeit, inklusive

maximal 15 Minuten Impulsvortrag. Den anschließenden interaktiven Abschnitt gestalten Sie zusammen mit Expert(inn)en für Workshop-Methoden, um Austausch und Zusammenarbeit optimal zu fördern. Teilnehmende bewerben sich gezielt auf Ihren Workshop. Sie wählen mit Vertreter(inne)n des Organisationsteams bis zu 20 Personen aus. Um die richtigen Teilnehmenden für Ihrem Workshop zu gewinnen, laden Sie und die Trägerorganisationen gezielt Expert(inn)en zur Bewerbung ein. Ihr Workshop erarbeitet ein konkretes Ergebnis, beispielsweise konkrete Problemdefinitionen, Anforderungskataloge, Architekturskizzen, Prototypen, Forschungsfragen, Policy-Ideen,

Maßnahmenpläne, konkrete Kooperationsmöglichkeiten zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Verwaltung oder Ähnliches. Sprechen keine gewichtigen Gründe dagegen, werden Ihr Impulsvortrag und die Workshop-Ergebnisse dokumentiert und veröffentlicht. Nutzen Sie die Chance, Ihren Gestaltungsimpuls für die digitale Verwaltung mit Expert(inn)en aus Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft weiterzuentwickeln! Den ausführlichen Call for Workshops und die Möglichkeit zur Voranmeldung für die Konferenz finden Sie auf: www.piazza-konferenz.de.

Das Wirtschafts-Service-Portal.NRW Ein zentrales digitales Zugangstor für die Wirtschaft (BS/Prof. Dr. Andreas Pinkwart) Digitale Services sind ein Anspruch des digitalen Zeitalters, dem die Verwaltung nachkommen muss. Die Digitalisierung der Verwaltung ist ein Großprojekt, das auf der sinnbildlichen “Beschleunigungsspur” zu befahren ist. Zentral sind dabei nutzerfreundliche Lösungen, die Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürgern einfach und direkt Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen verschaffen. Eine zukunftsfähige Portalinfrastruktur ist Kern der digitalen Verwaltung. Mit dem Wirtschafts-Service-Portal haben wir für die Wirtschaft in NordrheinWestfalen ein zentrales Zugangstor geschaffen. terstützung der Industrie- und Handelskammern Prof. Dr. Andreas Pinkwart ist seit rund vier Jahren in NordrheinMinister für Wirtschaft, InnoWestfalen, des vation, Digitalisierung und Westdeutschen Energie (MWIDE) des Landes HandwerkskamNordrhein-Westfalen. mertags sowie Foto: BS/MWIDE der kommunalen Spitzenverbände entstanden. Mit der Unterzeicheine Best-Practice-Kultur und nung einer Kooperationsverländerübergreifende wie auch einbarung Anfang Mai dieses interkommunale Kooperationen Jahres sind weitere 31 digitale bringen die besten Ergebnisse. Leistungen für die Wirtschaft im Im Rahmen der verteilten Um- Zuständigkeitsbereich aller Kosetzungsverantwortung bei der operationspartner an den Start Umsetzung des Onlinezugangsge- gegangen. setzes (OZG) zwischen Bund und Ländern hat Nordrhein-Westfalen Konzept der ­Digitalisierungsstraßen unter anderem da Umsetzungsverantwortung übernommen, wo Für die Umsetzung der Anforwir für uns eine Kernkompetenz derungen des OZG sind innovasehen: bei der Digitalisierung von tive Lösungen notwendig. Eine Verwaltungsleistungen für die solche innovative Lösung haben Wirtschaft. In mehreren “Einer- wir mit dem Konzept der “Digifür-alle”-Umsetzungsprojekten talisierungsstraßen” entwickelt. werden wir die entwickelten Diese ermöglichen eine agile und Verwaltungsleistungen anderen standardisierte Entwicklung von Bundesländern zur Mitnutzung Online-Diensten über ein Baubereitstellen. kastensystem. Seit Juli 2020 werKooperation ist aber auch mit den parallel in acht, ab Juli 2021 Blick auf die Nutzer von enor- in 14 Digitalisierungsstraßen mer Bedeutung. Eine zentrale Online-Dienste für die Wirtschaft Digitalisierungsinfrastruktur entwickelt. Durch diesen Ansatz kann nur gemeinsam umgesetzt ist es uns gelungen, mittlerweile werden. Das WSP.NRW ist da- 31 Verwaltungsleistungen in neun her in Kooperation und mit Un- Online-Diensten im WSP.NRW

bereitzustellen. Bis zum Sommer gehen weitere 41 Verwaltungsleistungen in insgesamt 14 Online-Diensten live. Bis Ende 2022 werden für die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen mindestens 350 Verwaltungsleistungen zur Verfügung stehen. Die einschlägige Erkenntnis “Wenn man einen schlechten analogen Prozess digitalisiert, bekommt man einen schlechten digitalisierten Prozess!” haben wir dabei stets berücksichtigt. Wir digitalisieren keine analogen Formulare, sondern entwickeln intelligente, vernetzte und nutzerorientierte Anträge mit einer implementierten Fachlogik. Die Entwicklung der Dienste erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Fachvollzug, damit wir unseren Anspruch an hohe fachliche Qualität erfüllen können. Der Erfolg liegt dabei im Wesentlichen in der Team-Arbeit begründet: Mittlerweile arbeiten im WSP.NRW-Team über 60 engagierte Fachleute daran, die Digitalisierung für die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen voranzutreiben. Zentral sind dabei die Usability und die Ausrichtung an den Bedarfen der Wirtschaft. Im Mai dieses Jahres wurde die Nutzerführung im WSP.NRW neu aufgesetzt und deutlich verbessert. Das WSP.NRW soll weiter in

Richtung einer intuitiven Nutzerführung ausgebaut werden. Das “Look-and-Feel” eines Verwaltungsportals für die Wirtschaft soll sich nicht wesentlich von anderen Online-Portalen unterscheiden, mit denen wir täglich umgehen. Um die Dienstleistungsqualität im Portal weiter verbessern und ein passgenaues Beratungsangebot bereitstellen zu können, werden wir regelmäßig Nutzerbefragungen sowie Digitalisierungslabore auch mit Unternehmensvertreterinnen und -vertretern und Gründerinnen und Gründern durchführen.

Verwirklichung des ­Once-Only-Prinzips Auch der Verwirklichung des “Once-Only-Prinzips” kommen wir näher. Ab Anfang Juni dieses Jahres können sich Unternehmen im Rahmen der Abwicklung von Verwaltungsleistungen über das bundesweit einheitliche Unternehmenskonto mittels der ELSTER-ID (Steuer-ID) identifizieren. Wir arbeiten daran, mit Einwilligung der Antragstellenden Nachweise unmittelbar über das WSP.NRW bei den registerführenden Stellen einzuholen und den für den Vollzug zuständigen Stellen direkt mit den Antragsdaten zur Verfügung zu stellen. Durch ein Datencockpit brauchen perspektivisch perso-

nen- und unternehmensbezogene Daten nur einmal eingegeben und durch jeweils antragsspezifische Fachdaten ergänzt werden. Damit setzen wir wesentliche Anforderungen der EU im Sinne des Once-Only-Prinzips um. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss konkrete, erfahrbare Vorteile für Nutzer und Anbieter von digitalen Services erbringen. Neben dem einfachen Zugang sind Zeit- und Effizienzgewinne für beide Seiten wesentlich. – Und sie lassen sich messen: Dauerte etwa die analoge Gründung eines Gaststättenbetriebes einen oder mehrere Arbeitstage, so sinkt der Zeitbedarf über das WSP.NRW nun auf eine halbe Stunde. Das spart Gründerinnen und Gründern eine halbe Million Arbeitsstunden im Jahr. Für die Verwaltung treten alleine durch die Schaffung einer medienbruchfreien Verarbeitung von Antragsdaten Effizienzgewinne ein. Diese Effekte werden verstärkt, wenn die notwendigen Nachweise direkt elektronisch im Vorgang bereitgestellt werden. Das zeigt: Digitale Services sind nicht bloß “angenehmer” bei der Nutzung, sondern eine echte Entlastung für Wirtschaft und Verwaltung. Mit dem Wirtschafts-Service-Portal.NRW gehen wir in Nordrhein-Westfalen bei der Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen für die Wirtschaft in die nächste Phase. Wir setzen damit den Anspruch um, Verwaltung im 21. Jahrhundert als digitale Verwaltung zu begreifen, und halten Kurs auf unser Ziel, Nordrhein-Westfalen zum modernsten Wirtschaftsstandort zu entwickeln.


Informationstechnologie

Behörden Spiegel / Juli 2021

Ein logistischer Blindflug

und -nachweissystems, wie es im Schwellenland Indien vorhanden ist.

Die Impfkampagne Deutschlands

E­ ntsorgung nach Vorschrift oder Verimpfung durch Zufall

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D

ie vom Bundesgesundheitsministerium und den übrigen zuständigen Stellen des föderalen Systems in Deutschland angebotenen und eingesetzten Lösungen erfüllen diese Anforderungen nicht, wie nachstehende Analyse zeigt.

(BS/Prof. Dr. Robert Müller-Török/Prof. Dr. Alexander Prosser*) Reduziert man die Impfkampagne und die verwendeten Systeme auf die wichtigste, die rein logistische Perspektive, so muss sie folgende Anforderungen erfüllen: (1) Alle Impfwilligen werden erfasst und so der Bedarf an Impfstoff geplant, (2) alle Impfwilligen werden zu genau einer konkreten Impfung (ggf. zwei Terminen) eingeladen, (3) alle Geimpften werden Der Zähler: die Erfassung lückenlos zum Nachweis und im Hinblick auf notwendige Auffrischungsimpfungen erfasst und (4) die so generierten Bedarfe stellen im Rahmen aller Impfwilligen der verfügbaren Impfstoffmengen und -quoten den “Pull” in das Logistiksystem für die Impfstoffe dar und sind die Grundlage für DemandEs gibt zumindest pro Bun- Management und Bedarfsprognose. Dazu kommt (5) ein Mechanismus, der sicherstellt, dass alle Impfdosen genutzt werden, also eine orgadesland unterschiedlichste nisierte Liste an “Last-Minute-Nachrückern” existiert, die kurzfristig eingeladen werden können, wenn im Impfzentrum oder in der Arztpraxis Systeme, wo sich Impfwillige absehbar Impfstoff übrigbleibt. registrieren können. Für einen Ulmer kommen bspw. das bayerische System BayIMCO, das baden-württembergische System impfterminservice.de sowie viele Arztpraxen in Betracht, die wie hno-zentrum-ulm.de über eigene Anmeldeplattformen (evtl. auch nur offline) verfügen. Da man diese Systeme bzw. ihre Daten nicht systematisch abgleicht, ist es möglich, ja wahrscheinlich, dass sich Personen in mehreren Systemen registrieren. Eine Summe über alle Systeme liefert so weder den richtigen Bedarf an Impfstoffen noch Informationen, wie viele Personen überhaupt eine Impfung erhalten möchten. Da es kein zentrales Registrierungssystem gibt – wie bspw.

das indische CoWIN für 1,4 Mrd. Menschen – weiß niemand, wie viele Personen bestimmter Priorisierungsgruppen noch einzuladen sind. Nach Aussage des bayerischen Gesundheitsministeriums soll “für die Hausärzte die Priorisierung so wenig Bürokratie wie möglich mit sich bringen. Deswegen kann der Hausarzt eine Registrierung in BayIMCO nicht zurücknehmen oder verwalten. Alle Impflinge werden gebeten, nach einer Impfung beim niedergelassenen Arzt ihre Registrierung in BayIMCO zu löschen.” Dies belegt, dass hier anstatt Planung, Steuerung und Kontrolle auf Erfassung durch den Endbenutzer gesetzt wird.

Ein Vorgehen, welches bei weniger lebenswichtigen Verwaltungsmaterien wie auch nur der Erhebung der Kfz-Steuer wohl nicht infrage käme. Besagter Ulmer aus unserem Beispiel müsste, wenn er tatsächlich seine erste Impfdosis erhalten hat und die zweite Dosis gesichert ist, alle seine Registrierungen löschen bzw. löschen lassen. Dass hierbei eine vergessen werden kann, wenn er sich “auf der Jagd nach der lebensrettenden Spritze” überall angemeldet hat. Selbstverständliche Funktionen solcher Systeme wie eine Überprüfung der Priorisierung auf elektronischem Weg schei-

den mit Ausnahme der Überprüfung des Lebensalters faktisch auch aus, in der Praxis werden Papierbestätigungen “überprüft”.

Der Nenner: Wer ist “die ­Bevölkerung”? Aber auch die Grundgesamtheit der grundsätzlich zu Impfenden ist nicht definiert. Das RKI verwendet zum täglichen Impfquotenmonitoring laut eigenen Angaben einen anderthalb Jahre alten Datenstand, Zitat: “Für die Berechnung der Impfquote wurde der Bevölkerungsstand vom 31.12.2019 zugrunde gelegt.” Dieser bezieht sich somit auch auf die Impfquoten der Bun-

E-TRAINING zur Digitalisierung: E-Government, Open Government, Datennutzung, OZG und digitale Ethik in Verwaltungen Kompakter Sommerkurs für Neu- und Quereinsteiger in vier Modulen

Die Digitalisierung ist das zentrale Thema in öffentlichen Verwaltungen. Die Entwicklung vom E-Government zum Mobile Government, der Zugang zu Informationen und Verwaltungsleistungen über öffentliche Netze und Daten als Rohstoff zur Wertschöpfung sind Kernthemen der Verwaltungsarbeit. Neue Regelungen zum Datenrecht und zum Datenschutz sowie zum Einsatz neuer Technologien prägen die aktuellen Entwicklungen. Dabei spielen auch ethische und verfassungsrechtliche Fragen eine zentrale Rolle. Die Teilnehmer/-innen dieses Sommerkurses erhalten ein Grundlagenverständnis und erfahren die Zusammenhänge der komplexen Materie. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Praktische Beispiele und Anwendungshinweise runden die Fortbildung ab.

Das E-Training findet in vier Teilen statt: MODUL 1: 10. August 2021, 08:00-10:00 Uhr MODUL 2: 11. August 2021, 08:00-10:00 Uhr MODUL 3: 12. August 2021, 08:00-10:00 Uhr MODUL 4: 13. August 2021, 08:00-10:00 Uhr

Themenüberblick • • • • • • • • • • • • • •

Digitalisierung – Einführung und aktueller Stand des Prozesses Kulturwandel und neue Technologien Grundlagen des EGovG eID und E-Signatur Smart-eID-Gesetz und Registermodernisierungsgesetz Open-Government – Transparenz, Beteiligung und Zusammenarbeit Zugang zu Informationen und Informationsfreiheit Zugang zu Verwaltungsleistungen nach dem OZG Bereichsausnahmen und entgegenstehende Interessen Grundlagen des Datenschutzes Datennutzung und Weiterverwendung von amtlichen Informationen Ethik und menschengerechte Algorithmen Aktuelle Entwicklungen und Ausblick in die Zukunft weitere Themenbereiche zum Recht der Digitalisierung

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.fuehrungskraefte-forum.de; Suchworte „Sommerkurs“ Foto: ©Milan, stock.adobe.com

desländer und ist nicht aktuell – oder einfacher: falsch. Verstorbene, Zuzüge, Wegzüge und in das Impfalter “Hineinwachsende” werden nicht nachverfolgt, ebenso wenig werden Genesene automatisch aus den Statistiken entfernt. Auch ist völlig unbekannt, wie viele Personen sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht impfen lassen wollen oder können. Berichten der Tagespresse nach zu schließen, werden zumindest einige Impfzentren ohne Warenwirtschaftssystem betrieben, was bedeutet, dass nicht einmal pro Impfzentrum die vorhandene Menge an Impfstoffen ermittelt werden kann. Auch ein Schwund (mit dem dann möglicherweise Unberechtigte geimpft werden) kann so nicht ermittelt werden. Damit sind von der Datenbasis her weder Demand-Management und Bedarfsprognose noch eine geordnete Warenwirtschaft möglich. Kein Unternehmen würde so seine Logistik planen – und am Markt überleben.

Die bevorstehende, aber verdrängte Auffrischung Es ist, wenn man den CEOs von Pfizer und Moderna im April 2021 und der Bundeskanzlerin im Juni 2021 folgt, äußerst wahrscheinlich, dass alle bereits geimpften Personen beginnend mit Spätherbst 2021 einer weiteren Auffrischungsimpfung bedürfen. Dass die Prognose eines Bedarfes an den hierfür notwendigen Impfdosen unmöglich ist, wenn nicht zentral gespeichert ist, wer wann welchen Impfstoff erhalten hat, ist evident. Dass eine im günstigen Fall im bayerischen IMCO dokumentierte Impfung mit Moderna aus zwei Teilimpfungen im Februar und März 2021 bei einem Umzug nach Niedersachsen nicht ins dortige Impfsystem übertragen werden kann (und schon gar nicht in die Wartelisten der Arztpraxen), ebenso. Hierzu bedürfte es eines zentralen Impfregistrierungs-

Mangels eines zentralen Systems und infolge der dezentralisierten Verantwortlichkeiten ergeben sich “Lösungen” wie die des Landkreises Waldeck/ Frankenberg, der seine eigene Nachrückerplattform erstellt hat, falls Impfdosen übrigbleiben. Der Landkreis – dessen Bemühen um restlose Verimpfung der Impfstoffe vorbehaltlos zu begrüßen ist – bezeichnet diese selbst als Ersatz für eine fehlende Funktion des hessischen Impfportals, Zitat: “Über die Nachrücker-Plattform werden lediglich Rest-Dosen verabreicht, die am Ende eines Impftages übrig sind.” Dass so massive Effizienzverluste deutschlandweit auftreten, ist evident. Vor allem ist eine geordnete Vergabe dieser Restimpfstoffe nach Prioritäten kaum darstellbar, solange es kein deutschlandweit einheitliches System gibt.

Dringende Abhilfe täte not Es ist jetzt bereits offensichtlich, dass Deutschland bei der sich abzeichnenden Notwendigkeit einer dritten Auffrischungsimpfung in das nächste Impfchaos schlittern wird. Dies vor allem, wenn die ersten Auffrischungen bereits Geimpfter dann fällig sind, wenn noch nicht alle Impfwilligen erstgeimpft sind. In diesem Fall könnte eine Situation entstehen, in dem ein Teil der Bevölkerung unter die Räder kommt. Dies sind dann vor allem die später geimpften jüngeren Jahrgänge, die bereits jetzt durch das “Pandemiemanagement” wertvolle Teile ihrer Schul- und Universitätsausbildung verloren haben. Um dies zu verhindern, ist eine deutschlandweit einheitliche Impfregistrierungs- und -dokumentationsplattform nach indischem Vorbild erforderlich. Was in einem Schwellenland mit 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien funktioniert, sollte auch in einem G7-Staat mit 16 Bundesländern möglich sein. Nur so kann eine gesicherte Planungsgrundlage erreicht werden. *Prof. Dr. Robert Müller-Török lehrt an der Hochschule für Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg. Prof. Dr. Alexander Prosser ist an der Wirtschaftsuniversität in Wien tätig.

MELDUNG

Projektstruktur für Registermodernisierung beschlossen (BS/gg) Eine moderne Registerlandschaft ist eine der zentralen Voraussetzungen für die erfolgreiche Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Um eine koordinierte Umsetzung der Registermodernisierung zu ermöglichen, hat der IT-Planungsrat auf seiner 35. Sitzung im Juni die Einrichtung eines Projektes „Gesamtsteuerung Registermodernisierung“ beschlossen. So soll unter Federführung des Bundesinnenministeriums und mehrerer Länder die ressortübergreifende Umsetzung dieses komplexen Vorhabens zügig erreicht werden. Bestandteil dieser Reform ist zum Beispiel die künftige Nutzung einer Identifikationsnummer. Dadurch wird es möglich, dass Bürgerinnen und Bürger gegenüber Behörden bestimmte Angaben nicht immer wieder erneut machen und Nachweise beifügen müssen, die an anderen Stellen der Verwaltung bereits vorliegen. Auf Initiative des diesjährigen Vorsitzlandes Hamburg beschäf-

tigte sich der IT-Planungsrat im Rahmen der Sitzung zudem mit der Frage, wie man die Erfordernisse der digitalen Verwaltung im Bereich der Rechtssetzung und Rechtsgestaltung berücksichtigen und hierbei zu verbindlichen Regelungen kommen kann. So erscheint es beispielsweise sinnvoll, im frühen Stadium der Gesetzesentstehung, IT- bzw. Digital- und Prozess-Expertise einzubinden, damit die politisch gewünschten Zielvorgaben gemeinsam in digitalkonforme Regelungen übersetzt werden können. Konkret wird es vor allem darum gehen, durchgehend konsistente digitale Verwaltungsverfahren vom Anfang bis zum Ende zu entwickeln und regulatorisch abzubilden. Außerdem sollte die Harmonisierung von Rechtsbegriffen mit der zunehmenden ITStandardisierung einhergehen. Bei mehreren Grundbegriffen (z. B. Einkommen, Vermögen, Kind) besteht eine Vielfalt inhaltlicher Divergenzen, die für Hemmnisse bei der digitalen Umsetzung sorgen.


Informationstechnologie

Behörden Spiegel / Juli 2021

U

m die Mammutaufgabe der Digitalisierung bewältigen zu können, bedarf es einer effizienten Steuerung der Prozesse. Schritt 1: Ein Zielbild entwickeln und mit Ressourcen und Projektplan hinterlegen Die Idee zum interkommunalen ProzessmanagementProjekt entstand im Kopf von Oliver Blanke (Zweckverband infokom Gütersloh), nachdem er im Rahmen einer “eGovernment-Roadmap” für die regio iT GmbH viele Kommunen im Kreis Gütersloh beraten hat: “Mir war klar, dass es im kommunalen Bereich viele Parallelen bei der Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben und Ähnlichkeiten in den Prozessen gibt. Warum sollte man das nicht aktiv nutzen?” Die Idee, ein interkommunales Projekt auf die Beine zu stellen, wurde dem Zweckverband infokom Gütersloh vorgestellt und fand schnell Anklang. Zwölf Mitgliedskommunen (Rheda-Wiedenbrück, Versmold, Borgholzhausen, Halle (Westf.), Harsewinkel, Rietberg, Schloß Holte-Stukenbrock,

Ein Erfolgsrezept in fünf Schritten Prozessmanagement im interkommunalen Austausch (BS/Jennifer Oldach/Marie-Sophie Sirges/Daniel Wiens/Oliver Blanke*) Mit dem Programm “Digitale Verwaltung” und den E-Government-Gesetzen hat die Regierung die Rahmenbedingungen für die Verwaltung der Zukunft geschaffen. Nun sind alle Behörden angehalten, die vollständige elektronische Akte einzuführen und somit Digitalisierungsvorhaben voranzutreiben. Verl, Werther, die Gemeinden Herzebrock-Clarholz, Langenberg, Steinhagen) und der Kreis Gütersloh schlossen sich 2019 zusammen, um ein interkommunales Prozessmanagement aufzubauen. Als Begleiter für das Projekt holte man die PICTURE GmbH an Bord. Gemeinsam stellte man das Vorhaben im Verwaltungsausschuss des Zweckverbandes vor und entwickelte einen Projektplan. Die Aufgaben- und Kostenteilung nach Einwohnerschlüssel wurden abgestimmt und die ersten Projektschritte initiiert. Schritt 2: Personalkapazität schaffen “Auch kleine Kommunen haben über 1.000 Prozesse, die betrachtet werden müssen.

Zehn Jahre 115 Behördennummer feiert Jubiläum (BS/pet) Rund zehn Millionen Anrufe allein im Jahre 2020. Zu ihrem zehnten Geburtstag ist die Bürger-Hotline 115 gefragt wie nie zu vor. Ein Grund ist sicherlich die Corona-Pandemie, die das Informationsbedürfnis der Bevölkerung in den letzten Monaten nochmals in die Höhe schnellen ließ. Gemessen an ihren heutigen Ausmaßen waren die Anfänge der 115 vergleichsweise überschaubar. Alles begann mit einem Pilotprojekt: Im Jahr 2009 startete unter Federführung des Bundes und Hessens ein zweijähriger Modellversuch, in dessen Rahmen eruiert werden sollte, ob und wie ein landesübergreifender Service für Bürgerinnen und Bürger realisiert werden könne. Den Auftakt machte die 115 seinerzeit in der Bundeshauptstadt Berlin, in Hamburg, Hessen und einigen anderen Modellkommunen; noch während der Pilotzeit stießen weitere Teilnehmer hinzu. 2011 ging die 115 schließlich in den Regelbetrieb. Zunächst war das Interesse groß: Immer mehr Behörden traten dem Serviceverbund bei. Auch kundenseitig stieg die Nachfrage, sodass im Jahr 2012 die Nummer infolge eines tariflichen Wechsels für Bürgerinnen und Bürger sogar kostenlos wurde. Danach sta­ gnierte der Prozess fürs Erste, bis im Zuge der Corona-Pandemie 2020 erneut Bewegung in die Sache kam. Seither sind auch Niedersachsen und der Freistaat Thüringen mit an Bord. Strukturell war und ist die 115 ohne Zweifel ein Großprojekt, das bundesweit seinesgleichen sucht. War anfangs eine ziemlich überschaubare Anzahl öffentlicher Hände beteiligt, sind heute rund 550 Kommunen, 14 Landesbehörden sowie die komplette Bundesverwaltung mit ihren über 88 Organen gleichberechtigt in das Projekt eingebunden; auf Landesebene steht der Anschluss lediglich im Freistaat Bayern und in Brandenburg aus. Mit dem koordinatorischen Wechsel vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) hin zur Föderalen IT-Kooperation (FITKO) erhält der zutiefst föderale Charakter der 115 bald auch ein adäquates institutionelles Gesicht. Aber das ist nur die eine Lesart. Die andere gibt Einblick in die mögliche Ausrichtung der 115 in Zukunft. Denn als operativer Arm des IT-Planungsrates steht die FITKO auch an vorderster Front bei den zahlreichen Digitalisierungsaktivitäten, die derzeit in

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Deutschland zur Modernisierung der Verwaltung beobachtet werden können. Damit stellt sich zugleich aber auch eine Frage grundsätzlicher Natur: Passt ein telefonischer Service wie die 115 überhaupt noch in eine Zeit, in der mehr und mehr digital und damit über Anlaufstellen im Internet geregelt bzw. erfragt wird?

Klares Votum für ein ­Fortbestehen Geht es nach Prof. Dr. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär beim BMI, unbedingt. Gerade die zunehmende Digitalisierung mache eine persönliche Anlaufstelle umso wichtiger: “Wovor ich persönlich warnen möchte, ist, zu glauben, mit der Digitalisierung sei die telefonische Erreichbarkeit nicht mehr so wichtig. Wenn wir wirklich nicht von der Verwaltung, sondern vom Bürger denken, dann müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen Informationen persönlich und mündlich wünschen und einem anderen Menschen mehr vertrauen als einer Internetpräsenz”, betont Krings nachdrücklich. Doch bedeute das nicht, dass alle Technologieschübe der letzten Jahre schlicht ausgeklammert würden. Auch im Falle der 115 werde digitalisiert, nur ließen die geplanten Maßnahmen den eigentlichen Produktnukleus – also die telefonische Auskunft – unberührt und stellten einen ergänzenden Service dar. So zumindest die angedachte Stoßrichtung. Schon zum Ende des Jahres soll ein entsprechendes Konzept vorliegen, sodass 2022 mit der Umsetzung begonnen werden kann. Definitiv zum künftigen Aufgebot zählt dabei etwa ein Chatbot, der aktuell mit dem Technologieberater Sopra Steria entwickelt wird. Forciert werden soll außerdem eine stärkere Verzahnung mit den Digitalisierungsaktivitäten im Rahmen der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Ein wichtiger Schritt. Denn eines dürfte klar sein: Mit Abwicklung des Onlinezugangs in der Verwaltung werden die Fragen nicht weniger, sondern lediglich andere.

Viele Kommunen wollen sich gerne aktiv mit Prozessmanagement und Digitalisierung beschäftigen, es fehlt aber gerade bei kleinen Kommunen an personellen Ressourcen”, erläutern Jennifer Oldach und Marie-Sophie Sirges, Prozessmanagerinnen bei der Stadt Versmold, die Herausforderungen. Im interkommunalen Projekt werden die personellen Ressourcen aufgeteilt. In Versmold arbeiten z. B. zwei Personen mit jeweils zehn Prozent ihrer Stelle am Projekt mit. Und in der Stadt Rheda-Wiedenbrück startete der Digitalisierungsbeauftragte Daniel Wiens mit fünf bis zehn Prozent seiner Kapazitäten und wird in der aktuellen Projektphase von seiner Kollegin Eva Mertens mit 30 Prozent ihrer Zeit unterstützt. Durch den Austausch untereinander ist der Personalaufwand somit überschaubar. Schritt 3: Den Nutzen von interkommunalem Prozessmanagement erkennen “Unser Treiberthema für die Teilnahme am Projekt war, wie bei vielen der teilnehmenden Behörden, die Digitalisierung. Uns war klar, dass wir erst Prozesse erfassen, analysieren und optimieren wollten. Gerade beim Thema Digitalisierung ergeben

sich durch die Prozessaufnahme schon Optimierungen, die umgesetzt werden sollten, bevor der Prozess digitalisiert wird. Und durch die Analysen in der PICTURE-Prozessplattform werden erste Priorisierungen für die bevorstehenden Digitalisierungsvorhaben gewonnen”, erläutert Daniel Wiens den Nutzen von Prozessbetrachtungen. Dank der gemeinsamen Prozessaufnahme im Projekt ist schnell ein interkommunales Prozessregister entstanden. Die dort hinterlegten Prozesse werden, sortiert nach Themenbereichen, von einzelnen Projektmitgliedern modelliert und den anderen Kommunalverwaltungen zur Verfügung gestellt. Durch Prozessaustausch entstehen so deutliche Arbeitserleichterungen. Schritt 4: Das Führungspersonal mit an Bord holen Auch wenn der Nutzen von Prozessmanagement in der Fachebene bekannt ist, kann es vorkommen, dass das Führungspersonal zunächst nicht von dem ProzessmanagementVorhaben vollends überzeugt ist. Die Vorstellungen in den einzelnen Ebenen klaffen häufig weit auseinander. Hier ist es besonders wichtig, die Führungsebene und den Personal-

rat frühzeitig miteinzubeziehen, um Blockaden im laufenden Projekt auszuschließen. Die Bürgermeister/-innen haben das Projekt im Verwaltungsausschuss des Zweckverbandes mit initiiert. Damit war die oberste Führungsebene bereits “an Bord”. Die PICTURE GmbH organisierte gemeinsam mit den Prozessverantwortlichen in den Kommunen dann Informationsveranstaltungen für die Führungskräfte, so konnten frühzeitig offene Fragen und Bedenken geklärt und Entlastungen für die Mitarbeitenden aufgezeigt werden. Schritt 5: Die Mitarbeitenden motivieren Nachdem die Führungskräfte und Bürgermeister/-innen hinter dem Projekt standen, war und ist die größte und gleichzeitig wichtigste Herausforderung, im weiteren Verlauf die Mitarbeitenden zu motivieren. Innerhalb des Projektteams sorgen die strukturierte, motivierende Begleitung durch den Seniorberater Hendrik Woltering (PICTURE GmbH) und der monatliche Austausch untereinander dafür, dass die Beteiligten dranbleiben und an den Prozessen weiterarbeiten. Durch die Zusammenarbeit bleibt das Projekt in Bewegung, da es gemeinsam

abgesprochene Termine gibt, in denen Zwischenergebnisse präsentiert werden. Die Ansprache der Mitarbeitenden in den beteiligten Verwaltungen erfolgt darüber hinaus auf mehreren Ebenen: • Das Marketing und die Führungskräfte sind involviert. • Erste Bereiche, die sich proaktiv beteiligt haben, sind hausinterne Multiplikatoren. • Die einfach-verständliche PICTURE-Methode baut schnell Bedenken und Einstiegshürden ab.

Die digitale Zukunft ­gestalten Mittlerweile sind in den teilnehmenden Verwaltungen verschiedene Teile der Belegschaft in das Projekt eingebunden und arbeiten teilweise eigenständig an der Optimierung ihrer Prozesse. “Für den weiteren Projektablauf wollen wir die Fachebenen verwaltungsübergreifend noch enger untereinander vernetzen. Hier waren ursprünglich drei Werkstatt-Veranstaltungen geplant, die durch Corona noch nicht umgesetzt werden konnten. In den Werkstätten soll der dienstliche Austausch in den Fachämtern gefördert werden, damit noch weitere Mehrwerte für alle Beteiligten entstehen”, freut sich Oliver Blanke vom Zweckverband infokom Gütersloh auf das weitere Projektvorgehen. *Das Autorenteam: Jennifer ­ ldach und Marie-Sophie Sirges O (beide Stadt Versmold), Daniel Wiens (Stadt Rheda-Wiedenbrück) und Oliver Blanke (infokom Gütersloh)


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ie Bundesrepublik Deutschland möchte in vielen Bereichen digitaler Vorreiter und Vorbild in der Welt sein. Eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist jedoch nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Dabei sind die Ambitionen hoch gesetzt: Auf Basis einer flächendeckenden, schnellen Breitbandversorgung und einer sicheren IT-Infrastruktur soll das digitale Deutschland eine bürger- und unternehmerfreundliche digitale Verwaltung bekommen. Im Bereich der Forschung und der IT-Sicherheit soll sich hierzulande ein Leitmarkt entwickeln und mit einheitlichen Standards sowie funktionierender Prävention sollen ein sicheres Umfeld für die Fortschritte der Industrie 4.0 und Schlüsseltechnologien geschaffen werden, angstfrei von Wirtschaftsspionage, Beeinflussung von Staaten, Sabotage und Cyber-Kriminalität. Start-ups sollen gezielter und wirkungsvoller gefördert werden. Und insgesamt soll der digitale Wandel zu einem ökologischen Wandel beitragen und die digitale Arbeitswelt sozial gerechter gestaltet werden.

Informationstechnologie/Informationssicherheit

So gelingt die digitale Verwaltung Berliner Digital Initiative legt Positionspapier vor (BS/Lukas Schäfer) Wie gelingt die Digitalisierung der Verwaltung? Diese Frage wird seit Jahren diskutiert. Fortschritte in dieser zukunftskritischen Aufgabe gelten als Indikator einer erfolgreichen Regierungsarbeit. Doch neben gesetzgeberischen Gestaltungsmaßnahmen wie dem Onlinezugangsgesetz (OZG) bedarf es weiterer Aspekte, etwa verfügbaren Know-hows in den betroffenen Organisationen oder einer belastbaren technischen sowie organisatorischen Infrastruktur.

Digitalisierungsdruck steigt Die Berliner Digital Initiative, ein produkt- und industrieneutraler Zusammenschluss mehrerer IT- und Dienstleistungsunternehmen, nimmt zu diesen Herausforderungen in ihrem Positionspapier “Digitale Verwaltung” Stellung – auch mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl. Im Zentrum stehen dabei pragmatische Ansätze, die für eine ganzheitliche Umsetzung der digitalen Transformation von Verwaltungsprozessen unmittelbar angegangen werden müssen. Das Papier übersetzt also die in den zahlreich vorhandenen Strategien der Bundesregierung formulierten Zielvorstellungen in konkrete Handlungsschritte. Denn zwischen dem nicht abstreitbaren Willen und Wirklich-

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ehörden Spiegel: Welche Standards befolgen europäische Polizeibehörden derzeit bei der forensischen Untersuchung von Mobilfunktelefonen?

Die Berliner Digital Initiative will einen neutralen Impuls zur Entwicklung einer effizienten, wirtschaftlichen und modernen öffentlichen IT-Landschaft geben. Foto: BS/metamorworks, stock.adobe.com

keit der Bundesrepublik Deutschland, Vorreiter und Vorbild für eine bürger- und unternehmerfreundliche digitale Verwaltung zu sein, identifiziert die Initiative mehrere Herausforderungen. Da ist einerseits die Ausgangslage selbst: Der Digitalisierungsdruck ist weiter gewachsen. Zahlreiche Aufgaben müssen in immer kürzerer Zeit mit immer knapperen finanziellen und personellen

Ressourcen umgesetzt werden. Gleichzeitig betreiben Staat, Land und Kommunen ihre jeweils hauseigene IT-Infrastruktur, während die notwendige IT-Konsolidierung des Bundes nur schleppend vorankommt. Synergieeffekte oder Silo-übergreifende Lösungen gibt es kaum. “Die Verwaltungen mühen sich alle an den gleichen Problemen ab, statt gemeinsam am selben Problem anzupacken.

Dieser Widerspruch muss schleunigst mit modernen Arbeitsweisen und technischen Lösungen überwunden werden”, fordert etwa Thomas Köster von der System Vertrieb Alexander GmbH (SVA), einem Mitgliedsunternehmen der Initiative.

Es braucht eine Kulturreform Erschwerend kommt hinzu, dass Angriffe auf die IT-Systeme öffentlicher Verwaltungen quantitativ und qualitativ stetig zunehmen. Die Bedrohungslage ist nach Aussage des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik angespannt,

eine Milderung ist nicht in Sicht. Andererseits mangelt es aktuell an Anreizen für echte Innovation in der öffentlichen Verwaltung: in Form von Beschaffung moderner Lösungen oder Ausprobieren innovativer Anbieter von noch nicht dagewesenen Lösungen. Stattdessen werden “alte” Sach- und Dienstleistungen ausgeschrieben, das Potenzial von Technologien geht somit verloren. “Die Verwaltung profitiert bisher nur graduell von den leistungsfähigen technischen Entwicklungen, die ihren Ursprung teilweise auch in Deutschland haben, weil zu sehr von den Bedenken, statt vom Nutzerinteresse her gedacht wird,” so Köster weiter. Die Todo-Liste ist entsprechend lang: Es brauche unter anderem eine Kulturreform mit dem Fokus Dienstleistungsorientierung, Fehlertoleranz und Innovationsgeist, eine stringente Umsetzung der Open-Data-Strategie, ebenso klare, verbindliche Rechtsrahmen für Cloud Computing oder die Transformation zu einem “One-Stop-Shop”, in dem Anliegen und Pflichten von Bürgerinnen, Bürgern und Unternehmen schnell und sicher abgewickelt werden können. Die Initiative fokussiert ihre Handlungsempfehlungen von daher auf die Aspekte Modernisierung der Verwaltungsstrukturen für öffentliche IT-Beschaffung und -Konzeption, Erhöhung der IT-Sicherheit durch Kooperation mit der Wirtschaft, Förderung der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitenden sowie die feste Verankerung von Innovationen

Komplette Ermittlungskette abdecken Mobilfunkforensik braucht ganzheitlichen Ansatz

(BS) Die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) wirkt an mehreren Forschungsvorhaben mit. Eines davon trägt den Titel “From Mobile Phones to Court” (FORMOBILE). Unter anderem soll ein europaweiter Standard zur forensischen Untersuchung von MobilfunkHummert: Es gibt derzeit telefonen entwickelt werden. Über das Projekt spricht der ZITiS-Geschäftsfeldleiter für digitale Forensik, Dr. Christian Hummert. Die Fragen stellte keinen europäischen oder in- Behörden Spiegel-Redakteur Marco Feldmann. ternationalen Standard für die Mobilfunkforensik. Dabei ist die Mobilfunkforensik ein wesentliches Element in der Beweissicherung und trägt zur Aufklärung von Straftaten bei. Zudem müssen die Ergebnisse vor Gericht Bestand haben. Im Projekt FORMOBILE haben wir 49 europäische Polizeibehörden befragt. Nur 65 Prozent gaben an, überhaupt irgendeinen Standard bei ihrer Arbeit zu befolgen. Der häufigste Standard, der zur Anwendung kommt, ist ISO 17025. Das ist ein Standard für Test- und Kalibrierlabore und damit sehr verschieden von dem Vorgang einer mobilfunkforensischen Untersuchung. Behörden Spiegel: Wie sollte der Standard aussehen? Hummert: Europa wächst immer weiter zusammen, das gilt leider auch für den Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Sicherheitsbehörden müssen sich diesen Herausforderungen stellen. Dazu ist es existenziell, dass Daten, die zum Beispiel in Frankreich aus einem Smartphone ausgelesen werden, auch von einem deutschen Gericht als Beweis akzeptiert werden. Dabei muss aber noch vieles standardisiert werden, angefangen bei Verfahrensanweisungen bis hin zu Formularen. FORMOBILE strebt einen Standard mit einer hohen Akzeptanz bei den Sicherheitsbehörden und in der Gesellschaft an. Dazu entwi-

“Es ist existenziell, dass Daten, die zum Beispiel in Frankreich aus einem Smartphone ausgelesen werden, auch von einem deutschen Gericht als Beweis akzeptiert werden”, sagt Dr. Christian Hummert, Geschäftsfeldleiter “Digitale Forensik” bei der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS). Foto: BS/ZITiS

ckeln wir zunächst ein sogenanntes CEN Workshop Agreement (CWA), das später zu einer ENoder ISO-Norm weiterentwickelt werden kann. Wir haben große Workshops mit allen beteiligten Stakeholdern abgehalten, um sicherzustellen, dass alle Interessen berücksichtigt werden. Derzeit liegt das CWA öffentlich aus und kann von jedem Bürger der EU kommentiert werden.

d) das rechtliche Rahmenwerk, in dem sich die Mobilfunkforensik bewegt. Dabei werden ganz unterschiedliche Dinge geregelt, von Kleinigkeiten wie der Verpackung und dem Transport von Spuren bis hin zur Auswahl geeigneter forensischer Werkzeuge.

Behörden Spiegel: Was regelt der Standard?

Behörden Spiegel: Die ZITiS leitet in dem Projekt ein Arbeitspaket zur Definition der Anforderungen europäischer Polizeibehörden. Welche Anforderungen stellen die Polizeien denn?

Hummert: Der neue Standard hat vier große Teile: a) Die Menschen, die mit den Geräten arbeiten, b) die Tools, die zum Einsatz kommen, c) den Prozess vom First Responder bis zum Gericht und

Hummert: Zunächst haben wir uns mit einem langen Fragebogen an die europäischen Polizeibehörden gewandt und gefragt, wie sie im Bereich der Mobilfunkforensik vorgehen und wo ihnen

der Schuh drückt. Dabei gibt es natürlich sehr verschiedene Behörden und es ist schwierig, eine hochspezialisierte Sicherheitsbehörde wie das Kriminaltechnische Institut im Bundeskriminalamt mit einer Polizeistation irgendwo in der EU zu vergleichen. Im Ergebnis gaben aber nur 52 Prozent der befragten Sicherheitsbehörden an, im Bereich der Mobilfunkforensik optimal aufgestellt zu sein.

fangreichen Ringversuch gestartet, bei dem Sets aus jeweils sechs speziell präparierten Telefonen und Wearables an die Labore verschickt wurden. Die Auswertungen haben wir dann verglichen. Im Ergebnis weicht nicht nur das Vorgehen der verschiedenen europäischen Behörden stark voneinander ab, auch in der Qualität der Auswertung fanden sich große Unterschiede. Behörden Spiegel: Und was geschah dann? Hummert: Aus den Ergebnissen von Fragebogen und Ringversuch haben wir Anforderungen an die Projektergebnisse abgleitet. Dies betrifft sowohl den Standard als auch Tools und Training. Insgesamt haben wir 164 funktionelle und nicht funktionelle Anforderungen aus den Ergebnissen herausgearbeitet. Für die technischen Tools, die im Projekt entstehen sollen, haben wir diese in technische Spezifikationen umformuliert.

Behörden Spiegel: Was für Konsequenzen haben Sie aus diesem Ergebnis gezogen?

Behörden Spiegel: Das Projekt FORMOBILE wird noch bis April kommenden Jahres gefördert. Wie soll es dann weitergehen?

Hummert: Natürlich wollten wir uns im Projekt nicht auf einen Fragebogen verlassen. Deshalb haben wir einen um-

Hummert: Die Europäische Kommission hat FORMOBILE im Rahmen des aktuellen Förderprogramms HORIZON

Behörden Spiegel / Juli 2021

in der öffentlichen Beschaffung. Notwendig hierfür sei unter anderem die Erstellung einer klaren Roadmap mit transparenten Kriterien und messbaren Zielen, die Schaffung eines BundesCISOs, die Schwerpunktsetzung E-Government in AusbildungsCurricula sowie die Einrichtung von Innovationszentren.

Zentrale Instanz notwendig Ebenso sieht die Initiative klare Vorteile in der Einrichtung eines Bundesministeriums für Digitalisierung als eine zentrale, lenkende Instanz im digitalen Transformationsprozess der Verwaltung aus. Voraussetzung für dessen Erfolg sei neben einem Minister oder einer Ministerin mit Kabinettsrang an der Spitze ein angemessenes Budget, Entscheidungskompetenz sowie ein Vetorecht ähnlich dem des Bundesministeriums der Finanzen. Ebenso – und das ist in den laufenden Diskussionen um das Digitalministerium ein neuer Aspekt – sei das Haus mit einem Ablaufdatum zu versehen: “Idealerweise ist die Aufgabe eines zukünftigen Digitalministeriums nach einer Legislaturperiode erledigt, sodass es wieder aufgelöst werden kann. Geschwindigkeit ist jetzt das entscheidende Erfolgskriterium”, wirft Dr. Christoph Baron, ebenfalls Mitglied der Initiative, ein. Eine tragende Rolle bei der Umsetzung der Ziele sieht man außerdem in der Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Schließlich verfüge insbesondere die IT- und Kommunikationstechnologie-Branche über umfangreiche Kompetenzen und langjährige Erfahrung mit der digitalen Transformation in unterschiedlichen Sektoren und Industrien auf nationaler und internationaler Ebene. Das aktuelle Positionspapier steht unter www.cyber-akademie. de/berliner-digital-initiative/ zum Download zur Verfügung.

2020 zunächst mit fast sieben Millionen Euro für drei Jahre gefördert, wofür wir sehr dankbar sind. Natürlich sind wir aber nach drei Jahren nicht einfach fertig und es gibt keine offenen Fragen in der Mobilfunkforensik mehr. Die ZITiS hat neben ihrem Engagement in FORMOBILE auch weitere interne Projekte zur Mobilfunkforensik, auch wird das Konsortium sicher nicht nach dem Ende von FORMOBILE auseinanderlaufen. FORMOBILE ist ein großes Projekt, in dem mehr als 70 Menschen arbeiten, viele davon sind junge Menschen, die ihre Doktorarbeiten im Rahmen des Projekts schreiben. Auch hat das Projekt, trotz Corona, Europa ein Stück zusammenrücken lassen. Für mich ist es jetzt zum Beispiel normal, bei bestimmten Fragen einfach einmal schnell unseren Partner in Bulgarien anzurufen. Vor FORMOBILE hätte ich das nie getan. Behörden Spiegel: Was bleibt noch zu tun? Hummert: Es ist auch nach April 2022 noch viel zu tun, wie zum Beispiel das CWA zu einem EN- oder ISO-Standard weiterzuentwickeln oder das Training weiterzuführen. Wir werden sehen, inwieweit es gegebenenfalls ein neues Förderprogramm oder andere Möglichkeiten gibt, damit das Projekt weiter vorangetrieben werden kann. FORMOBILE ist sehr erfolgreich und wurde unlängst von der Europäischen Kommission sehr erfolgreich evaluiert – diesen wichtigen Weg sollten wir auf jeden Fall weiter beschreiten.


Informationssicherheit

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m Bereich der öffentlichen Verwaltung sind MicrosoftAnwendungen kaum noch wegzudenken. Sie besitzen ein Quasi-­ Monopol. Eine Änderung des Ist-Zustands ist denkbar, aber sehr aufwendig. Die Corona-Krise hatte ihren Anteil daran – “never change a running system”. Die eigentlichen Vorteile der Krise – der Digitalisierungsschub und die damit verbundenen Systemwechsel – überforderten die langsamen Mühlen der deutschen Verwaltung, urteilt Prof. Dr. Dirk Heckmann von der Technischen Universität München. “Prinzipiell ist die lokale Nutzung einer Software aus den USA noch nicht das Problem”, erklärt Marit Hansen, die Landesbeauftragte für Datenschutz in Schleswig-Holstein. Schwierigkeiten ergäben sich aber für die Einhaltung der DatenschutzGrundverordnung (DSGVO) und der Regelungen, welche aus dem Schrems-II-Urteil des Europäischen Gerichtshof resultierten. “Das trifft vor allem dann zu, wenn US-amerikanische Unternehmen auf sensible, personenbezogene Daten zugreifen können”, so die Datenschutzexpertin. Des Weiteren erklärt sie die problematische Entwicklung der US-amerikanischen Software: “Die früheren Programme von Microsoft hatten noch keine “Nach Hause telefonieren”-Funktion. Später nahm die Software zu bestimmten Zeiten Kontakt zu den US-Servern auf, um die Lizenz zu überprüfen. Auch das geschah noch einigermaßen datenschutzfreundlich.” Spätestens mit Office 365 und Windows 10 sei ein ständiger Datenabfluss an die US-Server vorgesehen, so Hansen. Als Beispiel nannte sie neben den Telemetriedaten die Rechtschreib- und Übersetzungsfunktion: “Hier werden teilweise nicht nur einzelne Wörter, sondern der gesamte Text an die Microsoft-Server übermittelt.” In einigen Bereichen ist die Nutzung von Microsoft-Produkten bereits untersagt, so zum Bei-

Standardvertragsklauseln ungenügend Ein Schritt in die richtige Richtung, Datenübertragung an Drittländer aber weiterhin möglich (BS/Paul Schubert) Nach dem Scheitern des Safe-Harbor-Beschlusses und des EU-US-Privacy-Shields versucht die Europäische Union nun durch Standardvertragsklauseln die Übertragung personenbezogener Daten an Drittstaaten zu verhindern. Bei Datenschutzexpert(inn)en ist diese Lösung umstritten – vor allem, weil die Klauseln am Grundproblem nicht viel ändern werden. spiel an hessischen Schulen. Der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (HBDI) Alexander Roßnagel weist darauf hin, dass die Duldung von nicht datenschutzkonformen Videokonferenzsystemen (VKS) zum 31. Juli 2021 ausläuft. Dazu zählt auch die Videokonferenzfunktion von Microsoft Teams. Roßnagel bemerkt allerdings, dass das Auslaufen der Duldung nur das VKS von Microsoft Teams betrifft. Andere Funktionen von MS Teams wie die Chatfunktion oder der Austausch von Dokumenten sowie Microsoft 365 könnten im pädagogischen Bereich weiter von den Schulen genutzt werden. Bis zum Auslaufen der Frist hat das Hessische Kultusministerium zugesagt, ein landeseinheitliches, datenschutzkonformes und technisch leistungsfähiges VKS zur Verfügung zu stellen, ein Landes-VKS.

Datenschutzklauseln als zahnloser Tiger Nachdem der Safe-Harbor-Beschluss und der EU-US-PrivacyShield durch Schrems I und II kassiert wurden, versucht die Europäische Union nun mit Standardvertragsklauseln eine rechtliche Grundlage für den Einsatz nicht-europäischer Software zu schaffen. Nach Prof. Dr. Heck­ mann ist das allerdings auch nicht ausreichend: “Solche Klauseln sind nur Beruhigungspillen und stellen juristisch keine saubere Lösung dar.” Die Klauseln, – welche die Anforderungen der DSGVO und des Schrems-IIUrteils berücksichtigen sollen, wurden von der Europäischen Union erlassen, ändern jedoch grundsätzlich nichts am Problem

Schrems-III-Urteils. Selbst in diesem Punkt herrscht jedoch keine Zuversicht. So ist unklar, ob nicht doch eine Schrems-IIIEntscheidung auf Basis der neu getroffenen Standardvertragsklauseln gesprochen werden wird. Auch die Übergangsfrist ist umstritten. Bis zum 1. Januar 2023 müssen die alte Regelungen bei Behörden und Unternehmen an die neuen angepasst werden.

Ausweg Treuhand-Cloud?

Auch bei Windows 10 ist ein kontinuierlicher Datenabfluss zu den US-Servern vorgesehen. Nichtsdestotrotz nutzt der Großteil der öffentlichen Verwaltung das Betriebssystem. Ob andere Kommunen und Städte es der Stadt München nachmachen – die Stadt versucht sich seit Kurzem an einer Open-Source-Strategie –, bleibt abzuwarten. Foto: BS/Photo Mix, pixabay.com

des Datentransfers: Die USA, nicht die EU bestimmen weiter den Zugriff auf die Daten der EU-Bürger/-innen. Die Datenschutzklauseln sind nicht neu. Bereits 2010 wurden Standarddatenschutzklauseln veröffentlicht, die dann zum Vertragsbestandteil werden konnten. Auch Marit Hansen ist nicht vollends zufrieden mit der Lösung: “Zum einen müssen sie im Detail ergänzt werden. Zum anderen lösen sie das strukturelle Hindernis nicht, denn der Zugriff von Geheimdiensten auf Daten von EU-Bürger(inne)n aufgrund von nationalem Recht ohne angemessenen Rechtsschutz lässt sich damit nicht aushebeln.” Auch die Datenschutzkonferenz von Bund und Ländern (DSK) ist skeptisch, was die Wirkung der Klauseln angeht. So schätzt sie die Wahrscheinlichkeit, dass die Maßnahmen einen Zugriff

der US-Behörden auf die zu verarbeitenden Daten verhindern können, für “nur für wenige Fälle denkbar” ein. Grundsätzlich beurteilen die Expert(inn)en die Maßnahmen als einen Schritt in die richtige Richtung, verweisen aber darauf, dass auch bei der Verwendung der neuen EU-Standardvertragsklauseln eine Prüfung der Rechtslage im Drittland erforderlich sei. Wenn die Behörden des jeweiligen Drittlandes übermäßige Zugriffsrechte auf die zu verarbeitenden Daten hätten, müssten die Verantwortlichen vor der Datenübertragung weitere Maßnahmen ergreifen, um ein Schutzniveau herzustellen, wie es in den Grundsatzurteilen des EuGH gefordert werde. Vor einigen Wochen stellte Di­ dier Reynders, der EU-Justizkommissar, eines der Hauptziele der Standardvertragsklauseln klar: Die Verhinderung eines

Was tun gegen die Quantencomputer? So weit sind Quantenkryptografie und Post-Quanten-Algorithmen (BS/Oliver Wege) Derzeit wird davon ausgegangen, dass es in ca. zwanzig Jahren mit Quantencomputern möglich sein wird, die gegenwärtig verwendeten asymmetrischen Kryptoverfahren wie RSA und ECC brechen zu können. Symmetrische Verschlüsselungen (per Groover-Algorithmus) und Hashfunktionen sind weniger betroffen; hier kann man einfach die Schlüssellänge verdoppeln – in der Praxis beispielsweise von AES-128 auf AES-256 oder von SHA-256 auf SHA-512. Zusätzlich gibt es bei Letzterem mit SHA3-384 eine weitere “quantensichere” Alternative. Eine sehr wirksame Maßnahme gegen Angriffe durch Quantencomputer findet man in der Quantentheorie selbst. So kann man hier einen theoretisch nachweisbaren, sicheren Schlüsselaustausch (QuantumKey-Distribution – QKD) realisieren, um dann mittels klassischer symmetrischer Verschlüsselung weiterhin geheime Nachrichten auszutauschen. Diese Quantenkryptografie basiert auf der Heisenbergschen Unschärferelation. Im Bereich kleinster Teilchen ist es danach unmöglich, die Teilcheneigenschaften genau zu vermessen, da die Messung an sich bereits das Messergebnis beeinflusst. Wird also der Schlüsselaustausch bei der Quantenkryptografie abgehört, erfolgt durch die “Zwischen-Messung” des Angreifers bereits eine Änderung der Teilcheneigenschaften und der Angriff wird somit erkennbar (No-Cloning-Theorem).

Quantenkryptografie mit begrenzter Reichweite Im Jahr 2004 kam die Quantenkryptografie erstmalig zum Einsatz; vom Wiener Rathaus zu einer in der Stadt ansässigen Bank wurde ein entsprechend verschlüsselter Scheck übertragen. Als weiteres Beispiel wäre die Datenübertragung aus Wahllokalen bei den Schweizer Parlamentswahlen im Jahr 2007 zu nennen. Allerdings ist die Reichweite der Quantenkrypto-

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grafie aufgrund der gegenwärtig verwendeten Glasfasertechnologie wegen deren Absorptionsverhalten technisch auf maximal 200 Kilometer beschränkt. Verfügbare Systeme schaffen 20-50 Kilometer, dann muss ein Signalverstärker zwischengeschaltet werden, der aber dann die Verschlüsselung aufbricht. Sogenannte Quantenrepeater zur verlustfreien Weiterleitung existieren noch nicht. Auch über Freistrahlverbindungen sind aktuell maximal 20 Kilometer überbrückbar, allerdings dann nur mit einer mageren Austauschrate von sechs Bit pro Sekunde. Um längere Strecken zu überbrücken, werden QKD-Satelliten ins All geschickt. China konnte damit bereits einen Quantenkanal zwischen zwei 12.000 Kilometer entfernten Bodenstationen per Laser realisieren. Wenn allerdings die Verschlüsselungspartner nicht direkt in diesen Bodenstationen sitzen, tritt wieder die Problematik des Verschlüsselungsaufbruchs auf. Auch kann die Satellitenkommunikation leicht gestört werden.

Alternative: resistente ­Algorithmen Aufgrund der aufwendigen Technik wird die Quantenkryptografie auf absehbare Zeit nicht die verschlüsselte Internetkommunikation ersetzen können. Deshalb wurde die Post-Quanten-Kryptografie als weitere Antwort der

Wissenschaft entwickelt. Dabei werden hochkomplexe Verfahren aus der höheren Mathematik ausgesucht, die sowohl gegen Angriffe mittels Quantencomputern als auch gegen Angriffe in der klassischen Computertechnik resistent sind. Welcher allerdings der “richtige” Post-Quanten-Algorithmus ist, hängt stark vom Einsatzfall ab. In dem bis 2022 laufenden Wettbewerb der amerikanischen Standardisierungsorganisation NIST wurden zunächst zur Schlüsseleinigung drei gitterbasierende und ein auf der Kodierungstheorie basiertes Verfahren (Classic McEliece) ausgewählt. Letzteres beruht auf dem Einschleusen von Fehlern in den öffentlichen Schlüssel. Es ist aber aufgrund des extrem großen Schlüssels für das Internet wohl nicht geeignet, erzeugt es doch nur sehr kurze Chiffrate. Die gitterbasierenden Verfahren (Crystals-Kyber, NTRU, SABER) beruhen dagegen auf dem Finden des kürzesten Vektors im mehrdimensionalen Gitterraum. Bei Sig­n aturverfahren haben ebenfalls zwei gitterbasierende Verfahren (Crystals-Dilithium, FALCON) die Nase vorn. Zusätzlich wurde das Verfahren Rainbow aus der Klasse der multivariaten Kryptografie ausgewählt, das auf quadratischen Gleichungssystemen mit mehreren Variablen basiert. Aufgrund des ebenfalls großen

Schlüssels ist es auch nur für Anwendungen geeignet, die selten den Schlüssel austauschen, hat aber auf anderen Gebieten Vorteile. Um wirklich sicher zu sein, wurden von der NIST zusätzlich acht weitere “Back-up-Verfahren” ausgewählt, die zum Teil auf anderen mathematischen Problemstellungen (z. B. isogeniebasierender Kryptografie) beruhen. Praktisch hat Google bereits jetzt seinen gitterbasierenden Post-QuantenAlgorithmus “New Hope” in die Canary-Version seines ChromeBrowsers eingebaut, der “nur” mit der fünffachen Schlüsselgröße gegenüber klassischen Verfahren auskommt. Dieser Testalgorithmus ist zusätzlich zu einem ebenfalls enthaltenen klassischen Verfahren implementiert. Diese Hybrid-Strategie entspricht den Empfehlungen, die das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Anfang 2020 veröffentlicht hat. Auch hier wird die Gefahr gesehen, dass verschlüsselte Informationen bereits jetzt auf Vorrat gesammelt und später mit Quantencomputern entschlüsselt werden. Im Vorgriff auf eine entsprechende technische Richtlinie rät es zudem zur Implementation sicher einzustufender Verfahren, und zwar hier ebenfalls zu Classic McEliece und dem gitterbasierenden NIST-Ersatzkandidaten FrodoKEM.

Um einen Datentransfer zu verhindern, hält Hansen den Ansatz von Treuhand-Clouds für vielversprechend, die einen Datenzugriff aus Drittstaaten verhindern könnten. Das gescheiterte Projekt Microsoft Cloud Deutschland – welches 2018 eingestellt wurde, weil es nur schlecht mit anderweitigen Cloud-Angeboten integrierbar war – zeigt allerdings die Schwierigkeiten dieser Zusammenarbeit. Auch Heckmann ist skeptisch: “Treuhand-Clouds funktionieren in der Regel auch nicht, weil die Mutterkonzerne dann zur Verantwortung gezogen werden”. Eine bessere Lösung stelle das Projekt Phoenix von Dataport dar.

Hansen erwartet von derartigen Open-Source-Anwendungen eine Allroundlösung: “Mit der Videotelefonie, dem Messenger und weiteren Funktionen hat man in diesem Projekt kein Stückwerk, bei dem man sich mühsam kümmern muss, sondern die Teile werden aufeinander abstimmt, wobei natürlich Datenabflüsse konsequent verhindert werden müssen. In Schleswig-Holstein werden solche Anwendungen in den nächsten Jahren im öffentlichen Sektor implementiert und zunächst mit proprietärer Software parallel laufen.”

Datenschutzverstöße nicht konsequent geahndet Ein weiterer Diskussionspunkt ist das Aufdecken und die Sanktionierung von Datenschutzverletzungen nach der DSGVO. Heckmann spricht hier von einer “Ankündigungspolitik” und urteilt: “Wenn es konsequent geahndet werden würde, müsste es flächendeckend angewandt werden.” Marit Han­ sen stellt klar, dass jeder Beschwerde nachgegangen wird: “Wenn sich dann herausstellt, dass eine unrechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten stattfindet, dann muss eine Aufsichtsbehörde auch aktiv werden und im Extremfall eine Untersagung anordnen. Bußgeld gibt es im öffentlichen Sektor nicht.” Zu einer Untersagung ist es in Schleswig-Holstein – im Bereich Microsoft 365 – allerdings noch nicht gekommen.

Sorgloser Umgang Internetnutzer mit schlechtem Sicherheitsverhalten (BS/Matthias Lorenz) Der DsiN-Sicherheitsindex 2021 stellt über der Hälfte der Internetnutzer/-innen kein gutes Zeugnis aus. Mehr als 59 Prozent gehen zu nachlässig mit Schutzvorkehrungen bei OnlineDiensten um, wie der Verein Deutschland sicher im Netz (DsiN) in einer Studie im Rahmen seines Jahreskongresses bekannt gab. Folgt man den Ergebnissen der Studie, gehen Menschen mit Online-Diensten so sorglos um wie nie zuvor: “Insgesamt hat sich der Indexwert für das Sicherheitsverhalten um drei Punkte verschlechtert – er erreicht den niedrigsten Wert seit der Studienerhebung.” erklärt Dr. Michael Littger, Geschäftsführer von DsiN. Nur jeder Zweite prüfe demnach die Zugriffsrechte seiner Apps (50 Prozent), nur jeder Dritte nutze Passwortmanager (31 Prozent) und nur jeder vierte Nutzer (27,1 Prozent) verschlüssele die eigene Festplatte. Laut Studie habe sich zudem der Unterschied zwischen Wissen und Verhalten bei den Verbraucher(inne)n weiter vergrößert. Während das digitale Sicherheitswissen mit einem Indexwert von 90,1 Punkten einen neuen Höchstwert erreiche, lasse das Sicherheitsverhalten nach. “Wir sehen, dass das vorhandene Wissen zu selten in die Praxis umgesetzt wird. Hier müssen wir ansetzen und Menschen zum sicheren Handeln ermuntern” fordert Prof. Dr. Christian Kas­ trop, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV).

42,9 Prozent und sei damit im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent gewachsen. “Gutgläubige wissen zwar in der Theorie eine Menge über Sicherheit, es führt aber zu keinem höheren Schutzniveau im Online-Verhalten”, sagt der DsiN-Vorstandsvorsitzende Thomas Tschersich.

Aufklärung gefragt Laut Studie wünsche sich fast zwei Drittel (64,4 Prozent) mehr Informationsangebote im Internet, mehr als die Hälfte (54,3 Prozent) offline. 51,9 Prozent äußerten außerdem das Bedürfnis nach mehr professionellen Ansprechpartnern zum Thema IT-Sicherheit. Für eine deutliche Mehrheit von 62,8 Prozent sollten Informationen zudem verständlicher sein. Dieses verstärkte Aufklärungsbedürfnis zeige sich über alle Nutzergruppen hinweg auch beim Thema digitale Identitäten. Ganze 38,7 Prozent aller Internetnutzenden in Deutschland hätten sich mit diesem Thema noch gar nicht beschäftigt. Demgegenüber stünden lediglich drei Prozent, die sich thematisch bereits damit befasst hätten.

Mehr Gutgläubige

Verein will Digitalführerschein etablieren “Das nachlassende Sicher-

heitsverhalten stellt damit ein wachsendes Sicherheitsrisiko dar”, hebt Geschäftsführer Littger hervor. Der Sicherheitsindex stagniere insgesamt bei 62,7 Punkten auf mäßigem Niveau. Gerade das Sicherheitsgefälle zwischen verschiedenen Nutzergruppen bereite Sorge: Die Sicherheitslage der Außenstehenden und Fatalisten liege in diesem Jahr rund 20 Indexpunkte unter der Gruppe der Souveränen. Auch die Nutzergruppe der Gutgläubigen bleibe 13 Punkte hinter den souveränen Nutzern im Netz zurück. Letztere Gruppe komme inzwischen auf einen Wert von

Als Reaktion auf das wachsende Aufklärungsbedürfnis kündigte Tschersich auf dem Jahreskongress ein neues Zertifikat für breite Bevölkerungsteile an. “Nach dem Vorbild Finnlands wollen wir in Deutschland allen Menschen ein Angebot machen, Digitalkompetenzen kostenfrei zu erwerben”, so Tschersich. Vergleichbar mit Sprachzertifikaten schaffe das neue Weiterbildungsangebot eine bundesweit vergleichbare Grundlage für Digitalkompetenzen. Das Angebot wende sich ab Januar 2022 an alle Bundesbürger/innen im privaten und beruflichen Umfeld.


Informationssicherheit

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Wieder auf die Kleinen

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ie aktivsten kriminellen Hacker-Gruppen hatten sich in den letzten Jahren besonders auf die “Großwildjagd” mit gezielt platzierter Ransomware und enormen Lösegeldforderungen spezialisiert. Nun schlägt das Pendel zurück. Denn es häufen sich wieder Streuangriffe auf kleine und mittlere Organisationen. Das berichtete Lukas Knorr, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Zentralstelle Cybercrime Bayern, auf dem Münchner Cyber Dialog, den die Cyber Akademie im Juni digital veranstaltet hatte. Damit würden die Täter an Strategien anknüpfen, mit denen um 2015 der Siegeszug von Ransomware eingeläutet worden war. “Damals waren Angriffe mit Ransomware ein Massendelikt und die geforderten Lösegelder waren vergleichsweise gering, sodass auch Privatpersonen oder kleine Unternehmen häufig bereit waren, zu zahlen.” Dieses Vorgehen mache jetzt wieder Schule, auch weil mittlerweile etliche Gruppierungen in dem kriminellen Geschäftsfeld unterwegs seien und den Markt unter sich aufteilten.

E-Mails im Visier Fast gänzlich verschwunden sei dagegen die jahrelang populäre Betrugsmasche CEO-Fraud, bei der die Täter Mitarbeiter im Namen ihrer Vorgesetzten zur Zahlung hoher Geldbeträge auf ausländische Konten veranlasst hatten. Knorr geht davon aus, dass sich die Tricks und psychologischen Kniffe der Angreifer inzwischen herumgesprochen haben. Allerdings seien neue Betrugsmaschen auf dem Vormarsch. So habe es Fälle gegeben, in denen Kriminelle in die E-Mail-Kommunikation von Unternehmen eingegriffen hätten, um übermittelte Rechnungsinformationen für eigentlich legitime Zahlungen zu manipulieren und Gelder auf die eigenen Konten zu

Behörden Spiegel / Juli 2021

KMU im Visier der Cyber-Kriminellen (BS/Benjamin Stiebel) Seit Jahren gilt die Lösegelderpressung nach der böswilligen Verschlüsselung von Systemen mit Ransomware als IT-Gefahr Nummer eins. Besonders auf große Organisationen haben sich die Cyber-Kriminellen mittlerweile eingeschossen und erpressen Bitcoin-Beträge in Millionenhöhe. Zuletzt griffen sie auch vermehrt Betreiber Kritischer Infrastrukturen an und verursachten Versorgungsengpässe, so den Ausfall einer Öl-Pipeline in den USA und des staatlichen Gesundheitsdienstes in Irland (siehe Behörden Spiegel Juni 2021, Seite 38). Gleichzeitig ist in jüngster Zeit der Trend zu erkennen, dass auch vermehrt kleine Unternehmen und Einrichtungen angegriffen werden. Für eine solide Cyber-Abwehr und ein funktionierendes Notfallmanagement fehlt es gerade dort häufig an Geld, Zeit und Expertise. Unterstützung gibt es unter anderem von Polizei- und anderen Sicherheitsbehörden. Bei der Zusammenarbeit ist aber noch Luft nach oben. lenken. “Dazu müssen die Täter noch nicht einmal die IT des zahlenden Unternehmens angreifen. Ein Zugriff auf schlecht geschützte Mail-Server ausländischer Geschäftspartner reicht aus”, so der Oberstaatanwalt. Und solche Zugriffe habe es im Rahmen des Hafnium-Exploits weltweit tausendfach gegeben. Viele Organisationen hätten versäumt, rechtzeitig die Sicherheits-Updates für die angreifbaren MicrosoftExchange-Server zu installieren. Knorr warnt: “Auch wenn Ihr Mail-Server durch einen professionellen IT-Dienstleister gewartet wird, sind Sie nicht unbedingt auf der sicheren Seite. Auch viele Dienstleister hatten Probleme, rechtzeitig zu patchen.”

Vieles im Dunkeln Die Beobachtungen von Staatsanwaltschaften und Polizei bilden nur einen geringfügigen Teil des Problems ab. So erfasste das Bundeskriminalamt im Jahr 2020 rund 108.500 Cyber-Angriffe auf Unternehmen – immerhin acht Prozent mehr als im Vorjahr. Allerdings ist der Anteil der regis­ trierten Straftaten in dem Bereich besonders gering. Manche Experten gehen von einem Dunkelfeld von 80 bis 90 Prozent aus. Das liegt einerseits daran, dass es sich aufgrund von technischen Sicherheitslösungen häufig bei Taten im Versuchsstadium handelt, die von Anwendern und

Kriminelle Gruppierungen schössen sich mit Ransomware wieder verstärkt auf kleinere Organisationen ein, sagt Oberstaatsanwalt Lukas Knorr. Screenshot: BS/Cyber Akademie

Organisationen nicht bemerkt werden. Dazu kommt, dass die Entwendung von Identitätsdaten oder sensiblen Geschäftsdaten häufig unter dem Radar bleibt. Denn anders als beim Diebstahl von physischen Gütern können digitale Güter kopiert werden und bleiben unverändert zurück. Ein weiterer Grund für ein hohes Dunkelfeld liegt im Umgang der Betroffenen mit den Vorfällen, wie Peter-Michael Kessow, Geschäftsführer des German Competence Centre against Cyber Crime e. V. (G4C) deutlich macht: “Viele Unternehmen erstatten bei einer erfolgreichen Cyber-Attacke keine Anzeige, weil sie den Image- und Vertrauensverlust ihrer Kundinnen und Kunden fürchten.” Gerade bei

Ransomware-Angriffen sei das zu beobachten. Häufig gingen Unternehmen aus Angst vor dem Bekanntwerden des Angriffs auf die Forderung ein, ohne sich an die zuständige Polizeibehörde zu wenden. Es ergibt sich ein Teufelskreis. Ohne Anzeige bleibt auch die Ermittlung durch Polizeibehörden aus. Die Geschäftsmodelle der Kriminellen werden gestärkt und aufgrund des fehlenden Strafverfolgungsdrucks finden sich immer mehr Nachahmer, die hier risikoarme und lukrative Betätigungsfelder sehen. Die Angriffe nehmen weiter zu und die Schäden für die Wirtschaft steigen weiter. Entsprechend werden die Behörden nicht müde zu mahnen, dass jeder Vorfall unbedingt zur

Anzeige gebracht werden müsse. Der Lebenswirklichkeit betroffener Unternehmen entspricht das jedoch nicht. Wenn keine Backups der verschlüsselten Systeme eingespielt werden können, heißt es nicht selten zahlen oder in die Insolvenz gehen. Abseits der offiziellen Empfehlungen setzt sich inzwischen daher eine etwas einfühlsamere Haltung durch. “Wir sind klar gegen die Zahlung von Lösegeldern”, betont Knorr. “Aber wenn ein Unternehmen entschlossen ist, zu zahlen, unterbinden wir das nicht und stehen weiter auch als Berater zur Seite.” Polizei und Staatsanwaltschaften wollten Vertrauen aufbauen. Denn noch immer hätten viele Unternehmen negative Vorstellungen im Kopf: Polizeiwagen, die mit Blaulicht vorführen und reihenweise Rechner und Server aus dem Gebäude trügen. Folge: schädliche Schlagzeilen und Betriebsstopp. Gegen solche Vorurteile kämpfe die Polizei seit Langem an. “Eigentlich verstehen wir uns bei Cyber Crime inzwi-

schen eher als eine Art Feuerwehr. Wir helfen und beraten die Betroffenen bei der Bewältigung von Vorfällen”, sagt Peter Vahrenhorst, Kriminalhauptkommissar beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Natürlich sei es Ziel jedes Polizisten, Täter zu überführen. Genauso wichtig seien aber die Unterstützung bei der IT-Forensik und das Krisenmanagement.

Zusammenarbeit vorbereiten Fruchtbare Kooperation beruht auf Gegenseitigkeit. Dirk Fleischer, CISO der Dürr AG, empfiehlt daher, das Zusammenspiel mit den Behörden im Rahmen der Prävention mit zu bedenken. So könnten Kontakte schon vorab aufgebaut werden, “die Zusammenarbeit können Sie anhand einer Entscheidungsmatrix vorstrukturieren, um Prozesse im Ernstfall zu beschleunigen”. Im gegenseitigen Austausch könnten zudem Voraussetzungen für ein effektives Miteinander abgestimmt werden: “Forensische Analysen nach einem Vorfall sind nur erfolgversprechend, wenn die IT auch forensisch vorbereitet ist, also zum Beispiel entscheidende Logfiles angelegt werden”, so Fleischer. Er wünscht sich für solche praktischen Belange mehr konkrete Unterstützung seitens der Behörden. Praktische Hilfen seien viel zielführender als immer neue Listen mit allgemeinen Sicherheitstipps oder Cyber-Sicherheitsstrategien, sagt der Unternehmens-CISO.

MCD 2021 Auf dem Münchner Cyber Dialog drehte sich in diesem Jahr alles um den gemeinsamen Kampf gegen Cyber-Kriminalität. Unterstützt wurde die Cyber Akademie dabei von den Verbänden BVMW, BDK sowie DsiN und den Partnern Cybereason, Crowdstrike und NCP. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung findet sich in der Mediathek von Digitaler Staat Online unter: www.digitaler-staat.online/mediathek/.

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Berlin und Bonn / Juli 2021

Härter gegen Antisemitismus vorgehen

KNAPP Verbindungsbüro eingerichtet

Strafen sollen verschärft und Rechtsrahmen erweitert werden

(BS/Marco Feldmann) Die Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern wollen härter gegen antisemitische Handlungen vorgehen. Es bestehe die Notwendigkeit, die vorhan- (BS/bk) Die Johanniter-Undenen Regelungen und den Strafrahmen bei derartigen Taten anzupassen. Dabei geht es unter anderem um die Verschärfung der Strafen für Volksverhetzung und Landfriedensbruch, fall-Hilfe (JUH) hat ein Verbinder sich gegen öffentliche Gebäude, Liegenschaften und Einrichtungen von Religionsgemeinschaften richtet. dungsbüro beim Bundesamt Zudem sollen mögliche Gesetzesanpassungen geprüft werden, wonach Amtsträger, die in geschlossenen Telekommunikationsgruppen rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Inhalte in Zusammenhang mit der Dienstausübung austauschen, strafrechtlich belangt werden können. Dazu sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz (IMK) und baden-württembergische Ressortchef Thomas Strobl (CDU): “Wir sind auf keinem Auge blind. Auch wenn die ganz überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes sich in ihrer täglichen Arbeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einsetzt und ganz fest auf dem Boden unserer Werte steht, so müssen wir uns gleichwohl damit beschäftigen, dass in letzter Zeit vermehrt Fälle aufgedeckt wurden, in denen durch Beamtinnen und Beamte in geschlossenen Kommunikationsgruppen inakzeptable Inhalte ausgetauscht wurden.” Mit Blick auf das Vorgehen gegen Verschwörungsideologien wurde eine Arbeitsgruppe beauftragt, das Sonderlagebild in diesem Bereich zur Herbstsitzung der IMK fortzuschreiben.

PKS präzisieren Des Weiteren wurde vereinbart, dass frauenfeindlich motivierte Straftaten in den polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystemen exakter erfasst und in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) spezifisch ausgewiesen werden sollen. Auch bei politisch motivierter Kriminalität soll die PKS laut Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der aller Wahrscheinlichkeit letztmalig an einer IMK teilnahm, genauer werden. Dies soll durch eine präzisere Zuordnung von Taten erfolgen,

Im Kampf gegen Antisemitismus sollen im Strafgesetzbuch verankerte Strafrahmen für bestimmte Delikte erhöht werden. Außerdem ist über gesetzgeberische Ver- und Nachschärfungen nachzudenken. Das allein hilft allerdings nicht gegen Antisemitismus. Hier sind alle gesellschaftlichen Akteure zum Handeln aufgerufen.

deren Motivation nicht zu ermitteln ist. Momentan werden solche Delikte oftmals noch per se der rechtsmotivierten Kriminalität zugeordnet. In Niedersachsen und Baden-Württemberg sei man hier allerdings schon weiter, so Strobl und der Hannoveraner Ressortchef Boris Pistorius, der zugleich Sprecher der sozialdemokratisch geführten “A-Länder” ist. Kritisch sahen die Länder, trotz einer ansonsten sehr harmonisch verlaufenden Tagung mit viel Einvernehmen, laut Pistorius die eigentlich vorgesehene Novelle des Bundespolizeigesetzes. Diese hätte zahlreiche neue

Foto: BS/MQ-Illustrations, stock.adobe.com

Kompetenzen für die Bundespolizei enthalten, durch die stark in Länderbefugnisse eingegriffen worden wäre. Das galt zum Beispiel mit Blick auf die Ausweitung der Zuständigkeit der Bundespolizei auf Verbrechens­ tatbestände oder hinsichtlich der gekorenen Zuständigkeit. Im Rahmen dieses neu vorgesehenen Instruments hätte die zuständige Staatsanwaltschaft Ermittlungen, die aufgrund eines Sachverhalts durch unterschiedliche Behörden geführt werden, bei einer Behörde bündeln können. Die Novellierung scheiterte jedoch im Bundesrat. Die Länder

fordern darüber hinaus ihre Einbindung in das Kontrollgremium der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Dort sind bislang nur Mitglieder des Europäischen Parlaments vertreten.

Kompetenzzentrum geplant Bezüglich des Pandemie- und Krisenmanagements sehen die IMK-Mitglieder Handlungsbedarf. Es brauche ein ganzheitliches Bund-Länder-Krisenmanagement. Dazu müsse die Aufbauund Ablauforganisation des Krisenmanagements vereinheitlicht und gestärkt werden. Es komme

darauf an, die Schnittstelle zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den beteiligten Ressorts zu verbessern. Deshalb soll die Schaffung eines echten Bund-Länder-Kompetenzzentrums für Krisenmanagement geprüft werden. Das Konzept hierzu solle spätestens bis zur nächsten IMK, die Anfang Dezember in Stuttgart stattfindet, stehen, kündigte Strobl an. Künftig müsse im Mittelpunkt stehen, wie Krisen gelöst würden und nicht wer sie löse. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) weiter gestärkt werden muss, stehe hier “im Zentrum der Überlegungen”, so Strobl. Dieses werde gemeinsam mit den Ländern “mit Leben gefüllt”, kündigte Bundesinnenminister Seehofer an. Ob das bestehende Gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) im BBK Nukleus für die neu geplante Einrichtung wird, blieb unklar. Definitiv geplant ist der Aufbau eines intelligenten, grenzübergreifenden und internationalen Frühwarnsystems. Dieses soll mit einem 360-Grad-Lagebild wie ein ganzheitliches Radargerät funktionieren. Auch müsse die Ressourcenvorhaltung von Staat und Privatwirtschaft neu aufgestellt werden. Zudem komme es darauf an, dass sich Europa beim Krisenmanagement stärker als bislang vernetze. Ob dieses ambitionierte Programm tatsächlich umgesetzt werden kann, bleibt mit Blick auf die in der IMK gesammelten Erfahrungen mit einem neuen Musterpolizeigesetz abzuwarten. Denn dieses kam trotz langer Diskussionen nicht zustande und ist nun politisch tot. Optimistisch stimmen allerdings die ersten Reformen zur Stellung und Stärkung des BBK.

für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eingerichtet. Damit folgte die Hilfsorganisation dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) und dem Malteser Hilfsdienst (MHD) bei der Einrichtung der Büros, die im Zuge der Neuausrichtung des BBK vorgeschlagen wurden. Nils Kirner wird das Büro für die JUH beim Bundesamt beziehen. Der Johanniter wird beratend beim BBK tätig sein. Die Themen bei der Zusammenarbeit werden unter anderem der Aufbau des Gemeinsamen Kompetenzzen­ trums Bevölkerungsschutz, die Weiterentwicklung des Bevölkerungsschutzes, die Verbesserung der Melde- und Informationswege zwischen den Beteiligten und die Stärkung des Ehrenamtes sein.

WIWeB gewinnt Innovationspreis (BS/df) Das Wehrwissenschaftliche Institut für Werk- und Betriebsstoffe (WIWeB) der Bundeswehr hat mit seinem 3D-Körperscanner den Innovationspreis der BWI gewonnen. Mit diesem 3D-Körperscanner soll der Umfang der Soldatinnen und Soldaten erfasst und in die passenden Kleidergrößen umgewandelt werden, sodass die jeweils wirklich diesem Körperbereich passende Bekleidung zur Verfügung gestellt wird. Das BAAINBw, dem das WIWeB untersteht, kommentierte auf Twitter: “Glückwunsch! Ein Team des WIWeB gewinnt beim Innovationspreis der @bwi_it. Mit einem 3D-Körperscanner sollen künftige Soldaten und Soldatinnen bei der Musterung vermessen werden. Bei Dienstantritt liegt die passende Ausrüstung dann auf Stube.” Mit dem Preis stehen nun die Zeichen gut für eine baldige Einführung in der Bundeswehr.

Beschaffertage 2021

10.–11. November 2021, Bonn

Eine Veranstaltung des

Fachliche Leitung

Weitere Informationen sowie Online-Anmeldemöglichkeit unter: www.bos-beschaffertage.de www.bos-beschaffertage.de


Innere Sicherheit

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ehörden Spiegel: Polizei 2020 ist nach eigenem Verständnis weit mehr als ein IT-Vorhaben. Worauf zielt denn dann diese umfassende Neuorientierung?

Holger Gadorosi: Die Innenminister haben sich 2018 darauf verständigt, ein gemeinsames polizeiliches Informationswesen einzuführen, das die Verfügbarkeit aller für die Aufgabenerledigung notwendigen und erlaubten Informationen zu jeder Zeit an jedem Ort sicherstellen soll. Gleichzeitig sollen der gesetzlich geforderte Datenschutz gestärkt und die Wirtschaftlichkeit des Informationsmanagements erhöht werden. Da setzt das Programm 2020 an: Gedanklich wollen wir eine Revolution des polizeilichen Informationsmanagements. Es reicht hier nicht, einzelne veraltete Systeme auszutauschen, um die Polizei organisatorisch wie technisch für die Zukunft auszustatten. Vielmehr muss das Informationsmanagement der Polizeien als Ganzes umgestellt werden. Im Programm Polizei 2020 betrachten wir nicht einzelne Expertensysteme, sondern die Polizeiarbeit insgesamt und das Zusammenspiel aller Faktoren. Aber wir wollen diese revolutionäre Umsetzung in evolutionären Schritten an den Markt beziehungsweise an den Mann und an die Frau bringen. Die Nutzerinnen und Nutzer stehen im Mittelpunkt und die IT tritt als unterstützender Dienstleister auf, begleitet von entsprechenden organisatorischen Maßnahmen. Wir haben mit dem fachlichen Kompetenzcenter eine Einheit eingerichtet, in der über 100 Polizistinnen und Polizisten zusammenarbeiten, um die Fachlichkeit zu definieren und entsprechende Projekte aufzusetzen und zu koordinieren. Auch das ist ein Novum. Da arbeiten wir mit allen Länder- und Bundesbehörden, die am Programm beteiligt sind, zusammen. Wenn dann ein Thema identifiziert ist, wird es von einem der Teilnehmer federführend weiterbearbeitet und von uns allen gemeinsam

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as verlangt Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU). Er betont: “Extremisten fordern unsere Demokratie auf vielen Ebenen heraus. Dafür nutzen sie insbesondere das Internet.” Dort wollten sie auch ihren Nachwuchs ködern. “Gesellschaft, Politik und die Sicherheitsbehörden müssen sich dem stellen”, so der Potsdamer Ressortchef. Für besonders wichtig hält er in diesem Zusammenhang Aufklärung über und Sensibilisierung für die drohenden Gefahren. Das gelte insbesondere für Kinder und Jugendliche. Hier helfe vor allem eine Stärkung der Medienkompetenz, die durch Lehrerinnen und Lehrer erfolgen müsse.

Verfassungsschützer warnen Auch der Leiter des märkischen Verfassungsschutzes, Jörg Müller, warnt vor Rechtsextremisten. Er sagt: “Rechtsextremisten arbeiten an einer Entgrenzung ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie.” Dieses gelte in zweierlei Hinsicht. Einerseits nehme die Hemmungslosigkeit zu, mit der im Internet rechtsextremistischer Hass und fremdenfeindliche Ideologien verbreitet würden. Zugleich arbeiteten Verfassungsfeinde daran, die klaren Grenzen zwischen dem extremistischen und dem demokratischen Spektrum schrittweise auszuhöhlen. “Für diese Entwicklung, die wir als Entgrenzung des Rechtsextremismus bezeichnen, müssen wir die Gesellschaft noch stärker sensibilisieren”, verlangte Müller. Gegen Rechts könnten die Verfassungsschutzbehörden nur in Kooperation mit der Zivilgesell-

Behörden Spiegel / Juli 2021

Polizei 2020: phasenweise Umsetzung Gedanklich revolutionär, aber evolutionär in der Umsetzung (BS) Im November 2018 einigten sich die Innenminister von Bund und Ländern im Rahmen der Saarbrücker Agenda darauf, das Informationsmanagement der Polizeien komplett neu aufzusetzen. Zur Umsetzung wurde Anfang 2018 das Bund-Länder-Programm Polizei 2020 mit Sitz im BKA installiert. Holger Gadorosi ist dort seit September 2020 Gesamtprojektleiter. Die Fragen stellte Dr. Barbara Held. synchronisiert und so abgebildet, dass es für alle anderen nutzbar ist. Behörden Spiegel: Die geplante IT-Architektur beruht auf einem gemeinsamen “Datenhaus”. Was wird das ändern? Gadorosi: Das Datenhaus ist das zentrale Element unseres Ansatzes. Ohne dieses Datenhaus kann das Programm nicht umgesetzt werden. Derzeit sind wir so aufgestellt, dass jeder Teilnehmer im polizeilichen Verbund seine “Landesdaten” hat, die er bei sich speichert. Diese gehen nirgendwo hin, solange sie nicht Relevanz für den Verbund oder die internationale Ebene erlangen. Seine Landesdaten hat er angereichert durch eine Kopie der für ihn relevanten Verbunddaten. Wenn also ein “Gadorosi” von einem Teilnehmer bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben wird, dann wird dies über das BKA an alle Teilnehmer verteilt. Alle haben danach diesen “Gadorosi” redundant gespeichert. Wenn dann im Nachhinein Daten geändert werden, bekommen es die Teilnehmer meistens mit, aber nicht immer. Daneben haben wir aufgrund der gesetzlich auferlegten Zweckbindung der Datenvorhaltung die Datenwelt in viele kleine DatenSilos aufgeteilt: Ein Datum darf nur für den Zweck verwandt werden, für den es erhoben wurde. Das ist in der heutigen Polizeiwelt auch physikalisch abgebildet. Der neue Ansatz von Polizei 2020 bedeutet, dass ein Datum nur noch einmal gespeichert wird, völlig unabhängig von seiner Relevanz. Allerdings kann es im Rahmen der weiteren Entwicklung z. B. als verbundrelevant qualifiziert und mit zusätzlichen Informationen

versehen werden. Das heißt, wir werden in Zukunft weder Datentransporte noch -transformationen zwischen unterschiedlichen Silos haben. Das Datum liegt im Datenhaus und wird ausschließlich dort bearbeitet. Damit ist sichergestellt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer auf dem aktuellen Datum arbeiten. Gleichzeitig bietet das Datenhaus all die notwendigen Funktionalitäten und Dienste an, die zu datenschutzkonformer Bearbeitung und Analyse nötig sind. Behörden Spiegel: Und welche Rolle spielen künftig Lösungen, die im Kontext von Polizei 2020 bereits in den Wirkbetrieb gegangen sind oder gehen, wie die einheitliche Fallbearbeitung (eFBS) oder die Interimsvorgangsbearbeitungssysteme (iVBS)? Gadorosi: Wir haben bewusst den Terminus “Interims-VBS” gewählt, weil es sich um Übergangslösungen handelt. Wenn das Datenhaus in seiner vollen Breite steht, sprich die Daten darin abgebildet sind und die

Sekunde abzusichern, müssen wir in relativ “Um die polizeiliche kleinen Schritten Handlungsfähigkeit zu jeder vorgehen. Für Sekunde abzusichern, müssen das Datenhaus rd e b erei t s wir in relativ kleinen Schritten wu ein eigenes Provorgehen.” jekt eingerichtet. Konkret wollen wir 2030 eine initiale Version bereitstellen, die Polizei-2020-Gesamtprogrammleiter Holger Gadorosi verfügt über langjährige und umdann weiterentfangreiche Erfahrungen mit IT-Groß-Projekten wickelt wird. im Sicherheitsbereich. Zuletzt war er Leiter des Das umfassenProjekts Netze des Bundes im Bundesinnenmide Datenhaus mit nisterium (BMI). allen Daten und Foto: BS/privat Funktionalitäten aus den polizeiliServices zur Verfügung stehen, chen Kernbereichen streben wir dann gibt es keine iVBS und für 2028 bis 2030 an. Auch dabei auch kein eFBS mehr. Vielmehr ist immer zu berücksichtigen, sitzt der Nutzer vor einer Web- dass wir alle 20 Teilnehmer von Oberfläche, die er mit Mausklicks Polizei 2020 mitnehmen müssen. bedient. Die Suche nach “GaDie unterschiedlichsten Vordorosi” wird direkt ans Daten- gangs- und, Fallbearbeitungshaus weitergeleitet. Unabhängig systeme müssen mitgezogen davon, wo der Suchende, die werden. Von daher ist das ein Suchende sitzen, erhalten sie sehr komplexes Vorhaben, das immer die gleiche Antwort, da sehr viele Projekte gleichzeitig immer derselbe Such-Algorith- bedient und eine hohe Synchromus zur Anwendung kommt. Wir nisation erfordert. kommen damit in die moderne Welt der Internet-Technologien Behörden Spiegel: Ursprüngund verabschieden uns von den lich war die Ausschreibung für monolithischen Systemen der einen Generalunternehmer (GU) Vergangenheit. zur Umsetzung von Polizei 2020 Das Ziel des Programms ist angekündigt. Was ist daraus es, die Systemgrenzen völlig geworden? aufzugeben. Denn unabhängig davon, ob ich in einem FallbearGadorosi: In der Tat überarbeitungskomplex oder in einem beiten wir gerade die AusschreiSachbearbeitungskomplex einen bungsunterlagen für den GU, der “Gadorosi” suche, sollte ich im- mit den Ergebnissen, die wir bis zur Beauftragung erreicht haben, mer dieselbe Person finden. weiterarbeiten soll. Diese muss Behörden Spiegel: Wann soll er zu vollständigen Lösungen das Datenhaus denn nutzbar weiterentwickeln und dann bundesweit in den Einsatz bringen sein? – bei gleichzeitigem Rückbau der Gadorosi: Um die polizeiliche Bestandslösungen. Das ist die Handlungsfähigkeit zu jeder Aufgabe für den GU. Auch da

Keinen Unterschied machen Rechtsextremismus muss überall gleich stark begegnet werden (BS/Marco Feldmann/Matthias Lorenz) Die Zeit, als man Nazis an Glatze und Springerstiefeln erkennen und ihnen höchstens auf einschlägigen Veranstaltungen begegnen konnte, ist längst vorbei. Neben dem Kleidungsstil haben die Rechtsextremen längst auch den Ort ihres Auftretens dem 21. Jahrhundert angepasst. Sie sind vermehrt im Internet, zum Beispiel in den Sozialen Medien unterwegs und versuchen dort, den Diskurs zu bestimmen und Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Dieses Phänomen beschäftigt auch die Sicherheitsbehörden. Im Netz muss genauso stringent und effektiv dagegen vorgegangen werden wie in der realen Welt. die Begriffe dann übernehmen. Auch Hate Speech werde strategisch eingesetzt. “Man Warnt vor den Gefahren durch Rechtsextremismus: will bestimmte Brandenburgs Innenminister Personen einMichael Stübgen (CDU). schüchtern, um sie aus dem DisFoto: BS/Giessen kurs zu drängen”, erläutert der Extremismusforschaft vorgehen. Sein Amtskollege scher. Dies sei eine Bedrohung aus Thüringen, Stephan Kramer, für die Meinungsvielfalt im Netz. ergänzte: “Ich sehe eine ernstzu- Auch Personen wie Kommunalnehmende Gefahr der Entgren- politiker und Journalistinnen, zung im digitalen Raum durch die entscheidende Rollen in einer rechtsextremistische Hetze und Demokratie spielten, würden gePropaganda.” Ähnlich äußerten zielt attackiert. Neben diesem Mainstreaming sich die Verfassungsschutzchefs von Sachsen-Anhalt, Berlin, gehe es auch um die RekrutieMecklenburg-Vorpommern und rung von neuen UnterstützerinSachsen. nen und Unterstützern, ergänzt Verfassungsschützer Müller, der “Mainstreaming”: generell die Gefahr sieht, dass die Strategie der Rechten sich Rechtsextremisten zunehDie Strategie der Entgrenzung mende professionalisieren. Man nennt Jakob Guhl vom Londoner könne ein dreistufiges RekrutieInstitute for Strategic Dialogue rungsverfahren erkennen. Der “Mainstreaming”. Neue Rechte Kontakt erfolge über große Inversuchten dabei, ihre Begriffe ternetplattformen wie Facebook, über Kampagnen in andere Grup- YouTube oder Twitter. Dort finde pen hineinwirken zu lassen, zum ein erster Austausch über politiBeispiel in rechtspopulistische sche Themen statt. Dann würden Parteien wie die “Alternative für die Angeworbenen auf AlternativDeutschland” (AfD). Diese würden plattformen wie den Messenger-

Dienst “Telegram” umgeleitet, auf welchen sich dann die eigentliche Radikalisierung vollziehe.

Die zwei Medaillenseiten des “Deplatformings” Aus den Ausführungen lässt sich schließen: Rechte brauchen, damit ihre Online-Strategie aufgeht, die großen Internetplattformen. Doch an dieser Stelle geraten sie zunehmend in Schwierigkeiten. Große Plattformen gingen seit einiger Zeit verstärkt mit Löschungen und Blockaden gegen rechte Influencer und Publikationen vor, so Müller. Als Beispiel nennt er den rechten Influencer “Volkslehrer”, der nach Sperrung seines YouTube-Kanals 2019 zur Plattform “BitChute” umziehen musste und viel Reichweite verlor. Ähnliches sei auch dem rechten Magazin “Compact” auf Facebook passiert. Aus Sicht von Extremismusforscher Guhl hat dieses auch “Deplatforming” genannte Vorgehen Vor- und Nachteile. Vorteilhaft sei beispielsweise, dass Rechte wegen zu geringer Reichweite auf Alternativplattformen kein Mainstreaming betreiben könnten. Auch könne die Dynamik des Diskurses schnell erlahmen, weil man sich dort nur noch unter

seinesgleichen bewege. Nachteilig hingegen sei unter anderem, dass es auf den Alternativplattformen eine große Nähe zu gewalttätigen Inhalten gebe. Auch bekämen Neuzugänge schnell Zugang zu vielen, sehr extremen Kanälen. Zusätzlich könne es passieren, dass die Verbannten das Gefühl bekämen, dass das Spiel nicht fair sei, weil ihre Meinung nicht gehört werde. “Sie könnten dann zum Schluss kommen, dass es keine politische Lösung für sie gibt und dass der Schluss dann Gewalt lautet”, so Guhl. Auch Müller bilanziert, dass “Deplatforming” zwar die Reichweite verkleinere, dafür aber die Radikalisierung verstärke.

Strafverfolgung bündeln Doch nicht nur die Plattformen, auch der Staat geht inzwischen in verstärktem Maß gegen Rechtsextremisten im Netz vor. Sowohl Staatsanwaltschaften als auch Landeskriminalämter richten Spezialabteilungen ein, die sich mit Hasskriminalität beschäftigen. Matthias Rebentisch ist Staatsanwalt und arbeitet für die Zentralstelle Hasskriminalität der Berliner Staatsanwaltschaft. Er führt aus, dass man die Stelle gegründet habe, um die Strafver-

ist, glaube ich, ersichtlich: Das kann nicht jede Firma. Dazu bedarf es eines polizeifachlichen Wissens, damit es ordentlich umgesetzt wird, aber es bedarf natürlich auch eines breiten Spektrums von IT-Erfahrung, damit die richtigen Systeme umgesetzt beziehungsweise bedient werden. Denn wir haben uns nicht nur ein System, sondern in etwa eine dreistellige Zahl von Anwendungen vorgenommen. Wer es wird, wissen wir noch nicht. Es wird ein Ausschreibungsverfahren geben. Das Verfahren wird nach der aktuellen Planung noch in diesem Jahr und auch nicht erst an Weihnachten gestartet. Behörden Spiegel: Da ist auch noch die Frage des künftigen Betreibers. Gadorosi: Die nachhaltige, langfristige Lösung soll natürlich auf einer Serviceplattform betrieben werden, und zwar innerhalb der Polizei. Wir werden die Daten nicht großen CloudAnbietern wie Google oder Amazon geben. Fest steht, dass das BKA die Verantwortung für diese langfristige, nachhaltige Ziellösung übernimmt. Das BKA ist mit einzelnen Landesdienstleistern im Austausch darüber, wie so eine Polizei-Cloud denn aussehen und im Betrieb bereitgestellt werden könnte – ausfallsicher über ganz Deutschland, hoch verfügbar und, was die Verschlusssacheneinstufung betrifft, VSA-Bund-konform. Damit wir auch wirklich alle Aspekte darin abbilden können, verfolgt das BKA an dieser Stelle einen Multi-Cloud-Ansatz. Zwischendurch haben wir diese Interims-Lösungen. Die werden wir tatsächlich bei einem polizeilichen Landesdienstleister betreiben, damit sich das BKA voll und ganz auf den langfristigen Weg konzentrieren kann. Auch dazu laufen gerade erste Gespräche an. Ziel ist, dass wir bis Ende des Jahres wissen, welcher Dienstleister oder welche Dienstleister den Betrieb für die Übergangszeit machen.

folgung bezüglich verschiedener Formen von Hasskriminalität an einem Ort zu konzentrieren. Ziel sei neben einer effektiveren Strafverfolgung durch gebündelte Expertise aber auch, mehr Vertrauen bei den Opfern von Hasskriminalität zu schaffen. “Manche Opfergruppen tun sich schwer, sich an die Staatsanwaltschaft zu wenden”, so der Jurist. In der Zentralstelle wolle man in besonderer Weise auf die Befindlichkeiten der Opfer eingehen. Daneben wolle man eine konsequente Strafverfolgung erreichen, erklärt Rebentisch weiter. “Verfahrenseinstellungen wegen Geringfügigkeit oder zivilrechtliche Vergleiche kommen bei uns grundsätzlich nicht in Betracht, wir haben das Ziel, die Taten auch gerichtlich zu sanktionieren”, sagt der Staatsanwalt. Er verweist in dem Zusammenhang auf das öffentliche Interesse einer Strafverfolgung von Amts wegen, welches unter anderem bei rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachteten Beweggründen des Täters bestehe. Eigene Erfolge wolle man auch bekannt machen, damit dem Eindruck entgegengetreten werde, von staatlicher Seite passiere nichts. In jedem Fall empfiehlt er allen, die im Netz angegriffen werden, die Vorgänge auch zur Anzeige zu bringen, damit geprüft werden könne, ob eine Straftat vorliege. Klar sei aber auch: “Nicht jede Bemerkung, die jemanden verletzt, ist strafbar. Die Vorgaben der Meinungsfreiheit sind sehr weit.”


Innere Sicherheit

Behörden Spiegel / Juli 2021

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ehörden Spiegel: Herr Bouillon, Sie haben angekündigt bis 2024 über 25 Millionen Euro in die technische Infrastruktur der Landespolizei zu investieren. Was ist noch geplant? Klaus Bouillon: Das bereits mit dem Cyber Crime-Desktop erläuterte Thema der Bekämpfung des Cyber Crime erfordert weitere Entwicklungen, um dem raschen technischen Fortgang innerhalb dieses Deliktsfeldes folgen zu können. Das zeigt auch das geplante Cyber-Abwehr-Trainingszentrum (CATZ). Es wird die Aus- und Fortbildung in diesem Bereich geradezu revolutionieren. Weiterhin muss den bundesweiten Bestrebungen im Rahmen des Programms “Polizei 2020” und damit der bundesweiten Harmonisierung unserer polizeilichen IT Rechnung getragen werden. Ein neues Vorgangsbearbeitungssystem oder ein neues Fallbearbeitungssystem, die dem Tenor der bundeseinheitlichen polizeilichen Datenverarbeitung folgen, seien hier nur als Beispiele genannt. Behörden Spiegel: Was ist noch geplant? Bouillon: Ebenso werden die Technik der Führungs- und Lagezentrale und auch der Bereich der Telekommunikationsüberwachung erneuert und verbessert werden. Dies alles und auch die technische Ausstattung des Polizeizentrums Guy Lachmann (PZGL) Kirkel und der neuen Polizeiinspektion (PI) SaarbrückenStadt werden unsere Polizei, auch gegenüber den zukünftigen Anforderungen polizeilicher Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung, zukunftssicher aufstellen.

Polizei muss mit der Zeit gehen Mit Investitionen dem technischen Fortgang begegnen (BS) Die saarländische Polizei wird in den kommenden Jahren weiter modernisiert. Dafür fließen Millionenbeträge. Was genau geplant ist und wie die Corona-Krise sich auf die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit ausgewirkt hat, erklärt Landesinnenminister Klaus Bouillon. Im Rahmen der Innenministerkonferenz (IMK) stand er dem Behörden Spiegel Rede und Antwort. Die Fragen stellte Marco Feldmann.

“Was in den letzten Jahren im Bereich der Ausstattung der Polizei des Saarlandes, sei es an Schutzausstattung oder an sonstiger Ausstattung, erfolgt ist, sucht seinesgleichen”, sagt Klaus Bouillon, Innenminister des Saarlandes (CDU). Foto: BS/Carsten Simon

Behörden Spiegel: Wie sollen die Ausrüstung und der Schutz der Polizeibeamtinnen und -beamten weiter verbessert werden? Bouillon: Im Bereich der neuen Körperschutzausstattung für die Bereitschaftspolizei (BP) und die Kräfte der operativen Einheiten (OpE) gehen Erneuerung und Verbesserung des Schutzes der Polizeibeamtinnen und -beamten Hand in Hand. Seit Jahren verstärken wir bereits die Schutzausstattung, sei es durch ballistische Helme, die neuen Schutzwesten für den Wach- und Streifendienst

“Im Bereich der neuen Körperschutzausstattung für die Bereitschaftspolizei (BP) und die Kräfte der operativen Einheiten (OpE) gehen Erneuerung und Verbesserung des Schutzes der Polizeibeamtinnen und -beamten Hand in Hand.” oder auch durch die Einführung taktischer Waffenholster, die eine bessere Handhabung der Schusswaffe ermöglichen. Mit der Neuausstattung der BP und der OPE verbessern wir auch hier erneut die Voraussetzungen, um unsere Beamtinnen und Beamten in ih-

rem oftmals gefährlichen Arbeitsumfeld gesund zu erhalten. Behörden Spiegel: Was wollen Sie noch unternehmen?

Bouillon: Neben der technischen Ausstattung wird auch die weitere Ausstattung der neuen Polizeiinspektion Saarbrücken-Stadt und des PZGL Kirkel die Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen durch Modernität und Ergonomie unterstützen. Auch hier haben wir die Zeichen der Zeit erkannt und den Weg

Ein Blick über den Tellerrand Polizei Berlin koordiniert internationales Sicherheitsprojekt (BS/Juliane Joswig*) Europas öffentliche Plätze sind immer wieder Ziel von Terroranschlägen unterschiedlichster Art – denn sie sind oft ungeschützt und frei zugänglich für alle. 595 Anschläge gab es laut dem EU-Terrorismus-Report von Europol zwischen 2016 und 2019 in Europa. Die Anschläge auf unsere Metropolen haben für vielfältige Reaktionen in der Sicherheitsarchitektur europäischer Nationen gesorgt und gezeigt, dass Sicherheit eine gemeinsame Aufgabe ist. Wie können wir die öffentlichen Räume in Europa besser schützen – ohne dabei das Grundrecht auf Freiheit einzuschränken? Welche innovativen Lösungsansätze oder Konzepte existieren über die Grenzen hinaus? Diese Fragen veranlasste die Polizei Berlin, ein Projekt zum Schutz öffentlicher Räume zu konzipieren, das mithilfe des Fonds für Innere Sicherheit (ISFP) der Europäischen Kommission kofinanziert wurde. Denn eins ist sicher: In einer immer komplexer werdenden Welt müssen europäische Polizeibehörden ihre Kompetenzen bündeln, die Zusammenarbeit untereinander stärken und transnational denken. In der zweieinhalbjährigen Projektlaufzeit fand ein intensiver Informations- und Erfahrungsaustausch mit zehn europäischen Polizeibehörden, Fachexpertinnen und Fachexperten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern statt, um den Schutz öffentlicher Räume zu verbessern und möglichst ganzheitliche Antworten auf relevante Fragen zu finden. SafeCi hat das vorhandene Knowhow strukturiert, die Ergebnisse zusammengefasst und ein Handbuch mit dem Titel “Europäische Handlungsempfehlungen zum Schutz öffentlicher Räume vor terroristischen Anschlägen“ erstellt. Das Handbuch (VS – Nur für den Dienstgebrauch) ist ein ausführliches Nachschlagewerk zu sechs Themenschwerpunkten mit 25 Praxisbeispielen und steht allen europäischen Sicherheitsbehörden zur Verfügung.

Zertifizierung muss sein Ein Schwerpunktthema innerhalb des Projektes ist der Schutz von (Groß-)Veranstaltungen. Ob Fußballspiele, Konzerte, Demons-

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Wenn Veranstaltungen mithilfe eines mobilen Anprall- oder Überfahrschutzes (Foto) gesichert werden, kommt es auf die Zertifizierung der Maßnahmen an. Hier hat die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) erste Standardisierungsversuche unternommen. Foto: BS/LKA Berlin

trationen – Veranstaltungen sind ein Zeichen einer freiheitlichen, offenen und demokratischen Gesellschaft – und stehen somit im Visier von Terroristen. Nizza, Berlin, Paris, Manchester sind nur einige traurige Beispiele von Terroranschlägen der jüngsten Vergangenheit. Innerhalb des Projektes haben Polizeibehörden verschiedene Konzepte analysiert und diskutiert. In einem waren sich alle einig: Werden Veranstaltungen mit einem mobilen Anprall- oder Überfahrschutz gesichert, müssen die Maßnahmen zertifiziert sein. Denn in der Vergangenheit erfolgte die Aufstellung von mobilen Fahrzeugsperren oftmals ohne Erfahrungswerte. Einsatzfahrzeuge, Müllfahrzeuge, Container und Betonelemente wurden als Schutzelemente eingesetzt und werden dabei selbst zu einer möglichen Gefahrenquelle. Die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster hat 2018 eine

technische Richtlinie für mobile Fahrzeugsperren (TR) erarbeitet, um den Einsatz von Fahrzeugsperren zu standardisieren. Die Richtlinie unterscheidet zwischen allgemeinen (unter anderem Verwendung, Modularität, Manipulationssicherheit, Maße, Gewichte, Lagerung) und speziellen Anforderungen. Spezielle Anforderungen beschreiben den konkreten Prüfungsprozess. Die TR ist die Grundlage für Beschaffungsvorhaben von Bund und Ländern. Neben einem ganzheitlichen Zufahrtschutz sind Aufklärungsmaßnahmen (Erheben von Informationen über Personen, Gruppen, Räume, Objekte) für das Lagebild und die polizeiliche Taktik zur Sicherung einer Veranstaltung vor Gefahren essenziell.

Täter möglichst früh stören und verunsichern In Großbritannien finden vor und während einer Veranstaltung spezielle Aufklärungsmaßnahmen

statt. Das zeigt das Projekt Servator der Metropolitan Police in London (MET). Bei diesem Vorhaben geht es im Wesentlichen darum, Auskundschaftungsmaßnahmen von Kriminellen oder Terroristen zu identifizieren, sie frühzeitig zu stören und Verunsicherung zu erzeugen. Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei auszubauen und sie zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden zu ermutigen. Polizeikräfte der MET erhalten eine spezifische Ausbildung, um Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen, die auf kriminelle oder terroristische Absichten hindeuten. Uniformierte und zivile Einsatzkräfte werden unregelmäßig und punktuell an festen Standorten und bei Veranstaltungen eingesetzt. Passanten werden in informelle Gespräche verwickelt. Dabei achten Beamtinnen und Beamte auf verdächtige Aktivitäten in der unmittelbaren Umgebung und können gegebenenfalls weitere Ermittlungen anstellen. Um Menschen zur Unterstützung zu animieren, wird durch Servator an die Bürgerinnen und Bürger die Botschaft vermittelt, dass man Gefahren nur gemeinsam wirksam begegnen kann. Beruhigende Kommunikation erzeugt Vertrauen und steigert die Bereitschaft, der Polizei verdächtige Beobachtungen mitzuteilen. Für den Schutz von Veranstaltungen ist ein ganzheitliches Sicherheitskonzept maßgeblich, in dem alle entscheidenden Akteure eng zusammenarbeiten. Mehr Infos zum Projekt gibt es unter: www.berlin.de/safeci. *Juliane Joswig arbeitet bei der Polizei Berlin. Dort ist sie Projektmanagerin für das Projekt “SafeCi – Safer Space for Safer Cities”.

aus den alten und hoch sanierungsbedürftigen Gebäuden auf dem Wackenberg und der Karcherstraße hin zu moderner und zukunftssicherer Infrastruktur gewagt. Was in den letzten Jahren im Bereich der Ausstattung der Polizei des Saarlandes, sei es an Schutzausstattung oder an sonstiger Ausstattung, erfolgt ist, sucht seinesgleichen. Wie anhand der hier dargestellten Beispiele erkennbar ist, wird unsere Polizei auch zukünftig auf dem Stand der Technik bleiben. Behörden Spiegel: Vor welchen Herausforderungen steht das Saarland bei der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit? Bouillon: Um die Corona-Pandemie in der Grenzregion besser bekämpfen zu können, stellte die Durchführung binationaler Fußstreifen von französischen und saarländischen Einsatzkräften ein wichtiges Signal der gemeinsamen grenzübergreifenden Zusammenarbeit dar. Die gemischten Streifen haben sowohl in französischen als auch in saarländischen Innenstädten (Saargemünd, Saarbrücken, Saarlouis) stattgefunden und dienten der gemeinsamen Kontrolle der Einhaltung der jeweiligen Corona-Regeln und damit der Gewährleistung von ergriffenen Maßnahmen zur Gesundheitssicherung. Behörden Spiegel: Welche Auswirkungen hatte und hat diesbezüglich die Corona-Pandemie?

Bouillon: Die alljährlich stattfindenden Unterstützungseinsätze im Rahmen von Veranstaltungen und Volksfesten dies- und jenseits der deutschfranzösischen Grenze wurden bis auf Weiteres abgesagt, zumal die weit überwiegende Anzahl dieser Einsätze aufgrund der Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nicht stattfinden werden oder bereits abgesagt wurden. An der deutsch-französischen Grenze kam es aufgrund der geltenden Einreisebestimmungen für Pendler im Grenzverkehr im Bereich des Grenzübergangs “Alte Bremm” wiederholt zu Demonstrationsgeschehen mit mehreren Hundert Teilnehmern. Die Einsatzbewältigung erfolgte in enger Abstimmung zwischen den deutschen und französischen Polizeidienststellen und verlief reibungslos. Behörden Spiegel: Gab es durch Corona negative Auswirkungen auf die internationale polizeiliche Zusammenarbeit? Bouillon: Die dynamischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus haben viele europäische Staaten veranlasst, nationale Maßnahmen zu treffen, um die weitere Ausbreitung des Virus bestmöglich zu verlangsamen und einzudämmen. Hierbei standen und stehen die zuständigen Behörden im ständigen grenzüberschreitenden Austausch mit ihren Partnerbehörden und haben dadurch ihre Zusammenarbeit weiter intensiviert. Obwohl die nationalen Regelungen die Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg vor Herausforderungen stellten, halfen gewachsene Strukturen und etablierte Verfahrensprozesse dabei, dass es zu keinen negativen Auswirkungen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit kam.

Kompetenzen ausbauen Behörden müssen wachsende Datenmengen bewältigen (BS/mfe) Kriminalistinnen und Kriminalisten müssen bei ihren Ermittlungen immer größere Datenträger sichten und auswerten. Petabytes sind keine Seltenheit mehr. In Anbetracht dieser riesigen Datenmengen kann die kriminalistische Auswertung und Datenanalyse perspektivisch nicht mehr alleine durch Menschen erfolgen. Es braucht auch eine hohe digitale Effizienz. Deshalb muss die Polizei – nicht nur in Nordrhein-Westfalen – zukünftig immer stärker auch auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) setzen, um die Kriminalisten bei ihrer Arbeit zu unterstützen. So wird in Nordrhein-Westfalen beispielsweise eine KI-Software zur Detektion beziehungsweise Vorsortierung von kinderpornografischen Bildund Videodateien eingesetzt. Dadurch können auch mögliche Gefahrenüberhänge deutlich schneller erkannt, auf die Gefahrenlagen reagiert und andauernde Missbrauchsfälle schnell unterbunden werden. Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch werden im bevölkerungsreichsten Bundesland im Übrigen – nach einer Anpassung der einschlägigen Verordnung – mittlerweile grundsätzlich in den Kriminalhauptstellen bearbeitet.

Strukturen und Prozesse immer anpassen Die kriminalistischen und technischen Strukturen und Prozesse müssten grundsätzlich kontinuierlich anpasst und ausgebaut werden, meint Nordrhein-Westfalens Landeskriminaldirektor Johannes Hermanns. Es brauche zunehmend mehr Softwarelösungen, die vorbereitende Prozessschritte selbstständig bewältigt. Sinnvoll könnte aus Hermanns Sicht auch eine Kopplung von KI mit Chatbots sein. Moderne

und zukunftsorientierte kriminalistische Arbeit werde ohne den unterstützenden Einsatz dynamischer KI kaum noch denkbar sein. Schon heute würden neuronale Netzwerke und KI dabei helfen, Täter, Tätergruppierungen und Tatzusammenhänge schneller zu identifizieren. In diesem Zusammenhang komme es darauf an, das Cybercrime-Kompetenzzentrum beim Landeskriminalamt (LKA) in Düsseldorf auszubauen und zu stärken. “Perspektivisch wird der Ausbau der digitalen Forensik immer bedeutsamer”, meint Hermanns.

Kriminalistenausbildung optimieren Sinnvoll ist es laut Hermanns zudem, auch weitere rechtliche Entwicklungen anzustoßen. Dabei geht es ihm beispielsweise auch darum, über verbindlich vorgegebene Schnittstellen die Daten von Finanzdienstleistern ausleiten und digital weiterverarbeiten zu können und damit effizient(er) Finanzermittlungen durchzuführen. Vor dem Hintergrund dynamisch wachsender Anforderungen hält Hermanns auch eine Optimierung der heutigen Ausbildung für Kriminalisten für zielführend und dringend geboten, um den Anforderungen der Gegenwart und Zukunft noch besser gerecht werden zu können.


Innere Sicherheit

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ie Sicherheit im Straßenverkehr zu stärken, auf neue Entwicklungen zu reagieren und innovative Lösungen zu finden, ist für alle Träger der Verkehrssicherheitsarbeit eine stetige Herausforderung. Dazu gehört vorrangig die Realisierung des Ziels “Vision Zero”, welches eine Verhinderung von Verkehrsunfällen mit Getöteten oder Schwerverletzten einfordert. Soll dieses von der Europäischen Union propagierte Ziel erreicht werden, ist die Zahl der Verkehrsunfälle und der damit einhergehenden Folgen nachhaltig zu reduzieren. Das erfordert engagierte Aktivitäten unter anderem auch auf dem Feld der Verkehrsüberwachung. Da die Verkehrsunfallwahrscheinlichkeit insbesondere durch hohe Geschwindigkeiten überproportional steigt, kommt der Überwachung der Geschwindigkeitsüberschreitungen eine besondere Bedeutung zu. Die Abschnittskontrolle erweitert die Möglichkeiten um ein System, das die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Straßenabschnitten überprüft. Die Messung erfolgt dabei nicht punktuell, sondern in einem festgelegten Abschnitt. Aus der jeweils ermittelten Durchfahrtzeit errechnet sich die Durchschnittsgeschwindigkeit eines jeden Fahrzeugs. Liegt diese über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, wird das Fahrzeug beweissicher erfasst.

Nachhaltig positive Wirkung Erkenntnisse aus europäischen Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz bestätigen, dass die dort betriebenen Abschnittskontrollanlagen eine nachhaltig positive Wirkung auf die Verkehrssicherheit haben, indem sie für die Einhaltung der jeweils zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf dem gesamten Streckenabschnitt sorgen. Mehr als zehn Jahre dauerte es, bis in Deutschland aus der Idee “Einführung einer Abschnitts-

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Niedersachsen geht voran Abschnittskontrolle – eine innovative Variante der Geschwindigkeitsmessung (BS/Wolfgang Blindenbacher) Ende Dezember 2020 führte das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport den Regelbetrieb der Abschnittskontrolle (“Section Control”) ein. Damit wurde ein langjähriges Projekt realisiert, das zukünftig einen wesentlichen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten wird.

Bei der “Section Control” erfolgt die Geschwindigkeitsmessung nicht punktuell, sondern in einem definierten Abschnitt. Grafik: BS/Bundesverband Verkehrssicherheitstechnik e. V.

zeit beschäftigten sich immer wieder einzelne deutsche Länder mit der in Wolfgang Blindenbacher ist Rede stehenden Leitender Polizeidirektor a. D. Thematik. Bis sowie Mitglied der Kommiszum Jahr 2013 sion Verkehr der Deutschen erfolgten jedoch Polizeigewerkschaft (DPolG). keinerlei konkrete Foto: BS/privat Schritte, die den Weg zu einem Modellversuch bereikontrolle” eine im Regelbetrieb tet hätten. Die fehlende (bundesarbeitende Abschnittskontroll- gesetzliche) Rechtsgrundlage, die anlage wurde. Dazu waren einige datenschutzrechtlichen HerausHürden zu nehmen, die insbeson- forderungen sowie der zu diesem dere rechtlicher und technischer Zeitpunkt noch nicht erkennbare Natur waren. Bereits im Jahr technische Gesamtlösungsan2009 sprach sich der Deutsche satz wurden als Gründe dafür Verkehrsgerichtstag in Goslar für angeführt. Im Jahr 2014 bewertete Nieeinen Modellversuch in einem der deutschen Länder aus und dersachsen die Lage anders und forderte den Gesetzgeber auf, die kam zu dem Schluss, dass auf erforderliche Rechtsgrundlage zu der Basis des geltenden niederschaffen. Darüber hinaus formu- sächsischen Rechts und unter lierte er weitere Rahmenkriterien Berücksichtigung des inzwischen zur Orientierung. In der Folge- erreichten technischen Entwick-

lungsstandes der Abschnittskontrollanlagen eine Durchführung eines Modellversuchs möglich sei.

Technik hat zahlreiche Vorteile Im Dezember 2018 nahm das Land Niedersachsen den zunächst auf 18 Monate ausgelegten Pilotbetrieb der Abschnittskontrolle auf. Die Anlage, deren Eingangsquerschnitt durch Hinweisschilder gekennzeichnet ist, bewirkte sofort eine deutlich erkennbare Abnahme der mittleren Geschwindigkeit. Allerdings kam es im März 2019 beim Verwaltungsgericht Hannover zu einer Entscheidung, in der ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel als Rechtsgrundlage für einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eines betroffenen Verkehrsteilnehmers als nicht ausreichende Ermächtigungsgrundlage festge-

stellt wurde. Noch am selben Tag wurde die Anlage außer Betrieb genommen. Im Mai 2019 trat das fortgeschriebene Niedersächsische Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG) in Kraft, das eine spezifische Rechtsgrundlage für die Abschnittskontrolle enthält. Im November 2019 stellte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg fest, dass die nun im NPOG neu geschaffene, spezifische Bestimmung eine taugliche Rechtsgrundlage darstellt. Aufgrund dieser Entscheidung konnte die Anlage wieder in Betrieb genommen werden. Im September 2020 bestätigte das Bundeverwaltungsgericht diese Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg letztinstanzlich. Nach Ende des erneuten Pilotbetriebes Ende Dezember 2020 wurde die Anlage dann in den Regelbetrieb überführt. Unter Berücksichtigung der in Nieder-

sachsen, wo nun die Ausweitung auf weitere Strecken geprüft wird, gemachten Erfahrungen lassen sich die Vorteile der Geschwindigkeitsmessung mittels Abschnittskontrolle wie folgt beschreiben: • Das Streckenmesssystem Abschnittskontrolle wirkt im Gegensatz zur derzeit eingesetzten, punktuell wirkenden Geschwindigkeitsüberwachungstechnik auf dem gesamten überwachten Streckenabschnitt, wodurch die Verkehrssicherheit in Gefahrbereichen, zum Beispiel auf Unfallhäufungsstrecken, in Tunnelanlagen oder in Autobahn-Baustellenbereichen, wirksam erhöht werden kann. • Unfallträchtiges plötzliches Abbremsen vor stationären oder semistationären Punktmesssystemen findet bei der Abschnittskontrolle nicht statt, da systembedingt über einen längeren Streckenabschnitt gemessen wird. • Durch den Umstand, dass auf den jeweiligen Messabschnitt der Abschnittskontrolle durch Hinweisschilder aufmerksam gemacht wird, sind sogenannte “Abzocke”-Vorwürfe obsolet. • Die Abschnittskontrolle wird zudem als gerechtere Geschwindigkeitsüberwachungsmethode empfunden, da die Fahrzeuggeschwindigkeit streckenbezogen gemessen und nur die durchschnittliche Überschreitung verfolgt wird. Kurzzeitig vorkommende, gelegentlich unbeabsichtigte Geschwindigkeitsüberschreitungen im Abschnittsbereich können ausgeglichen werden. • Die allgemeine Akzeptanz der Abschnittskontrolle führt zu einer stauminimierenden Harmonisierung des Verkehrsflusses, wodurch neben einer Erhöhung der Verkehrssicherheit auch eine Reduzierung von Emissionen (unter anderemCO2) erreicht werden kann. Für diese Ziele setzt sich ausdrücklich auch der Bundesverband Verkehrssicherheitstechnik e. V. ein.

Anschaltung der BOS-Leitstellen an 4G/5G-Netze

Graubereich wird immer größer

Definition der Leitstellen-Schnittstelle erforderlich

Rassismus äußert sich in zunehmend subtilerer Art und Weise

(BS/leh) Die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) betreiben in Deutschland rund 480 Leitstellen zur Annahme von Notrufen (110, 112) und zur Steuerung ihrer Einsatzkräfte. Die mit hoch komplexen, weitgehend vernetzten Kommunikations-, Einsatzleit-, Lage- und Stabssystemen unterschiedlicher Ausprägung und Hersteller ausgestatteten Leitstellen sind bei Notfällen und Belangen der öffentlichen Sicherheit sowie im Brand- oder Katastrophenfall von hoher und oftmals sogar existenzieller Bedeutung.

(BS) Früher wurden rassistische Einstellungen deutlich offener geäußert. Inzwischen ist das nicht mehr der Fall. Wie sich das entsprechende Antwortverhalten der Bürgerinnen und Bürger verändert hat, erläutert Souad Lamroubal. Sie ist Mitautorin der neuesten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung und engagiert sich zudem in der Behörden Spiegel-Stiftung. Die Fragen stellte Marco Feldmann.

Bei der im letzten Jahrzehnt erfolgten Umstellung vom Analogzum Digitalfunk erwies sich die Anschaltung des Digitalfunks an die heterogenen Systeme der BOS-Leitstellen als schwieriger, zeitaufwendiger und kostentreibender Prozess. Für eine optimale Nutzung der Funkressourcen und zur Vernetzung von Leitstellen bedurfte es neuer flexibler Anschaltkonzepte. Dabei fanden zugleich neue Begriffe Eingang in das Technik-Vokabular: Digitalfunk-Gateway, DigitalfunkStecker und Konzentrator waren dabei wohl die meistgenannten.

Herausforderung absehbar Nachdem nun alles in “trockenen Tüchern” zu sein scheint, zeichnet sich am Horizont eine neue, möglicherweise noch weitaus größere Herausforderung ab. Zur Vermeidung der bei Einführung des Digitalfunks aufgetretenen Probleme scheint eine zeitnahe Befassung mit dem Thema einer standardisierten Anschaltung der BOS-Leitstellen an 4G/5G-Netze geboten. Der Digitalfunk der BOS erfüllt zwar die an die Sprachkommunikation gestellten Anforderungen der Sicherheitsbehörden, aber nicht den darüber hinausgehenden, inzwischen unabweisbaren Bedarf an mobiler Breitbandkommunikation zur Übermittlung von wichtigen Einsatzinformationen

und Ermittlungshinweisen sowie von Daten, Bildern und Videos. Die derzeitige Mitnutzung der öffentlichen 4G/5G-Netze durch die BOS ist unter den Gesichtspunkten der Sicherheit, Funktionalität, Funkabdeckung und Systemverfügbarkeit sowie ohne deren Einbindung in die IT-Welt der BOS keine zukunftsfähige Lösung. Zur Disposition stehen folgende Lösungsmöglichkeiten: die Errichtung eines BOS-Breitbandnetzes, eine Hybridlösung oder die Hochrüstung der öffentlichen Netze für die einsatzkritische Kommunikation der BOS. Welche dieser Lösungsalternativen letztlich realisiert wird und wann dies geschieht, ist noch völlig offen. Fest steht aber, dass die Anschaltung der BOS-Leitstellen an die Breitbandlösung zu berücksichtigen ist. Da für alle Lösungsalternativen die gleichen funktionalen und technischen Anforderungen bestehen dürften, wird sich auch die Anschaltung der Leitstellen technisch nicht voneinander unterscheiden. Wesentliche Komponenten der Breitbandnetze werden die Mission Critical Services (MCx) gemäß 3GPP-Standard sein. Diese Services stellen unter anderem die Dienste für eine gesicherte Sprach-, Daten- und Videoübertragung zwischen mobilen und stationären Endgeräten zur Verfügung. Im Gegensatz zum

TETRA-Standard des BOS-Digitalfunks weist der 3GPP-Standard aber weder eine explizite Leitstellen-Schnittstelle aus noch sind irgendwelche leitstellenspezifischen Funktionen definiert. Damit die besonderen funktionalen und technischen Anforderungen der deutschen BOS wie zum Beispiel die Ende-zuEnde-Verschlüsselung und die Nutzung operativ taktischer Adressen (OPTA) berücksichtigt werden, ist es dringend geboten, die Anforderungen an die Leitstellen-Schnittstelle festzuschreiben. Damit sollte alsbald eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe befasst werden.

Internationale Kooperation Vor dem Hintergrund, dass nur international abgestimmte Lösungen wirtschaftlich und zukunftsorientiert sind und Interoperabilität ermöglichen, haben die The Critical Communications Association (TCCA) und der Bundesverband Professioneller Mobilfunk e. V. (PMeV) eine Kooperation zur Definition einer Leitlinie für die Anschaltung von Leitstellen an Systeme für sicherheitskritische Dienste (MCx) in 4G/5GNetzen vereinbart. Damit der PMeV dort die Anforderungen der deutschen BOS an eine einheitliche Leitstellen-Schnittstelle einbringen kann, ist eine Zuarbeit der BOS unverzichtbar.

Behörden Spiegel: Frau Lamroubal, welche Ergebnisse der aktuellen Mitte-Studie der FriedrichEbert-Stiftung sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten? Souad Lamroubal: Wir haben im Vergleich zur vorherigen MitteStudie deutliche Unterschiede festgestellt. Es gibt einen immer größer werdenden Graubereich. Das zeigt sich am anwachsenden Anteil von Teils-teils-Antworten sowie der Abnahme offensichtlicher Zustimmung zu rassistischen Antworten. Die Befragten antworten inzwischen deutlich subtiler als in der Vergangenheit. Ebenfalls subtiler werden rassistische Muster. Rassismus ist allerdings vorhanden. Diese Entwicklung macht Anti-Rassismusarbeit vor Ort immer schwieriger. Behörden Spiegel: Sie haben sich im Rahmen der Studie mit (Alltags-)Rassismus beschäftigt. Wie äußert sich dieser? Lamroubal: Alltagsrassismus ist das zentrale Problem. Denn er äußert sich nicht nur in Beleidigungen, sondern auch in körperlichen Angriffen. Er wird von vielen aber einfach hingenommen. Ich stelle da eine gewisse Normalität fest, trotz fataler Schäden für die Betroffenen. Das darf nicht so bleiben. Hier muss stärker wachgerüttelt werden. Wichtig sind mehr Aufklärung und Sensibilisierung.

Souad Lamroubal ist bei der Behörden Spiegel-Stiftung tätig. Sie hat als Autorin an der aktuellen Mitte-Studie der Friedrich-EbertStiftung mitgewirkt. Foto: BS/Giessen

Behörden Spiegel: Gibt es aus Ihrer Sicht (strukturellen) Rassismus bei den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS)? Wie kann dieser bekämpft werden? Lamroubal: Es gibt in Deutschland definitiv ein Problem mit strukturellem Rassismus und Rechtsextremismus, auch bei den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Das muss klar benannt und diskutiert werden. Mit den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben muss diesbezüglich die Zusammenarbeit noch deutlich verbessert werden. Denn sie werden nicht unter Generalverdacht gestellt. Generell kommt dem Öffentlichen Dienst bei der Bekämpfung von Rassismus eine wichtige Rolle zu. So sollte etwa die interkulturelle Öffnung der Verwaltung intensiviert werden.

Behörden Spiegel: Sollten Untersuchungen wie die Mitte-Studie öfter oder noch breiter durchgeführt werden? Lamroubal: Die Mitte-Studie würde nicht besser werden, wenn sie öfter durchgeführt würde. Sie ist aber sehr wichtig, um gegen Strukturen, die Rassismus befördern, anarbeiten zu können. Außerdem ist sie wichtig für betroffene Minderheiten und Communities. Denn so erhalten sie eine Stimme, die ansonsten oftmals nicht gehört werden würde. Auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die Mitte-Studie von großer Bedeutung. Die Mitte-Studie schafft das, was andere Studien immer zum Ziel haben sollten, denn Wissenschaft schafft Wissen für die Gesellschaft und schlägt die Brücke zur Praxis. Das gelingt durch die Mitte-Studie, weil man sehr nah bei Menschen ist, die von Ausgrenzung etc. betroffen sind.


Katastrophenschutz

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ehörden Spiegel: Herr Koch, welche Aufgaben haben Sie als Brandenburger Landesbranddirektor?

Michael Koch: Die Aufgaben als Landesbranddirektor Brandenburgs sind sehr umfangreich und vielschichtig. Ich übe eine Scharnierfunktion zwischen den Feuerwehren und der Hausleitung hier im Innenministerium aus. Letztere berate ich in brandschutzrechtlichen und feuerwehrtechnischen Angelegenheiten und verfasse Stellungnahmen für die Hausleitung. Darüber hinaus organisiere ich die Zusammenarbeit mit dem Landesfeuerwehrverband, der Arbeitsgemeinschaft der Berufsfeuerwehren in Deutschland sowie anderen Interessensvertretungen. Ich übernehme auch Repräsentationsaufgaben und -veranstaltungen. Hier im Innenministerium habe ich ein direktes Vortragsrecht beim zuständigen Staatssekretär. Behörden Spiegel: Inwiefern kommt Ihnen in dem Amt Ihre Erfahrung als Leiter der Berufsfeuerwehr Jena zugute? Koch: Ich bin seit 1986 bei der Feuerwehr. Siebeneinhalb Jahre lang stand ich an der Spitze einer Freiwilligen Feuerwehr mit hauptamtlichen Kräften. Hier konnte ich viel lernen und zahlreiche Erfahrungen sammeln. Ab 2005 stand ich dann an der Spitze der Berufsfeuerwehr Jena. Dort hatte ich auch die Verantwortung für eine Leitstelle, die ein Gebiet mit 350.000 Einwohnern betreute, sowie den Katastrophenschutz und den Rettungsdienst inne. Die bewältigten Herausforderungen aus dieser Zeit kann man im Prinzip spiegeln. Auf Landesebene sind sie nur anders dimensioniert. Im

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Das Ehrenamt unterstützen, wo es geht Landesbranddirektor Koch zu seinen Zielen (BS) Der brandenburgische Landesbranddirektor Micheal Koch möchte die Zusammenarbeit zwischen Brandenburg und Berlin ausbauen. Er kann sich einen intensiveren Austausch bei speziellen Fähigkeiten und der Ausbildung vorstellen. Dennoch gibt es Optimierungsbedarf bei Kooperationen. Die Fragen stellte Behörden Spiegel-Redakteur Marco Feldmann. Brandenburger Innenministerium bin ich seit 2017, zuletzt seit 2019 als stellvertretender Landesbranddirektor. Denn egal auf welcher Ebene: Die Feuerwehren stehen überall vor den gleichen Herausforderungen.

“Ich hoffe, dass Corona den Menschen vor Augen geführt hat, wie wichtig es ist, füreinander da zu sein.”

Behörden Spiegel: Vor Ihrer Amtsübernahme waren Sie zuletzt Leiter der Stabsstelle zur Weiterentwicklung der Landesfeuerwehrschule. Führen Sie diese Funktion fort? Koch: Nein, diese Aufgabe geht an die Landesschule und Technischen Einrichtung für den Brand- und Katastrophenschutz (LSTE) zurück. Nicht nur dafür wird sie personell aufgestockt. Die Weiterentwicklung der LSTE ist mir dennoch weiterhin ein Herzensanliegen. Es gibt Planungen, Wünsdorf zu einem weiteren Standort auszubauen, um zukünftig noch besser bedarfsorientiert und bedarfsentsprechend ausbilden zu können. Die Planungen dazu befinden sich allerdings noch in den Kinderschuhen. Unbestritten ist jedoch der erhebliche Ausbildungsbedarf der Feuerwehren, der sich durch die Corona-Pandemie nochmals verstärkt hat. Behörden Spiegel: Was wollen Sie tun, um noch mehr Menschen in Brandenburg für ein ehrenamtliches Engagement bei den Feuerwehren zu überzeugen?

Michael Koch ist seit April dieses Jahres Brandenburger Landesbranddirektor. Der 55-Jährige tritt die Nachfolge Heinz Rudolphs an, der weiterhin Leiter der Landesfeuerwehrschule in Eisenhüttenstadt bleibt. Koch fungierte schon seit 2019 als stellvertretender Landesbranddirektor. Foto: BS/Innenministerium Brandenburg

Koch: Ich will das Ehrenamt unterstützen, wo immer es geht. Denn ein flächendeckender Brandschutz ohne freiwilliges Engagement ist nicht möglich und auch nicht finanzierbar. Aus meiner Sicht ist die gegenseitige Hilfe der soziale Kitt der Gesellschaft. Ich hoffe, dass Corona den Menschen vor Augen geführt hat, wie wichtig es ist, füreinander da zu sein. Ich hoffe, dass es hier einen Bewusstseinswandel gibt, der sich dann auch auf die Mitgliedszahlen der Freiwilligen Feuerwehren durchschlägt. Behörden Spiegel: Wie kann denn das Land helfen? Koch: Das Land selbst hat vor allem vier Instrumente. Wir können den Freiwilligen Feuerwehren

durch die Infrastrukturrichtlinie zum Neu- und Umbau von Feuerwehrgerätehäusern helfen. Gleiches gilt für die Förderrichtlinie für Feuerwehrfahrzeuge und feuerwehrtechnische Ausstattung. Weitere Instrumente des Landes sind die Nachwuchsförderrichtlinie, die am wichtigsten ist, sowie die Regelungen zu Prämien und Aufwandsentschädigungen für Freiwillige Feuerwehrleute..

bekämpfung vorbeiführen. Das gilt insbesondere mit Blick auf kampfmittelbelastete Flächen. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Tanklöschfahrzeuge TLF 500 vom Typ “Brandenburg”, die wir zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern beschafft haben. Denn diese Fahrzeuge sind speziell auf die Bekämpfung von Vegetationsbränden ausgerichtet.

Behörden Spiegel: Was will Brandenburg im Kampf gegen Waldbrände tun?

Behörden Spiegel: Wie bewerten Sie grundsätzlich die Zusammenarbeit mit Berlin?

Koch: In Zukunft wird wohl kein Weg mehr an (teil-) autonomen Mitteln zur Waldbrand-

Koch: Es gibt eine sehr gute und kollegiale Kooperation mit der Berliner Feuerwehr. Wir

haben regelmäßige Treffen mit dem Führungsstab der Berliner Feuerwehr.. Behörden Spiegel: Wo sehen Sie die Schwerpunkte der länderübergreifenden Zusammenarbeit mit Berlin? Koch: Ich möchte die Zusammenarbeit mit der Berliner Feuerwehr weiter intensivieren. Das gilt nicht nur für die Bekämpfung von Waldbränden, sondern auch mit Blick auf den Einsatz von Drohnen sowie die Ausbildung. Denn die Berliner Feuerwehr hat hier interessante duale Ausbildungen für den mittleren und den gehobenen feuerwehrtechnischen Dienst im Angebot. Im Gegenzug hat die Berliner Feuerwehr Interesse angemeldet, bei Lehrgängen zur Schulung von Luftkoordinatoren an der LSTE zu hospitieren. Behörden Spiegel: Wo sehen Sie Optimierungspotenzial mit Blick auf die Vernetzung der Leitstellen in Brandenburg und Berlin? Koch: Grundsätzlich funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Leitstellen bereits sehr gut. Eine automatisierte Schnittstelle zur Übertragung von Einsätzen befindet sich gerade in Umsetzung und wird hoffentlich in Kürze vollständig realisiert werden können. Auch die direkte Kommunikation über ein vollständig gehärtetes und gesichertes Sondernetz wäre aus Sicherheitsgründen künftig wünschenswert.

Entlastung durch Optimierung des Brandschutzes 22 Entlastungsvorschläge für Bürokratie und Baukosten

“Lieber jetzt anfangen als später”

(BS/Dr. Gisela Meister-Scheufelen) Die mittelständische Wirtschaft klagt zunehmend über hohe Belastungen durch Brandschutzauflagen. Der Normenkontrollrat Baden-Württemberg hat deshalb untersucht, wie Bürokratie und Kosten durch eine Optimierung des Brandschutzes gesenkt werden können, ohne den hohen Kampfmittelräumung in Nord- und Ostsee Sicherheitsstandard, der erreicht wurde, zu gefährden. Sein Empfehlungsbericht an die Landesregierung (BS/bk) Nach Schätzungen von Expertinnen und Experten liegen rund 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel aus enthält 22 konkrete Entlastungsvorschläge. den beiden Weltkriegen auf dem Meeresgrund von Nord- und Ostsee. Die Gefahr, die von den Altlasten der Kriege ausgeht, steigt für Mensch und Natur immer mehr. Es ist rasches Handeln gefordert. Der Brandschutz muss im Bau- um den vorbeugenden Brand- kommission einzurichten, die Jann Wendt von der EGEOS GmbH schätzt, dass in der Nordsee rund 1,3 Millionen Tonnen Kampfmittel und in der Ostsee rund 300.000 Tonnen Kampfmittel versenkt wurden. Dennoch gibt es keinerlei belastbare Zahlen dazu. Diese Massen an Kampfmitteln liegen in der Ostsee teilweise deutlich sichtbar auf dem Meeresgrund. In der Nordsee sind die Munitionsaltlasten größtenteils versandet und schwerer zu finden. Dies liegt an der stärkeren Strömung und dem Wellengang in der Nordsee. Die herumliegenden Kampfmittel stellen eine erhebliche Gefahr für Arbeiten nah am Boden dar, wenn z. B. Leitungen verlegt werden.

Korrosion wird zum ­doppelten Problem Die wichtigeren Gründe für ein schnelles Handeln sind die zunehmende Korrosion der Altlasten und die daraus resultierende Freisetzung von Schadstoffen. So finden sich jetzt schon sprengstofftypische Verbindungen (STV) im Wasser von Nord- und Ostsee. Die Konzentration ist besonders hoch in der Nähe von sogenannten Munitionsversenkungsgebieten (MVZ). In diesen Gebieten wurde von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg Munition im Zuge der Demilitarisierung versenkt. Die Freisetzung von STV sei abhängt von Temperatur, Salinität (dem Salzgehalt eines Gewässers) und Sturmaktivitäten, erklärt Prof. Dr. Jens Greinert vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Es sei zu befürchten, dass die Konzen­ tration steigt und die Verteilung der Stoffe durch den Klimawan-

del noch zunimmt. “Wir wissen auch, dass die Munitionsobjekte noch relativ intakt sind, aber die Korrosion voranschreitet und dadurch die Handhabbarkeit problematischer und die Bergung immer teurer wird. Deswegen sollten wir lieber jetzt als später anfangen, entsprechende Technologie zu entwickeln”, fordert Greinert. Nicht nur zerfielen die Munitionsobjekte leichter, wenn sie korrodierten, sie seien eben auch schwerer zu detektieren. Die freigesetzten Schadstoffe werden von Muscheln und Fischen aufgenommen. Forscherinnen und Forscher des ThünenInstituts für Fischereiökologie konnten bei Untersuchungen feststellen, dass bei Fischen, die in der Nähe der MVZ lebten, signifikant mehr Lebertumore auftraten. Eine Beeinträchtigung der Nahrungskette sei nicht auszuschließen, sagt Prof. Dr. Edmund Maser vom Ins­titut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. So hätten Untersuchungen gezeigt, dass die ausgetretenen Stoffe von Kampfmitteln toxisch und krebserregend seien. Die Schadstoffe gefährdeten die maritime Ökologie und Diversität.

Instanz gefordert Eine Räumung der Wassergebiete wird wohl mehrere Jahrzehnte und viel Geld in Anspruch nehmen. Bisher wurden jedoch nur stichprobenartig einige MVZ genauer untersucht. Das Thema “Kampfmittel in den Meeren” sei bisher nur wenig bis gar nicht problematisiert worden. Grund für die überfällige Behandlung des Themas ist nach Greinert die “nicht eindeutig ge-

klärte Verantwortlichkeit”. Das Problem sei weder einem einzigen Ministerium noch dem Bund oder den Ländern zugeordnet. Es bräuchte deshalb eine Bündelung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten in einer einzelnen Instanz. Egal ob diese Instanz bei Bund oder Ländern etabliert werde, es sei von extremer Wichtigkeit, dass dies jetzt geschehe. Als Antwort auf die Gefahren haben sowohl die Regierungsparteien aus CDU/CSU und SPD (Drucksache 19/29283) sowie die Oppositionsparteien bestehend aus FDP und Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache 19/26339) je einen eigenen Antrag eingebracht. Während die Regierungsparteien 2019 zwar die Tätigkeit der BundLänder-Arbeitsgruppe Nord- und Ostsee (BLANO) und des Expertenkreises “Munition im Meer” begrüßten, forderten die Oppositionsparteien von der Regierung, “eine Verständigung zwischen Bund und Ländern herbeizuführen, dass zunächst ein differenziertes Lagebild erhoben wird” und die Forschung in diesem Zusammenhang weiter zu stärken. Zudem solle geprüft werden, wie die verschiedenen Zuständigkeiten und finanzielle Ressourcen gebündelt werden könnten, um Synergieeffekte zu nutzen. Zwei Jahre später fordern die Oppositionsparteien nun, dass eine Strategie zur Bergung und Vernichtung der Munition entwickelt werden soll. Helfen soll dabei die Schaffung einer gemeinsamen Institution. Greinert fragt sich: “Wenn sich eigentlich “alle” einig sind, sollte einer gemeinsamen Aufarbeitung dieses schon zu lange existierenden Problems nichts mehr im Wege stehen.”

genehmigungsverfahren von Anfang an mitgedacht werden. Bei Sonderbauten (u. a. Gewerbebauten, Kindergärten und Schulen) und komplexen Umbauten im Bestand sollte schon frühzeitig eine Auftaktbesprechung zwischen der Baurechtsbehörde und dem Bauherrn bzw. Planer stattfinden, um Klarheit über mögliche Brandschutzanforderungen zu schaffen und diese bei der Planung zu berücksichtigen. Wenn mehrere Fachämter zu beteiligen sind, z. B. der Brand-, Denkmaloder Wasserschutz, sollte ein frühzeitiger Abstimmungstermin mit allen Beteiligten als “runder Tisch” durchgeführt werden. Dies führt zu gegenseitigem Verständnis und ermöglicht, bei gegenläufigen Interessen im Dialog eine Lösung zu entwickeln. Auch standardisierte Verfahren, der Einsatz eines Projektmanagementtools und die vollständige Digitalisierung schaffen Erleichterungen. Der Brandschutz ist aufgrund der technischen und rechtlichen Entwicklung sehr komplex geworden. Für den Bau empfiehlt der DIN inzwischen 3.700 Standards. Dies ist von vielen der 207 Baurechtsbehörden, vor allem in kleineren Kommunen, nicht mehr zu bewältigen. Dieses Problem kann gelöst werden, indem die Baurechtszuständigkeit nur noch Kommunen ab 20.000 Einwohnern (oder mehr) zugesprochen wird, ein Prüfingenieur für Brandschutz auch in Baden-Württemberg eingeführt wird oder bei bestimmten Bauverfahren der Kreisbrandmeister verpflichtend einbezogen werden muss. Der Normenkontrollrat empfiehlt, die leistungsfähigen Einheiten der Stadt- und Kreisbrandmeister auszubauen und

schutz zu erweitern. So können bestehende Strukturen genutzt werden. Ihre Stellungnahme zum Brandschutz ist dem Bauherrn zur Kenntnis zu geben, sodass sich dieser dazu fachlich äußern kann.

Die Rechtslage vereinfachen, Regelungslücken schließen Obwohl die Regelungsdichte bereits sehr hoch ist, gibt es Regelungslücken. So fehlen technische Vorschriften zu Sonderbauten und zum Holzbau. Dies verunsichert die am Bau Beteiligten und führt häufig zu Maximalanforderungen sowie zu unterschiedlichen Bauauflagen innerhalb des Landes. Der Normenkontrollrat empfiehlt deshalb, wie in anderen Ländern, diese Lücken zu schließen. Je komplexer Recht wird, desto wichtiger sind Information und Schulung. Eine digitale zentrale Plattform mit allen einschlägigen Informationen zum Thema Brandschutz, praxisnahen Auslegungshilfen und Best-PracticeBeispielen verbessert die Entscheidungsgrundlage. Ebenso notwendig ist ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch zwischen den Behörden. Der vorbeugende Brandschutz sollte Studieninhalt bei der Architekten- und Bauingenieurausbildung sowie beim Verwaltungsdienst werden. Um auf der Ebene der Ministerien die notwendigen Kenntnisse des vorbeugenden Brandschutzes sicherzustellen und aktuell zu halten, empfiehlt sich, eine Fach-

in Grundsatzfragen unterstützt.

Technische Normung aktiver begleiten DIN-Normen sind zwar nicht verbindlich, werden aber von der Bauverwaltung in der Regel in Baubescheide übernommen und dadurch bestandskräftig. Hinzu kommt, dass DIN-Normen von der Rechtsprechung als Stand der Technik gewertet werden, die einen Rechtfertigungszwang auslösen, wenn von ihnen abgewichen wurde. Der Staat hat sich weitestgehend aus den Expertenrunden der Normungsverfahren zurückgezogen und der Wirtschaft, nicht selten den

Dr. Gisela Meister-Scheufelen ist Vorsitzende des Normenkontrollrats BadenWürttemberg. Foto: BS/Normenkontrollrat Baden-Württemberg

Anbietern entsprechender Produkte, das Feld überlassen. Dies sollte vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Die Gremien sollten zu mindestens einem Drittel mit Vertretern der öffentlichen Verwaltung besetzt sein. Das Normungsentwicklungsverfahren muss transparenter und partizipativer werden. Außerdem sollten technische Normen kostenfrei verfügbar sein. Die Studie kann als Broschüre unter geschaeftsstelle@nkr.bwl. de bezogen oder unter www. normenkontrollrat-bw.de abgerufen werden.


Zahlen & Daten

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355.177

keine Angabe 41.772 54.398 16.620 209

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793.145 925.741

282.052

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83.975 134.976 90.734 keine Angabe

903.255 652.597

118.594 118.381 74.050

Behörden Spiegel / Juli 2021

239.511 248.692


Verteidigung

Behörden Spiegel / Juli 2021

Rückkehr der letzten Soldaten

MELDUNGEN

Entwicklung amerikanischer Hyperschallwaffen (BS/df) Hyperschallwaffen sind in den Augen der USA eine Schlüsseltechnologie der Zukunft. Der Haushaltsentwurf des Verteidigungsministeriums beinhaltet 6,6 Milliarden Dollar für die Entwicklung und den Einsatz von Langstreckenwaffen – einschließlich Hyperschall – damit erste land-, luft- und seegestützte Waffensysteme bis Mitte der 2020er getestet und produziert werden können. Aktuelle Entwicklungen gehen dabei in die Richtung von Marschflugkörpern, die in großen Höhen bei hoher Manövrierfähigkeit mit anhaltenden Geschwindigkeiten um Mach 5 und darüber fliegen. “Das macht sie schwer abfangbar und versetzt sie in die Lage, Ziele mit hoher Priorität aus großer Entfernung in sehr kurzer Zeit zu erreichen”, sagte Mike White, Leitender Direktor Hyperschall im Office of the Undersecretary of Defense for

Research and Engineering. Diese Systeme erforderten allerdings ein sehr hohes technologisches Niveau. White erklärte gegenüber dem Center for Strategic and International Studies, dass bei Geschwindigkeiten von Mach 5 und darüber beispielsweise Wärmeschutzsysteme wegen der entstehenden Hitze sehr wichtig seien, was die Entwicklung von speziellen Verbundwerkstoffen auf Kohlenstoffbasis notwendig mache. Neben Waffensystemen arbeitet das Verteidigungsministerium laut White auch an Abwehrmaßnahmen, um gegnerische Hyperschallwaffen in allen Phasen – Start, Gleitflug und Endphase – auszuschalten. Vor allem China und Russland arbeiten an entsprechenden Waffensystemen. White erwähnte, dass sowohl der Kongress als auch die Regierung die Entwicklungen im Bereich der Hyperschalltechnik deutlich unterstützten.

Konzept für das System Indirektes Feuer (BS/df) Für das zukünftige “System Indirektes Feuer”, für das Lenkflugkörper großer Reichweite für die Artillerie-Systeme der Bundeswehr entwickelt und implementiert werden sollen, haben MBDA Deutschland und Krauss-Maffei Wegmann (KMW) Ende Juni ein Memorandum of Understanding (MoU) zur Zusammenarbeit unterzeichnet. MBDA und KMW bezeichneten dieses MoU in ihrer gemeinsamen Mitteilung als “Startpunkt, um gemeinsam die Zukunft der deutschen Artillerie mitzugestalten”. Die Zusammenarbeit mit weiteren Unternehmen, die ihre Expertise einbringen wollten, sei ausdrücklich erwünscht. MBDA und KMW verfügen über die notwendigen Kapazitäten sowie langjährige Erfahrung in den

Bereichen Abstandswaffen und Systemplattformen (MARS II/ MLRS). Das Systemkonzept greift dabei sowohl auf erprobte Systeme und Teilsysteme als auch auf neue Technologien zurück. Von der Bundeswehr genutzte Komponenten seien im Rahmen des gemeinsamen Ansatzes berücksichtigt. Zusätzlich kämen modernste Technologien wie störungssichere GPS-Navigation, 3D-Flugplanung und bildgestützte Navigationssensorik zum Einsatz. Die Zielbekämpfung werde durch Künstliche Intelligenz für die automatische Zielerkennung und -identifikation (Automated Target Recognition and Identification) unterstützt. MBDA veröffentlichte anlässlich des MoU ein Video, das den Ansatz des Systems Indirektes Feuer erläutert.

Launch des Mission Masters XT (BS/df) Virtuell und live aus Kanada fand im Juni der Launch des Mission Masters XT statt, dem neuesten unbemannten Bodenfahrzeug von Rheinmetall Canada. Er ähnelt dem bereits in Kanada und Großbritannien eingeführten Mission Master SP (Elektroantrieb, Payload 600 kg, Reichweite bis maximal 180 km). Das Hauptunterscheidungsmerkmal ist der Dieselantrieb, hinzu kommen weitere Verbesserungen etwa im Bereich der zuladbaren Nutzlast. So kann der neue Mission Master bis zu 1.000 kg Payload tragen, die durchschnittliche Reichweite liegt dank des Dieselantriebs bei rund 750 km. Neben den amphibischen Fähigkeiten und der Geländegängigkeit ist vor allem der Grad an Autonomie interessant. So kann der Mission Master XT anderen Fahrzeugen – oder entsprechend ausgestatteten Menschen – mittels des Convoy Modes oder der Dynamic-Route-Funktion folgen. Selbstverständlich ist das System auch fernsteuerbar. Die Mission-Master-Familie ist dabei vollständig kompatibel mit den standardisierten Battle-Management-Systemen (BMS) der NATO

und lässt sich über verschiedenste Fernbedienungsverfahren steuern. “Das von Rheinmetall dafür entwickelte Smart-Tablet ist dabei eine sehr multifunktionale Lösung. Es ermöglicht dem Bediener, jede Mission-MasterPlattform und -Nutzlast über eine einzige Schnittstelle zu steuern – ein Novum auf dem Markt”, sagte Alain Tremblay, Vice President of Business Development and Innovation bei Rheinmetall Canada. “Die Benutzer können zum Beispiel die Kameras zur Überwachung nutzen oder eine Waffenstation ausrichten und dann die Plattform schnell so programmieren, dass sie selbstständig zu dem gewünschten Ort navigiert.” Aufgrund der hohen möglichen Nutzlast und dem einfachen tragfähigen Aufbau sind eine Vielzahl von Varianten denkbar. Besonders interessant dürfte die Counter-UAS-Lösung werden. Viele Streitkräfte suchen aktuell nach Lösungen zur Abwehr von einzelnen bewaffneten Drohnen sowie Drohnenschwärmen. Unbemannte Systeme, die wie der Mission Master XT zudem noch selbstständig dem Konvoi folgen, könnten eine Lösung sein.

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Das Ende des Afghanistan-Einsatzes (BS/Dorothee Frank) Am 30. Juni 2021 ging für Deutschland der Afghanistan-Einsatz mit einem schmucklosen Rückkehrerappell am Flughafen in Wunstorf zu Ende. Keine Ministerin, kein Staatssekretär, keine Politiker. Der Bundestag hatte seine Parlamentsarmee in den Einsatz geschickt, an der Rückkehr nahm er nicht teil. Die Fahne wurde an der Front vorbeigetragen – und das war es. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, hatte bereits am 17. Juni in Camp Marmal in Afghanistan den letzten Appell des Kontingents abgenommen. Der offizielle Abschlussappell soll am 31. August im Beisein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stattfinden. Das ist natürlich viel zu spät, die Öffentlichkeit ist dann im Urlaub. Die Rückkehr der letzten Soldaten aus Afghanistan hätte eine größere Würdigung verdient als die Begrüßung durch niemanden. So bleibt der starke Eindruck eines Einsatzes mit Verlusten, über den im Grunde niemand mehr sprechen will.

Angespannte Haushaltslage Der Afghanistan-Einsatz begann im Nachgang des Anschlags auf das World Trade Center (11. September 2001) als “International Security Assistance Force” (ISAF) am 20. Dezember 2001. ISAF endete am 31. Dezember 2014, die Nachfolgemission “Resolute Support” (RS) begann am 1. Januar 2015. ISAF fiel in eine Zeit des Umbruchs für die Bundeswehr. Eine Herausforderung war weiterhin die Integration von Standorten, Soldaten und Material der NVA. Mit Somalia kam der erste Auslandseinsatz, mit dem Kosovo der erste Krieg hinzu. Gleichzeitig sorgte das Ende des Kalten Krieges für einen Bedeutungsverlust der Streitkräfte bei den Parlamentariern, was sich vor allem in stark sinkenden Verteidigungsetats widerspiegelte. Nimmt man die offiziellen Zahlen der NATO, dann lag der deutsche Verteidigungsetat 1990 bei 81,8 Milliarden DM (der Euro wurde am 1. Januar 2002 eingeführt), 2001 waren es nur noch 59,8 Milliarden DM. 2002 dann 30,4 Milliarden Euro. Das Budget blieb jahrelang kontinuierlich bei knapp 30 Milliarden Euro.

Folgen der Ausrichtung auf den Einsatz Für die Finanzierung der Bundeswehr brachte der Afghanistan-Einsatz also keinerlei Verbesserung. Vielmehr musste die neue und dringend notwendige Ausrüstung – etwa geschützte Fahrzeuge Dingo – zusätzlich aus diesem knappen Budget finanziert werden. Die dafür notwendigen Sparmaßnahmen führten zum großflächigen Fähigkeitsverlust bzw. Modernisierungsstau. Gleichzeitig kann auch der Wegfall der Wehrpflicht als Folge des Afghanistan-Einsatzes gesehen werden. Im Sinne der Ausrichtung auf den Einsatz wurden die Soldaten zu Eingreif-, Stationierungs- und Stabilisierungskräf-

Andere Länder stehen allerdings kaum besser dar. Während das Militär lieferte, sorgte der Mangel an zivilem Rückhalt für das Scheitern. Statt sich dem Plan gemäß an die eigenen Aufgaben zu halten – Deutschland konnte beispielsweise nicht genug Polizisten für Afghanistan gewinnen, Italien nicht genug Richter –, wurden unkoordiniert andere Aufgaben versucht. Antreten der Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Rückkehrerappells auf dem Fliegerhorst Wunstorf nach der Landung der letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan. Foto: BS/Bundeswehr, Torsten Kraatz

ten, professionell ausgebildet und mit moderner Technik ausgestattet. Diese Einsätze konnten nur durch Zeit- und Berufssoldaten geleistet werden.

Neue Identität für das Heer Finanziell und materiell brachte der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr hauptsächlich Nachteile, da er sich nicht positiv auf das Budget auswirkte, dafür aber mehrere Milliarden Euro extra kostete. Jahr für Jahr vergrößerte sich dadurch der Abstand zwischen dem Material, das die Soldaten in der Heimat erhielten, und dem, was in Afghanistan vorhanden war. Bis hin zu dem Punkt, dass die Soldaten noch nicht einmal vollständig in Deutschland ausgebildet werden konnten, weil die Systeme nur noch im Einsatzgebiet vorhanden waren. Gleichzeitig brachte es aber dem Deutschen Heer eine neue Identität. Während die Luftwaffe und die Marine nach dem Ende des Kalten Krieges nahtlos neue Aufgaben, Manöver und Einsatzgebiete erhielten – allerdings bis jetzt noch kein einziges Mal in der Geschichte ihrer Teilstreitkraft das “scharfe Ende” militärischer Auseinandersetzung erlebt haben – musste das Heer sich in die –, Rolle “Krieg” finden. Erst Kosovo und Afghanistan brachten diese Neuausrichtung, eingebettet in internationale Verbände, welche für die anderen Teilstreitkräfte schon immer gelebte Normalität gewesen waren. Gleichzeitig folgte für das Heer eine neue Ausrüstung, verlegefähig, mobil, geschützt. Diese Ausrüstung wurde allerdings aufgrund des Geldmangels nie flächendeckend eingeführt, wodurch die Vollausstattung der Rüstung von Kleinkontingenten wich. Für die Evaluierung des Einsatzes sind allerdings weniger die Folgen für die Bundeswehr als vielmehr das Erreichen der gesteckten Ziele ausschlaggebend. Dass diese Ziele nicht erreicht werden, war früh klar. So schrieb bereits im November

2013 Vizeadmiral a. D. Hans Frank in der Europäischen Sicherheit & Technik: “Die NATO wird Afghanistan nicht als Sieg an ihre Fahnen heften können.” Als Grund nannte er die Politik, die bei der Umsetzung aller gemeinsam beschlossenen Vorgaben versagt habe. Wobei sich dies nicht nur auf die deutsche Politik bezog, sondern auf alle teilnehmenden Staaten.

Einteilung der Zuständigkeiten Acht Jahre später, Jahre, in denen die zivile Unterstützung weder auf- noch ausgebaut wurde, ist genau dies eingetreten, dabei standen zu Beginn des Afghanistans-Einsatzes durchaus kluge und realitätsnahe Überlegungen. Nur wenige Monate nach dem Sieg über die Taliban und dem Einsetzen einer Übergangsregierung wurden die Aktionsfelder eingeteilt: Die USA sollten die afghanische Armee ausbilden (und zum Teil ausstatten), Deutschland sicherte die Ausbildung der Polizei zu, Italien wollte die Justiz übernehmen, Großbritannien den Drogenanbau bekämpfen und Japan sollte die Entwaffnung und Umschulung der Milizen, Warlords und anderer irregulärer Kräfte durchführen. Insbesondere Großbritannien hat sich bereits 2014 aus dem Einsatz abgemeldet, natürlich unter Belassung etlicher hochdotierter Schlüsselpositionen als “Berater” der afghanischen Regierung. Am 30. April 2021 endete das deutsche Polizeiprojekt in Afghanistan – German Police Project Team (GPPT). Erreicht wurde wenig, vor allem in der Fläche. Zu keinem Zeitpunkt waren außerhalb der Hauptstadt Kabul genügend deutsche Polizisten, um die afghanischen Ordnungshüter zu überprüfen, deren Strukturen zu modernisieren und sie genügend auszubilden. Auch Deutschland wird sich Afghanistan nicht als Erfolg an seine Fahne heften können, der vielbeschworene “Comprehensive Approach” ist als gescheitert zu betrachten.

Erfüllung aller Aufgaben Es war früh abzusehen, dass die ursprünglich vorgesehene Umwandlung des Landes in einen demokratischen Rechtsstaat nicht gelingen würde. Schließlich baut jeder Rechtsstaat auf die Säulen Justiz, Polizei und Politik. Wenn allerdings auch nach Jahren ganze Gebiete von Warlords oder Drogenbaronen kontrolliert werden, wenn Polizisten sterben, die Justiz kaum neutrale Urteile fällen oder diese durchsetzen kann und die gewählte Regierung in Kabul fast nur über Kabul herrscht, dann stimmt etwas nicht mit dem eingeschlagenen Weg. Allerdings lag nichts davon in der Zuständigkeit der Bundeswehr. Dementsprechend konnte der Generalinspekteur, General Eberhard Zorn, in seinem Tagesbefehl zum Ende des Einsatzes sagen: “Bis zum letzten Tag unserer Präsenz in Afghanistan haben wir gezeigt, dass wir alle an uns gestellten Aufgaben erfüllen können. Die sichere, reibungslose Rückverlegung von Personal und Material unter zeitlichem Druck war eine Meisterleistung, für die ich den Angehörigen des letzten Kontingents besonders danke.” Die Bundeswehr hat tatsächlich jede an sie gestellte Aufgabe und viele weitere, zivil orientierte Aufgaben, die nicht im Auftragsbuch standen, erfüllt. Als positives Fazit etablierte sich die Bundeswehr als sehr zuverlässiger NATO-Partner, dies wurde von den ISAF- und RSKommandeuren stets bestätigt. “Wir gedenken heute besonders der Kameraden, die aus Afghanistan nicht heil zurückgekehrt sind, die im Einsatz gestorben und gefallen oder an Leib und Seele verwundet worden sind. Wir werden nie vergessen, welche Opfer sie erbracht haben. Mit den Ehrenhainen im Wald der Erinnerung schaffen wir ihnen ein würdiges und dauerhaftes Andenken”, sagte General Zorn. “Der militärische Einsatz in Afghanistan ist abgeschlossen. Das Gedenken an die Opfer, aber auch das Wissen um die erbrachte eigene Leistung, bleibt.” Aber wer findet schon den Wald der Erinnerung, der weit ab von Berlin liegt?

SAVE the DATE

Defence Innovation Pitch Day 2021 4.-5.November 2021 in Unterschleißheim/München

Erstflug der zweiten Global Hawk für Japan (BS/df) Japan hat drei unbemannte Flugsysteme RQ-4B Global Hawk bei Northrop Grumman bestellt. Nachdem im April bereits die erste für Japan bestimmte Global Hawk erfolgreich ihren Jungfernflug absolvierte, folgte vergangene Woche der Erstflug der zweiten japanischen Global Hawk. 2018 war der Auftrag zum Bau der Global Hawk an Northrop Grumman gegangen. 2022 sollen die Lieferung erfolgen.

“Die RQ-4B Global Hawks werden Japan mit bedarfsgerechten Informationen, Überwachungsund Aufklärungsdaten versorgen, welche die Missionen der japanischen Selbstverteidigungskräfte dabei unterstützen, die Grenzen zu schützen, Bedrohungen zu überwachen und humanitäre Hilfe zu leisten”, sagte Jane Bishop, Vice President und General Manager, Autonomous Systems, Northrop Grumman.

Weitere Informationen sowie Online-Anmeldung unter: www.defence-innovation.de Fotos v.l.n.r.: Gorodenkoff Productions OU, stock.adobe.com; Goinyk, stock.adobe.com; kaninstudio, stock.adobe.com


Wehrtechnik

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Z

um Ende der Legislaturperiode unterliegt der Entwurf für das Haushaltsjahr 2022 allerdings der “Diskontinuität”. Das heißt, er wird zwar schon beschlossen, aber erst durch die neue Bundesregierung in einem neuen, zweiten Regierungsentwurf tatsächlich final in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Der neue Bundestag wird den Haushalt 2022 dementsprechend wahrscheinlich erst Mitte 2022 abschließend beraten und beschließen, je nachdem wie lange sich die Regierungsbildung hinzieht. Die neue Regierung könnte deutliche Akzente zur Stärkung der Verteidigung setzen, da die Haushaltseckwerte für die Jahre nach 2022 einen sinkenden Verteidigungsetat vorsehen. So soll der Etat nach den Wünschen der aktuellen Regierung bis auf 45,6 Milliarden Euro im Jahr 2025 fallen, womit er sogar geringer wäre als der jetzige Verteidigungsetat. Eine Neubetrachtung durch eine neue Koalition kann dementsprechend (wahrscheinlich) nur Positives bringen. Zudem würde der geplant sinkende Verteidigungsetat kaum ausreichen, um all jene Vorhaben zu finanzieren, die noch in der letzten Sitzung vor der Sommerpause durch das Parlament gingen. Insgesamt 27 Vorlagen wurden bewilligt, was einem Gesamtvolumen von 19 Milliarden Euro entspricht. Hier folgt ein Überblick der größten oder wichtigsten Vorhaben:

Eine Milliarde Euro mehr für 2022 Bewilligte Vorhaben zum Ende der Legislaturperiode (BS/df)) Fast eine Milliarde mehr als ursprünglich verhandelt soll der Bundeswehr im nächsten Jahr zur Verfügung stehen. Das Bundeskabinett hatte am 23. Juni den Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2022 und den Finanzplan des Bundes bis 2025 beschlossen, demnach soll der Verteidigungsetat bei insgesamt 50,3 Milliarden Euro liegen. Bei den Haushaltseckwerten des Finanzministeriums vom März dieses Jahres waren für die Bundeswehr nur 49,4 Milliarden Euro vorgesehen. meinschaftsprojekt von Marine und CIR, mit dem BAAINBw als Beschaffer. “Die besonderen Anforderungen an die Über- und Unterwasseraufklärungskomponenten im weltweiten Einsatz in Verbindung mit spezifisch militärischen Anforderungen wie Eigenschutz, Führungsfähigkeiten und der Notwendigkeit extrem geräuscharmer Fahrantriebe charakterisieren exemplarisch die hohe Komplexität des Projektes. Um eine möglichst wirtschaftliche Beschaffung zu gewährleisten, basieren die neuen Boote auf zivilen Schiffbaustandards”, berichtet das BAAINBw anlässlich der Vertragsunterzeichnung. “Im Jahr 2027 soll das erste der drei Boote in Dienst gestellt werden und damit nahtlos die seit über 30 Jahren in Nutzung befindlichen Flottendienstboote Oker, Alster und Oste der Klasse 423 ablösen.” “Wir freuen uns, dass uns das Bundesverteidigungsministerium im Anschluss an die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages die Verantwortung übertragen hat, als Generalunternehmer dieses wichtige Beschaffungsvorha-

Fahrzeugfamilie für die Spezialkräfte Das Kommando Spezialkräfte erhält neue Aufklärungs-, Gefechts- und Unterstützungsfahrzeuge. Hierfür soll ein Vertrag über bis zu 80 Fahrzeuge mit einer Laufzeit von 12 Jahren geschlossen werden. Es ist eine Festbeauftragung von vier Fahrzeugen als Nachweismuster vorgesehen.

Flottendienstboote Klasse 424 Nur einen Tag nachdem die Vorlage durch das Parlament bewilligt wurde, schloss das BAAINBw bereits den Vertrag mit Lürssen über den Entwurf und den Bau von drei neuen Flottendienstbooten der Klasse 424. Zu diesem Paket gehört auch eine Ausbildungs- und Referenzanlage. Bei den Flottendienstbooten handelt es sich um Schiffe zur Nachrichtengewinnung und Aufklärung. “Mit Systemen zur Detektion und Ortung von Signalen, Über- wie Unterwasser, können die drei Flottendienstboote einen wesentlichen Beitrag zur strategischen Informationsgewinnung leisten”, beschrieb die Deutsche Marine das Portfolio. Allerdings wurden alle drei Boote noch zum Ende des Kalten Krieges in den Dienst gestellt, was bedeutet, dass sie den technologischen Stand der Vor-iPhone-Ära darstellen; daran können auch die zwischenzeitlich erfolgten Modernisierungen nichts ändern. Von der Elektronik über die Verkabelung bis hin zur Lüftung oder Signatur ist die Technologie deutlich vorangeschritten. Zwar konnten die Flottendienstboote trotz ihres Alters nach wie vor gute Dienste leisten, etwa vor Libyen, dies lag allerdings mehr an der Konkurrenzlosigkeit in der Bundeswehr denn an den tatsächlich heute möglichen Fähigkeiten. Hauptsächlicher Nutzer der Flottendienstboote ist dabei nicht die Marine, sondern der Cyber- und Informationsraum (CIR), dessen Spezialisten aus dem Kommando Strategische Aufklärung die Boote unterstehen, während sie von der Marine “nur” betrieben werden. Auch die zukünftigen Flottendienstboote sind dementsprechend ein Ge-

Behörden Spiegel / Juli 2021

“Alternativlos” nannte der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, das trinationale FCAS-Programm. Foto: BS/Spanische Luftwaffe

ben zu realisieren”, sagte Tim Wagner, Geschäftsführer der Fr. Lürssen Werft GmbH & Co. KG. “Wir werden nun unverzüglich in die Entwurfsphase einsteigen und Gespräche mit potenziellen Partnern aus der Werftenbranche und Systemtechnik aufnehmen.”

Flugsicherungsanlage modular luftverladbar “Die Bundeswehr wird mit der Beschaffung einer in Containerbauweise modular aufgebauten und luftverladbaren Flugsicherungsanlage in die Lage versetzt, einen autarken Flugplatz in einem Einsatzland zu errichten und zu betreiben – insbesondere an Einsatzorten, an denen eine Flugbetriebsinfrastruktur nicht verfügbar ist”, berichtet das BMVg. Damit soll der militärische Flugbetrieb sowohl für die Operationsführung vor Ort als auch für die Anbindung an das Heimatland sichergestellt werden.

Future Combat Air System “Im Projekt Future Combat Air System (FCAS) ist mit der Entscheidung des Haushaltsausschusses, eine weitere Regierungsvereinbarung und Ergänzungsverträge bis 2027 in Höhe von rund 4,4 Milliarden Euro zu schließen, der Weg für die Fortsetzung der Rüstungskooperation mit Frankreich und Spanien ab Herbst 2021 geebnet”, berichtet das BMVg. Der erste Schritt besteht nun darin, die Technologien in den Bereichen Flugzeug, Triebwerk, unbemannte Komponenten, Sys-

Designerskizze der neuen Flottendienstboote Foto: BS/BAAINBw/Lürssen Werft GmbH & Co. KG

temverbund, Sensoren, Signaturreduzierung und Simulationsumgebung zur Entwicklungsreife zu bringen. Dabei soll die Machbarkeit auf den zu entwickelnden Demonstratoren nachgewiesen werden, bevor das Projekt im Anschluss in die Design- und Entwicklungsphase geht. Ende Juni trafen sich die Chefs jener Luftwaffen, die an dem europäischen Vorhaben Future Combat Air System (FCAS) teilnehmen, General Philippe Lavigne (Frankreich), General Javier Salto Martinez-Avial (Spanien) sowie Generalleutnant Ingo Gerhartz (Deutschland), zu einem Besuch bei den drei FCASHauptauftragnehmern Dassault Aviation, Indra und Airbus. An den jeweiligen Industrie­ standorten, Madrid in Spanien, Manching in Deutschland sowie Saint Cloud in Frankreich, informierten sich die Generale aus erster Hand über den Sachstand der gegenwärtigen Konzeptstudie. “Nach schwierigen Verhandlungen haben wir mit den beteiligten Industrien einen Kompromiss gefunden”, sagte Generalleutnant Gerhartz. “Dieses technisch anspruchsvolle und für unsere Luftwaffen zukunftsweisende Projekt ist ohne Alternative, wenn wir uns in Europa eine Unabhängigkeit bewahren wollen. Damit stärken wir unsere gemeinsame Verteidigung und sichern Schlüsseltechnologien in Europa. Ich hoffe, im Sinne der Stärkung europäischer Sicherheitsinteressen, dass sich Nationen wie Großbritannien und Italien zu gegebener Zeit an diesem Zukunftsprojekt beteiligen werden.”

Geschützter und ungeschützter Verwundetentransporter Zwei Vorhaben aus dem Bereich des militärischen Verwundetentransports wurden zudem bewilligt. Zum einen ist dies die Entwicklung und Beschaffung von geschützten Verwundetentransport-Containern, die den geschützten Transport von verletztem oder verwundetem Personal von einer medizinischen Einrichtung in eine andere ermöglichen. Das zweite ist ein Rahmenvertrag über bis zu 500 ungeschützte, geländegängige, Verwundetentransportfahrzeuge mit denen die sanitätsdienstliche Versorgung und der Transport von Patientinnen und Patienten auch abseits befestigter Straßen und Wege gewährleistet werden soll. Sie ersetzen die veralteten Krankentransportwagen.

Joint Fire Support Team, schwer Das Missionsmodul Joint Fire Support Team, schwer (JFSTsw) basiert auf der eingeführten Trägerplattform Boxer und ist ein Komplementärsystem zum

bereits bei den Streitkräften eingeführten System auf dem Radpanzer Fennek. “Das Missionsmodul koordiniert das Feuer dieser bodengebundenen Wirksysteme und den Einsatz der Kampfhubschrauber des Heeres, aber auch der Wirkmittel der Luftwaffe und der Marine”, beschreibt das BMVg. “Gebilligt wurde die Entwicklung des JFSTsw, wobei zunächst ein Nachweismuster auf zwei Fahrzeugen hergestellt werden soll.”

Marinebetriebsstoffversorger Klasse 707 Die Marine erhält zwei neue Betriebsstoffversorger der neuen Klasse 707 als Ersatz für die beiden Betriebsstofftransporter der Klasse 704 (Rhön und Spessart), die seit 1977 im Einsatz sind. Der Ersatz wurde notwendig, weil internationale Vorschriften mittlerweile Doppelhüllentanker vorschreiben. Für Kriegsschiffe galt zwar weiterhin eine Ausnahme, aber auch diese sollte aus Sicherheitsgründen nicht ewig ausgereizt werden. Deutschland hat der NATO durchgehend bis zum Jahr 2040 zwei Schiffe zur Betriebsstoffversorgung auch verbündeter Marinen angezeigt.

Nachrüstung Schützenpanzer Puma Am 28. Juni unterzeichnete das BAAINBw einen Großauftrag zur Fähigkeitserweiterung der Schützenpanzer (SPz) Puma. Mit den vereinbarten Maßnahmen soll die Hälfte der Pumas des ersten Loses auf einen einheitlichen Kon­s truktionsstand gebracht werden, mit der Option zur Umrüstung der verbliebenen Pumas. “Der Vertrag umfasst als Basisleistung die Umrüstung von 150 SPz Puma (zuzüglich vier Nachweismustern), eine Konzeptstudie zur Erreichung der vollständigen operationellen Einsatzreife, die Beschaffung von Transport- und Lagerbehältern sowie umfassende logistische Leistungen. Das Auftragsvolumen beläuft sich auf etwa eine Milliarde Euro”, schreibt das BAAINBw. “Darüber hinaus wurden Optionen zur Umrüstung weiterer 143 SPz Puma sowie Maßnahmen zur Erhöhung des zulässigen Gesamtgewichts auf 45 Tonnen vereinbart. Das gesamte Vertragsvolumen einschließlich aller optionalen Anteile beläuft sich auf circa 1,85 Milliarden Euro.” Neuerungen der Puma-Version S1 sind unter anderem die Integration abstandsfähiger Effektoren wie des Mehrrollenfähigen Leichten Lenkflugkörpersystems (MELLS), zusätzlicher Sensoren wie des neuen Fahrersichtsystems und einer verbesserten Führungsarchitektur. MELLS wird beim Puma in den Turm integriert und nicht wie beim Marder als Waffe für den abgesessenen Ein-

satz mitgeführt. “Die Integration der Waffenanlage Mehrrollenfähiges Leichtes Lenkflugkörpersystem (MELLS) ermöglicht die Bekämpfung hochgeschützter Ziele”, berichtet das BAAINBw. “Zudem werden vorbereitende Maßnahmen getroffen, die in der Entwicklung befindlichen, Turm-unabhängigen sekundären Waffenanlagen (TSWA) zu integrieren.” Zu den weiteren neuen Fähigkeiten schreibt Rheinmetall: “Das neue Rundum- und Fahrersichtsystem leitet das Ende der Ära des Winkelspiegels ein. Erstmalig kann die gesamte Besatzung bei Tag wie bei Nacht “durch die Panzerung” sehen. Der Fusionsmodus verbindet die Tagsicht mit dem leistungsstarken Wärmebild und ermöglicht die frühzeitige Aufklärung getarnter Ziele bei Tag wie bei Nacht. Der Puma ist das erste westliche Gefechtsfahrzeug, das serienmäßig mit einem solchen System in der Nutzung ist.”

Naval Strike Missile Block 1A Die Naval Strike Missile (NSM) Block 1A ist ein weitreichender Seeziellenkflugkörper und soll in der Marine künftig von den Fregatten der Klassen 124, 125 und 126 eingesetzt werden. Es ersetzt die Harpoon. Mit der NSM lassen sich zusätzlich Landziele bekämpfen. “Auf Basis der deutsch-norwegischen Marinerüstungskooperation erfolgt die Beschaffung durch Norwegen als Lead Nation”, berichtet das BMVg. “In einem weiteren Schritt ist eine deutsch-norwegische Gemeinschaftsentwicklung eines neuen Seeziellenkflugköpersystems Future Naval Strike Missile vorgesehen.”

P-8A Poseidon Hauptsächlich tragen die deutschen Seefernaufklärer – aktuell in Einsätzen wie IRINI oder davor ATALANTA – zum Überwasserlagebild bei. Die besondere Fähigkeit ist allerdings die Suche nach U-Booten. “Die P-8A Poseidon wurde entwickelt, um die Zukunft der U.S. Navy im Bereich der Seefernaufklärung zu sichern”, beschreibt die amerikanische Marine. “Sie hat die Art und Weise verändert, wie die Seefernaufklärungskräfte der Navy eingesetzt und ausgebildet werden, wie sie arbeiten und wie sie in den Einsatz gehen.”

Korea und Neuseeland – der achte Nutzer der P-8A Poseidon. Mit über 130 Flugzeugen im weltweiten Einsatz und über 300.000 Gesamtflugstunden ist die P-8A in diesen Streitkräften bereits für die globale U-Boot-Abwehr, -Aufklärung und Überwachung sowie für Such- und Rettungseinsätze unverzichtbar. “Wir werden weiterhin mit der US-Regierung, der deutschen Regierung und der Industrie zusammenarbeiten, um ein zuverlässiges Wartungspaket zu erstellen, das die Einsatzbereitschaft der P-8A-Flotte der Deutschen Marine sicherstellt”, sagte Michael Hostetter, Boeing Defense, Space & Security Vice President in Deutschland. Hierfür waren im Vorfeld des FMS-Angebots bereits Vereinbarungen mit deutschen Unternehmen geschlossen worden.

Pegasus Das Aufklärungssystem Pegasus (Persistant German Airborne Surveillance System) besteht aus drei Luftfahrzeugen des Typs Bombardier Global 6000 als Trägerplattform mit eingerüstetem Missionssystem zur Signalerfassung. Damit wurde wieder eine bemannte Lösung gewählt, während ursprünglich eine unbemannte Lösung im Fokus stand. Die Global 6000 werden mit Sensorik für die signalerfassende Aufklärung ausgestattet, das Missionssystem dient der Fernmelde- und Elektronischen Aufklärung. Die Bereitstellung des ersten Systems ist für das Jahr 2026, der Abschluss der Lieferung für 2028 vorgesehen. Das Projekt hat ein Finanzvolumen von rund 1,54 Milliarden Euro. Am 29. Juni schloss das BAAINBw mit dem Auftragnehmer Hensoldt Sensors nun den Realisierungsvertrag für die Entwicklung und Beschaffung von drei Systemen zur signalerfassenden luftgestützten weiträumigen Überwachung und Aufklärung (SLWÜA). “Seit der Außerdienststellung des Aufklärungsflugzeuges Breguet Atlantic SIGINT (BR 1150ATL SIGINT) zum 30.06.2010 steht der Bundeswehr kein luftgestütztes System zur signalerfassenden Aufklärung (SIGINT: Signals Intelligence) zur Verfügung”, berichtet das BAAINBw. “Diese seit elf Jahren bestehende Fähigkeitslücke wird mit dem nun vereinbarten Vertrag geschlossen.”

U-Boote der Klasse 212 CD Ebenfalls als deutsch-norwegische Kooperation (wie die Naval Strike Missile) werden insgesamt sechs U-Boote (zwei für Deutschland) der Klasse 212 Common Design (U 212 CD) konstruiert und gebaut. Sie basieren auf den bereits vorhandenen U-Booten

Durch die Nachrüstung erhalten die Schützenpanzer Puma unter anderem abstandsfähige Effektoren wie MELLS. Foto: BS/Rheinmetall

Am 30. Juni unterzeichnete das deutsche Verteidigungsministerium die Angebots- und Annahmeerklärung (Letter of Acceptance) für fünf BoeingP-8A-Poseidon-Flugzeuge im Rahmen des Foreign Military Sales (FMS) der US-Regierung. Wir berichteten über das amerikanische Angebot. Mit dieser Bestellung wird Deutschland – nach den USA, Australien, Indien, Großbritannien, Norwegen,

der Klasse 212 A. “Operationen an der Nordflanke der NATO sowie der Materialerhalt sollen künftig gemeinsam erfolgen”, berichtet das BMVg. “Auf der Basis identischer Boote wird damit eine neue Dimension der Kooperation erreicht. Die neue U-Bootklasse mit zunächst zwei Booten für Deutschland ist Voraussetzung für den Erhalt der Schlüsseltechnologie Marineschiffbau und Unterwasserseefahrt.”


Wehrtechnik

Behörden Spiegel / Juli 2021

Augmented und Virtual Reality in der Marine

MELDUNGEN

Neuaufstellung des CIR (BS/df) Der Cyber- und Informationsraum (CIR) hat erste Details zu seiner Reform bekannt gegeben, mit der er den Platz als eigenständige Teilstreitkraft bzw. Dimension neben Heer, Luftwaffe und Marine einnehmen wird. “Das “Joint Intelligence Centre”, das neue und zentral wirksame Element des Militärischen Nachrichtenwesens für die strategische und operative Ebene, wird dem Inspekteur Cyber- und Informationsraum truppendienstlich unterstellt”, berichtete der CIR. “Zudem wird der Organisationsbereich CIR seine Verantwortung und Kompetenzen in den Bereichen Konzeption und Weiterentwicklung in einem “Cyber and Information Domain War-

fare Centre” bündeln. Geplant ist eine Zusammenführung aller Elemente in einem “Systemhaus Cyber- und Informationsraum/ Zentrum Digitalisierung der Bundeswehr”. Des Weiteren wird das zukünftige Weltraumkommando in der Luftwaffe in engem Zusammenwirken mit dem Organisationsbereich CIR aufgestellt und betrieben. Durch den im Eckpunktepapier angewiesenen Ausbau der Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und dem Nationalen Cyber-Abwehr-Zentrum verstärkt der Organisationsbereich CIR seine bereits laufenden, ressortübergreifenden Aktivitäten im Bereich der gesamtstaatlichen Cyber-Sicherheit.”

Auslieferung des letzten Boxers (BS/df) Am 22. Juni wurde der letzte der bisher beauftragten Boxer an die Bundeswehr übergeben. Das Gepanzerte Transport-Kraftfahrzeug (GTK) Boxer entstand als internationales Projekt unter OCCAR-Führung und konnte sich bereits im weltweiten Wettbewerb bei verschiedensten Nationen durchsetzen. Die Bundeswehr schloss im Dezember 2015 über die OCCAR einen Vertrag mit der ARTEC GmbH – einem Joint Venture bestehend aus Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und Rheinmetall Landsysteme (RLS) – zur Fertigung der 131 Fahrzeuge des zweiten Loses mit einem Finanzvolumen von etwa 478 Millionen Euro. Im November 2017 wurde das erste Fahrzeug ausgeliefert. “In die jetzt ausgelieferte Version des GTK Boxers A2 sind viele Erfahrungen und Modifikationen aus dem Afghanistan-Einsatz eingeflossen”, beschreibt das BAAINBw. “Einerseits hat die Modernisierung der Brandunterdrückungsanlage einen verbesserten Schutz des Gesamtsystems sowie der Fahr-

zeuginsassen zur Folge. Andererseits minimiert die geänderte Abgas- und Kühlluftführung die Gefährdung der in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs abgesessenen Soldatinnen und Soldaten und reduziert gleichzeitig die gegnerische Aufklärung durch Signaturreduzierung in Form von Hotspots am Fahrzeug oder Staubaufwirbelung in trockenem, wenig bewachsenem Gelände. Zusätzlich wird der GTK Boxer A2 um eine Satellitenkommunikationsanlage für die weltweite Funkanbindung und die Waffenstation um eine zweite Bedieneinheit erweitert, sodass eine flexiblere Aufgabenverteilung innerhalb der Fahrzeugbesatzung möglich ist. Des Weiteren wurde das Fahrzeug für den Einbau eines Fahrersichtsystems vorbereitet, um daran anknüpfend alle gesetzlichen Vorgaben zum Sichtfeld des Militärkraftfahrers zu erfüllen.” Insgesamt erhielt die Bundeswehr 405 Boxer. 72 Boxer in der Variante Ambulanz, 65 Führungsfahrzeuge und 256 Infanteriegruppenfahrzeuge.

Unterstützte Vorhaben von Soldaten für Soldaten (Dr. Stephanie Khadjavi*) Aktuell in der Planung für die Marine: Lassen sich durch den Einbezug einer erweiterten Realität (Augmented Reality, kurz AR) die existenten Führungssysteme am Beispiel des Tenders verbessern? Und: Simulation von “Feuer am Schiff” in einer digitalen, künstlichen Welt (Virtual Reality, kurz VR), um Soldatinnen und Soldaten für den Ernstfall einfach und effizient zu schulen. Nach einer erfolgreichen ersten Pilotphase wurde der Cyber Innovation Hub der Bundeswehr (CIHBw) Anfang letzten Jahres verstetigt und ist seither als eine Abteilung in der BWI GmbH, dem IT-Systemhaus der Bundeswehr, verankert. Mit seiner Vision “Empowering Innovation in Defence” hat sich der Hub zwischenzeitlich als fester Bestandteil des “Innovationsökosystems” des BMVg etabliert, wie auch im dritten Bericht zur digitalen Transformation des Geschäftsbereichs des BMVg zu lesen ist. Er agiert an der Schnittstelle zwischen Start-upÖkosystem und Bundeswehr und soll die digitale Transformation der Streitkräfte mit vorantreiben.

Sichtfeld des Soldaten bei der Feuerbekämpfung

der zuständige Projektleiter im BAAINBw. “Hier werden auf einen Schlag vier bisher genutzte und am Ende ihrer Nutzungsdauer angekommene Systeme durch ein einziges, dem aktuellen Stand der Technik entsprechendes System ersetzt. Dies vereinfacht nicht nur die Zusammenarbeit unterschiedlicher Truppenteile, sondern auch die Ersatzteillogistik und Systemkompatibilität untereinander.” Das System BARÜ wird das Panzeraufklärungsradar (PARA), das Artilleriebeobachtungsradar (ABRA), das Leichte Gefechtsfeldaufklärungsradar (LEGAR 1) und das Bodenüberwachungsradargerät 550 (BOR-A 550) ersetzen. Der Vertrag mit der ESG enthält neben den Systemen auch weitere Leistungen wie Ausbildungslehrgänge, ­Ausbildungsmittel sowie Ersatzteile.

Erste F 126 kommt voraussichtlich 2028 (BS/df) Damen Naval und DNV Maritime haben einen Vertrag über die Klassifizierung und Verifizierung der neuen Fregatten F126 für die Deutsche Marine unterzeichnet. Das niederländische Unternehmen Damen Naval baut die vier Fregatten (plus einer Option auf zwei weitere) zusammen mit Blohm+Voss und Thales, nachdem es im Jahr 2020 als Ergebnis einer europaweiten Ausschreibung den Zuschlag erhielt. Das erste Schiff wird voraussichtlich 2028 in Hamburg an die Deutsche Marine ausgeliefert. Alle Bauarbeiten werden in Deutschland durchgeführt: in Hamburg, Kiel und Wolgast. DNV Maritime soll nun in Hamburg, Wolgast

und Kiel während der gesamten Projektlaufzeit umfangreiche Arbeiten durchführen und eingehende Schiffsverifizierungen und Besichtigungen vornehmen. Dazu gehört beispielsweise die Unterstützung bei der Definition der sogenannten “Schedule of Performance”-Zertifikate und bei der Interpretation der Bauspezifikationen und Dokumente. Außerdem wird DNV während der gesamten Bauzeit Unterstützung bei der Abnahme des Designs und der Konstruktion der ursprünglich als Mehrzweckkampfschiff (MKS) bezeichneten Fregatten leisten. Ende vergangenen Jahres fand die Umbenennung des MKS in F126 statt.

Fotos: BS/CIHBw

Soldat im Mittelpunkt Den Ausgangspunkt der Innovationsvorhaben des CIHBw bildet stets ein konkreter Bedarf beim Nutzer innerhalb der Bundeswehr oder im Geschäftsbereich des BMVg. Ziel ist, deren Arbeit mit innovativen Ideen und Lösungen vorzugsweise aus der Start-upWelt zu unterstützen und zu vereinfachen. Gleichzeitig unterhält der CIHBw ein IntrapreneurshipProgramm, das Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiterer und Mitarbeiterinnen befähigt, wie Gründer zu agieren und eigene Innovationsideen zur Auftragserfüllung voranzubringen. Neben neuen Ideen “für die Truppe durch die Truppe” wird dadurch auch der generelle Kulturwandel hin zu mehr Innovationsbereitschaft und unternehmerischem Denken gefördert.

Intrapreneurship in der Marine “Immer häufiger finden die In­ trapreneure uns”, so Jan Krahn, Innovationmanager im CIHBw. “Wir haben gelernt, dass es in der

Schottöffnungsverfahren des Brandabwehr-Trupps aus Ausbilderperspektive

Stage Gates des CIHBw Innovation Funnel erfolgte. Seit Ende Februar wird an der Idee gearbeitet, die ersten Planungssprints sind abgeschlossen.

Innovationsvorhaben zur Digitalisierung der ­Tender-Führungssysteme In seinem Vorhaben geht es um die Digitalisierung der Führungssysteme auf einem Tender der Klasse 404. Konkret wird der Einsatz des MESE-basierten “Standard-Führungs- und Waffeneinsatzsystems NM” und die Erweiterung des Systems mit Augmented Reality (AR) unter-

Beschaffung von mobilen Radarsystemen (BS/df) Das BAAINBw hat einen Vertrag über die Herstellung und Lieferung von insgesamt 69 mobilen Radarsystemen für die Bundeswehr unterzeichnet. Die Auslieferung soll bereits Anfang 2022 beginnen und bis Mitte 2024 abgeschlossen sein. Mit dem neuen Radarsystem “Bodengebundenes Aufklärungs- und RaumÜberwachungssystem” (BARÜ) erhält die Bundeswehr nun ein modernes System zur umfassenden Informationsgewinnung und automatisierten Zielaufklärung. Für die permanente Aufklärung und Überwachung großer Räume ist das BARÜ bei nahezu allen Wetterbedingungen, bei Tag und Nacht und aufgrund des hohen Automatisierungsgrades mit geringem Personalansatz einsetzbar. “Dieser Generationenwechsel ist ein Quantensprung für unsere Soldatinnen und Soldaten”, sagte

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Ein weiteres Innovationsvorhaben bezieht sich auf die Digitalisierung der ­Führungssysteme der Tender. Foto: BS/Bundeswehr, Paul Figdor, flickr.com

Bundeswehr viel mehr innova­ tive Köpfe gibt, als wir zu hoffen gewagt hatten. Sie warten nur darauf, mit einem starken Partner ihre Ideen voranzutreiben.” Ein Intrapreneur, der sich durch seine Eigeninitiative die Unterstützung des CIHBw für ein Innovationsvorhaben hartnäckig erarbeitet hat, ist Korvettenkapitän Volker Voß aus dem Marineunterstützungskommando in Wilhelmshaven. Nach dem Erstkontakt noch im letzten Quartal 2020 nahm er zunächst an einem durch den CIHBw organisiertem Pitch-Training teil. Hier lernte er neue Methoden kennen, wie man seine Zuhörerschaft von seiner Idee begeistert. Dadurch gut vorbereitet, konnte er noch im Dezember mit seinem Innovationsvorschlag das Team des CIHBw überzeugen. Im Januar fiel dann die Entscheidung, ein Innovationsvorhaben zu starten, schon im Februar wurden die ersten Hürden genommen und der Startschuss durch das erfolgreiche Passieren der ersten

sucht. Unter AR versteht man die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Die Einbindung entsprechender AR-Brillen soll der Darstellung der Lage auf der Brücke dienen und damit die Führungsfähigkeit des Tenders erhöhen. Zusätzlich zum Lagebild im Terminal sollen der Besatzung damit dann – mit “Blick ins Gelände” – frei konfigurierbare Informationen im Head-Up-Display angezeigt werden. Durch diese Erweiterung der Realität ist zu erwarten, dass besonders in kritischen Situationen mit erhöhtem Stress, eingeschränkter Sicht oder hoher Komplexität die Situal Awareness erheblich erhöht und damit die Führungsfähigkeit weiter verbessert wird. Die Herausforderung besteht zunächst vor allem in der Verbindung der verschiedenen Sensoren und den jeweiligen Führungssystemen, die aktuell im Einsatz sind. Die derzeitige IT stammt in Teilen von unterschiedlichen Herstellern und ist oftmals nicht

miteinander kompatibel. Die Software funktioniert nur auf einer jeweils spezifischen Hardware und auch der Austausch von Daten ist eine große Hürde. In einem ersten Schritt im Rahmen des CIHBw-Innovationsvorhabens soll deshalb das vom In­ trapreneur entwickelte Protokoll/ Datenmodell zum Austausch sicherheitskritischer Echtzeitdaten (SEDAP) implementiert werden. Ziel ist es, verschiedene Systeme und Sensoren durch den Einsatz von standardisierten Programmier- und Datenschnittstellen sehr einfach in ein StandardFührungssystem zu integrieren. Ist die Datenintegration abgeschlossen, folgt im zweiten Schritt die Implementierung der auf die Tender-Besatzung angepassten Lagebilddarstellung. Dazu wird auf das modulare, ergonomische Dialog- und Anzeigesystem (MEDAS) zurückgegriffen. Das MEDAS-Framework stellt als Baukastensystem erprobte Applikationen für die Lagebilddarstellung zur Verfügung. In agilen Iterationen wird das System an die Bedürfnisse der Besatzung angepasst. Im dritten Schritt werden dann über die vorhandenen Schnittstellen AR-Fähigkeiten in das System integriert. MEDAS und SEDAP zusammen bilden das Softwareframework MESE (militärisch erweiterbare Softwareentwicklungsumgebung). Das Softwareframework MESE diente schon in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Projekten als Basis für die Bereitstellung von äußerst fortschrittlichen Lagedarstellungssystemen. Nach erfolgreicher Systemkonfiguration und anschließender Einrüstung auf einem ausgewählten Tender erfolgt die Experimentierphase. In dieser nutzerzentrierten Testphase werden alle Erfahrungen direkt und iterativ in die weitere Systemverbesserung miteinbezogen.

Innovationsvorhaben VR Firefighter Ein weiteres Beispiel für Innovationsvorhaben für die Marine ist der VR Firefighter. Auf seegehenden Einheiten wird die Rolle “Feuer im Schiff” nahezu täglich ausgerufen, um die Besatzung gegen diese omnipräsente Gefahr gewappnet zu halten. Bei dieser Übung geht es meist allerdings nur darum, dass die richtigen Soldaten mit der richtigen Aus-

rüstung am richtigen Ort die Löschstrecke möglichst schnell aufgebaut haben, um theoretisch mit der Brandbekämpfung starten zu können. Die eigentliche Brandbekämpfung – also das taktische Vorgehen im Team und die Löschung des Brandes – wird hingegen eher selten praktisch geübt. Schließlich erfordert eine solche Simulation eine längere Vor- und Nachbereitung, um beispielsweise echten Rauch zu generieren oder sogar ein echtes Feuerlöschmittel einzusetzen. Im Anschluss solcher Übungen müssen dann entsprechende Verschmutzungen aufwendig wieder entfernt werden. Mit dem VR Firefighter verfolgt der CIHBw das Ziel, der Marine eine Möglichkeit zu geben, auch diese elementaren Ausbildungsinhalte einfach, schnell und so realitätsnah wie möglich üben zu können, ohne das Schiff anzünden und unter Wasser setzen zu müssen. Dazu arbeitet die Innovationseinheit mit Start-ups zusammen, die sich darauf spezialisiert haben, die dafür notwendigen Ausbildungsschritte in einer Virtual-Reality(VR)-Anwendung zu simulieren.

Einsatz von Datenbrillen zu Ausbildungszwecken Die auszubildenden Soldaten und Soldatinnen müssen nur noch die VR-Brille aufsetzen und finden sich im virtuellen Raum plötzlich auf ihrem Schiff wieder, wo sie “echten” Rauch und “echtes” Feuer mit “echtem” Löschmittel bekämpfen können. Von zusätzlichem Vorteil ist, dass Ausbilder und weitere Zuschauer die Möglichkeit haben, an einem Bildschirm die Übung aus der Ich-Perspektive der übenden Soldaten und Soldatinnen live zu beobachten und zu kommentieren. Weiterhin besteht die Möglichkeit das Ganze aufzuzeichnen und im Anschluss zu besprechen. Per Knopfdruck können die Soldaten verschiedenste Szenarien durchspielen, um beispielsweise erst einen Fett-Brand in der Kombüse, dann einen Schwelbrand im Maschinenraum oder eine Rauchentwicklung in einem Unterkunftsraum zu bekämpfen. Ein solches System ist kosteneffizient und lässt sich sowohl an Bord als auch an Land jederzeit zu Übungszwecken einsetzen. Hierzu arbeitet der CIHBw mit dem Einsatzausbildungszen­ trum für Schadensabwehr der Marine zusammen, damit die erfahrenen Spezialisten diese innovative Technik selbst testen und bewerten können. Denn die Innovationsmanager des CIHBw bringen grundsätzlich stets nur die neuste Technik mit den jeweils kompetenten Nutzern in der Truppe zusammen, damit diese selbst fachmännisch beurteilen können, ob die innovativen Lösungen wirklich einen Mehrwert stiften. Allgemein ist die Einführung neuer Technologien in der Marine maßgeblich davon abhängig, dass es Soldaten und Soldatinnen gibt, die neugierig und gewillt sind, solche Lösungen auszuprobieren und aktiv mitzuarbeiten. Glücklicherweise sind Marinesoldatinnen und -soldaten von Natur aus mutig, weil Seefahren gleich den Horizont erweitern bedeutet. Nicht zuletzt deshalb ist davon auszugehen, dass auch diesem Projekt noch viele weitere folgen werden. *Dr. Stephanie Khadjavi, Communications & Strategic Partnerships beim Cyber Innovation Hub der Bundeswehr


Verteidigung

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Ein neues Zeitalter steht vor der Tür Dritte sicherheitspolitische Grundsatzrede der Ministerin

Behörden Spiegel / Juli 2021

MELDUNGEN

Antrag des US-Verteidigungsetats (BS/df) Im Juni legte der ameri-

Geld in diesen Bereich investiert

entwurf des Verteidigungsministeriums für das Jahr 2022 dem Senat vor. Austin betonte, dass dieser Etat mit rund 715 Milliarden Dollar es dem Ministerium ermöglichen würde, “die Ressourcen mit der Strategie, die Strategie mit der Politik und die Politik mit dem Willen des amerikanischen Volkes in Einklang zu bringen”. Das Budget würde neben dem Erhalt der Fähigkeiten auch die notwendige Investition in neue Technologien wie Hyperschallwaffen, Künstliche Intelligenz, Mikroelektronik, 5G-Technologie, weltraumgestützte Systeme, Schiffsbau und die nukleare Modernisierung ermöglichen. Mit darin enthalten sind 112 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung. Noch nie zuvor sei durch das Verteidigungsministerium so viel

mit China zu bleiben. “Das Ministerium muss bereit sein, mit unseren Gegnern Schritt zu halten und, wenn nötig, den nächsten – nicht den letzten – Krieg zu kämpfen und zu gewinnen”, sagte Austin den Senatoren. Er berichtete, die China-Taskforce des Verteidigungsministeriums habe ihre Arbeiten bereits abgeschlossen und er habe daraus erste Maßnahmen abgeleitet, um “unsere Abschreckung gegen die Volksrepublik China zu stärken, unser Netzwerk regionaler Verbündeter und Partner wiederzubeleben und die Entwicklung von Spitzenfähigkeiten und neuen operativen Konzepten zu beschleunigen”. Für das Jahr 2021 war der Verteidigung seinerzeit vom Senat nur ein Budget von 705 Milliarden Dollar genehmigt worden.

(BS/df) Kurz vor Beginn der Sommerpause – danach wird der Wahlkampf das Ende des aktiven Arbeitens in dieser Legislatur einläuten – hielt Ver- kanische Verteidigungsminister, worden. Zudem ermögliche es der teidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an der Führungsakademie der Bundeswehr ihre dritte sicherheitspolitische Grundsatzrede. Lloyd J. Austin den Haushalts- Budgetantrag, auf Augenhöhe “Es ist gerade in vielen Bereichen unseres Lebens spürbar, dass ein neues Zeitalter vor der Tür steht. Ob wir über das Leben und Arbeiten in einer voll digitalisierten Welt sprechen oder über die große Aufgabe Klimaschutz. Ob wir über Chinas Aufstieg und seine Ambitionen sprechen oder über die Ordnung der Welt und ihre neuen Machtzentren. Ob wir über die rasante Entwicklung neuer Technologien sprechen oder bisher nicht gekannte Arten der Kriegführung. Überall spüren wir instinktiv: Etwas ganz Neues wird kommen. Und es wird die Welt, die wir kennen, sehr verändern”, sagte die Ministerin und betonte: “Unsere Sicherheit, unser Wohlstand, unsere sozialen Systeme und die politische Gestaltungskraft werden entscheidend davon abhängen, dass Deutschland und Europa eine technologische Führungs- und Gestaltungsrolle haben. Dafür müssen wir schneller, innovativer, kreativer, mutiger und vielleicht auch ein Stück weit cleverer werden.”

Zwei große Aufgaben für Deutschland Bei den Gipfeltreffen der vergangenen Woche sei dieser Geist der Veränderungen, des Wandels und Aufbruchs deutlich spürbar gewesen. “Der Westen ist wieder da”, nannte die Ministerin die wichtigste Botschaft dieser Treffen. Deutschland müsse allerdings zwei große Aufgaben schultern, um diese neue Welt mitgestalten zu können. Erstens müsse Deutschland “unbedingt” die Technologien der Zukunft meistern. “Den rasanten technologischen Wandel müssen wir nicht nur interessiert beobachten oder ertragen, sondern

heißt Abschrecken mit der Androhung militärischer Gewalt, um so Raum für politische Lösungen zu schaffen. Aber notfalls heißt es auch Anwendung militärischer Gewalt, also kämpfen.”

Druck auf die internationale Ordnung

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer beschrieb in ihrer dritten sicherheitspolitischen Grundsatzrede die Eckpunkte des neue Zeitalters, das gerade anbreche. Foto: BS/Bundeswehr, Katharina Roggmann

wir müssen ihn in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt aktiv mitgestalten – gerade im Bereich der Sicherheit und Verteidigung”, betonte KrampKarrenbauer. Zum Zweiten müsse Deutschland seine Verantwortungsrolle in Europa annehmen. “Wir müssen endlich wirklich führen!” Diese Verpflichtung ergebe sich aus der Lage und den Fähigkeiten Deutschlands, das als großes und leistungsstarkes Land in der Mitte des Kontinents der Anker für Europa sei, fest eingebunden in NATO und EU. “Wir müssen dem Ringen um Werte Muskeln verleihen”, sagte die Ministerin. “Die Bundeswehr ist einer der Orte, an dem sich für die Zukunft erweisen wird, ob wir diese beiden Aufgaben lösen können: Fortschritt aktiv gestalten und verantwortungsvoll führen.”

Investition in europäische Werte Sie sei zu diesem Mehr an Engagement bereit. “Wir müssen und werden von nun an mehr tun für die Verteidigung Europas, für unsere eigene Sicherheit und unsere Interessen. Wir müssen und wer-

den mehr tun für die westlichen Werte, die offene Gesellschaft und die Herrschaft des Rechts”, sagte Kramp-Karrenbauer. “Die Schutzmacht USA, auch unter Präsident Joe Biden, hat ihre erste Priorität nach Asien verschoben. Ich habe vor wenigen Tagen die amerikanische PazifikInsel Guam besucht. Da wird das spürbar, auf jedem Quadratmeter dieser Insel. Für uns Europäer bleibt also viel Platz für mehr Eigenverantwortung.” Dabei rede sie nicht von Bedrohungen irgendwo auf der Welt, sondern von Vorfällen, die entweder direkt in Europa geschähen – wie der “mal verdeckte, mal offene Krieg” Russlands in Osteuropa – oder die direkt das Leben europäischer Bürger bedrohten – wie Terrorismus und Organisierte Kriminalität in scheiternden Staaten. China dränge zudem “mit Macht und Geld nach Europa”, um hier “zur faktischen Vetomacht zu werden”. Diesen Bedrohungen zu begegnen, erfordere “das ganze Spektrum von der Diplomatie und Verhandlung bis zur Verteidigung mit militärischen Mitteln”, sagte die Ministerin. “Verteidigung, das

Die Vergangenheit werde Deutschland nie loslassen, sie dürfe aber auch nicht als Ausrede für mangelndes Engagement in der heutigen Zeit dienen. Die Bindungen in internationale Wertegemeinschaften wie NATO und EU reichten tief, Deutschland werde als verlässlicher Partner und gefestigte Demokratie geschätzt. Zudem erlaubten es die neuen Bedrohungen nicht, die Umstrukturierung der Weltordnung nur als Beobachter vom Rand aus zu betrachten. “Die chinesische Führung hat gerade ganz offen erklärt, dass sie beim Kampf um Weltgeltung verstärkt auf Propaganda und Desinformation setzen will. Schon jetzt setzt Peking seine Blauen Männchen im südchinesischen Meer so ein, wie Russland es auf der Krim und in der Ostukraine mit den Grünen Männchen getan hat”, beschrieb die Ministerin. “Die internationale Ordnung, auf die wir bauen, steht also massiv unter Druck. Das betrifft uns Deutsche direkt.” Gerade der deutsche Wohlstand, das Leben der Bürger dieses Landes, hänge von den Exporten, von freien Märkten und offenen Handelswegen ab. Die Ministerin betonte: “Deutschland und Europa haben in dieser neuen Welt, die entsteht, viel zu verlieren: Freiheit, Frieden, Wohlstand. Wir müssen und werden also mehr tun, weil das für uns von existenzieller Bedeutung ist.”

Neuerungen in der Marine Grundsatzrede des Inspekteurs der Marine (BS/df) Nach 100 Tagen im Amt hielt der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, Ende Juni vor der Marineunteroffizierschule seine erste Grundsatzrede, in der er sowohl die Neuerungen durch die Reform als auch die Erfordernisse der sich verschiebenden Weltordnung betrachtete. “Das Eckpunktepapier liefert uns gute Ansätze und stellt eine hervorragende Chance für unsere Marine dar”, sagte Vizeadmiral Schönbach. “Mit der Aufstellung eines zukünftigen Systemhauses See soll ein wichtiger Schritt getan werden, um die Instandsetzung unserer Einheiten zu beschleunigen und Teile der Nutzung besser zu gestalten. Hierzu gibt es unterschiedlichste Überlegungen, die noch nicht abschließend geprüft sind. Eine Idee könnte sein, zunächst das Marineunterstützungskommando als Nukleus zu betrachten und das Marinearsenal hinzuzufügen sowie langfristig um weitere Partner zu ergänzen. Die teilweise katastrophalen Zeitlinien bei Werftvorhaben könne so hoffentlich deutlich verbessert werden”, betonte der Inspekteur. “Die Instandsetzung muss wieder der Einsatzbereitschaft dienen und nicht der größte Stein auf dem Weg dorthin sein.”

Führung und das Maritime Warfare Center Das zweite wichtige neue Element sei das Maritime Warfare Center, dessen Kern wahrscheinlich das Taktikzentrum der Marine in Bremerhaven bilden werde. “Ein zukünftiges Maritime Warfare Center ermöglicht die Verzahnung von Doktrin- und Taktikentwicklung, Übungsvorhaben, synthetischer Ausbildung und der Erprobung von Einsatzverfahren. Genauso sollen die

Steigende Bedrohungslage

Der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, ging besonders auf die Folgerungen aus dem Eckpunktepapier ein. Foto: BS/Bundeswehr, Marcel Kröncke

Expertise und Erfahrungen unserer Flotte direkt mit der Weiterentwicklung und Ausbildung verbunden werden.” Des Weiteren seien die Vorgaben des Eckpunktepapiers bezüglich der Sicherstellung der Führungsfähigkeit umzusetzen. “Meine Absicht dabei ist, den Bereich des Befehlshabers im Sinne der Landes- und Bündnisverteidigung zu stärken. Eine Option wäre deshalb, die operativen und gegebenenfalls auch logistischen Führungsanteile von den Aufgaben meines Stabes in der Funktion einer höheren Kommandobehörde zu trennen, um die Verantwortung für die Flotte und Unterstützungskräfte unter ihrem Befehlshaber zu stärken. Ziel soll eine klare Trennung von prozessualen Verfahren und klassischen Führungsaufgaben sein.”

Viele der durch das Eckpunktepapier angestoßenen Neuerungen seien auch dringend notwendig. “Ich habe häufig den Eindruck, dass bei unseren Alliierten und Partnern die Deutsche Marine als zahnloser Tiger wahrgenommen wird. Unsere Professionalität wird allgemein geschätzt, jedoch fehlt nach Wahrnehmung unserer Partner der “Up-threat”, die Ausrichtung auf die Bedrohung der Deutschen Marine. Mit Blick auf die Bedrohungsanalyse der NATO ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, nicht nur defensiv handeln zu können. Russland und China rüsten stetig auf. Allein China hat in den letzten vier Jahren Schiffe in der Zahl der gesamten französischen Marine in Dienst gestellt und ein enges Netzwerk an weltweit verteilten Marinestützpunkten aufgebaut”, beschreibt Vizeadmiral Schönbach.

Die Marine stehe vor ­“wirklich großen Problemen” Dieser steigenden Bedrohung stehe allerdings eine Marine gegenüber, die tatsächlich nicht den Ansprüchen und Anforderungen genüge. So habe er bei seiner Antrittsreise erleben müssen, dass den motivierten Soldatinnen und Soldaten oft eine ungenügende Ausrüstung zur Verfügung stehe. “Die Marine steht gegenwärtig nicht nur vor Herausforderungen, wie vielfach relativierend formuliert wird – die

Marine steht vor wirklich großen Problemen und die müssen wir auch ehrlich so benennen.” Vorgaben würden dabei oft zum Hemmschuh, statt Lösungen zu ermöglichen. “Instandsetzungsund Beschaffungsvorhaben verzögern sich viel zu oft, die Auftragserfüllung im Zeitrahmen scheint im Wirkungsdreieck BAAINBw – Industrie – Marine nicht mehr möglich”, so der Inspekteur. Die verbleibenden einsatzbereiten Einheiten seien mit der Erfüllung von Aufträgen langfristig ausgelastet, zulasten der Ausbildung und Übungen. So scheitere das Training des hochintensiven Gefechts regelmäßig, weil die Einheiten bereits in anderen Aufträgen gebunden seien. Die hoch motivierten Soldatinnen und Soldaten der Marine, die noch manches möglich machen würden, verschleierten dabei das ganze Ausmaß des Problems. “Das ist unser Dilemma”, sagte Vizeadmiral Schönbach. “Trotz widrigster Umstände machen wir stets alles möglich. Wie schon angesprochen, schicken wir trotz einer katastrophalen Instandsetzungslage in der Marine die Fregatte Bayern in den Pazifik. Die allgemeine Wahrnehmung, insbesondere im fernen Berlin, ist dann meist “geht doch!”. Das Preisschild, nämlich dass wir dafür die halbe Flotte auf den Kopf stellen mussten und die Besatzungen an ihre Belastungsgrenze bringen, geht dagegen meist im Nebel des Krieges unter.”

Verteidigungsetats der NATO-Länder (BS/df) Ebenfalls im Juni veröffentlichte die NATO ihren Bericht zu den Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten. Die Daten des Defence Expenditure Reports der NATO umfassen die Jahre 2014 bis 2021 und stützen sich auf die Angaben, welche das Verteidigungsministerium jedes Bündnispartners an die NATO meldet. “Die Beträge stellen die Zahlungen dar, die eine nationale Regierung im Laufe des Haushaltsjahres zur Deckung des Bedarfs ihrer Streitkräfte, der Streitkräfte der Bündnispartner oder der Streitkräfte des Bündnisses tatsächlich geleistet hat bzw. leisten wird”, beschreibt die NATO. Die Auswertung enthält wenig Überraschendes. Nach den großen Einschnitten in den 90ern ist die Tendenz seit 2015 steigend, wobei das Gesamtbild durch den Verteidigungsetat der USA stark beeinflusst ist, der 3,52 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Vereinigten Staaten entspricht. Deshalb führt die NATO auch in extra Grafiken die Ausgaben von “NATO Europe

and Canada” auf, die 2021 insgesamt 1,7 Prozent ihres BIPs in die Verteidigung investierten, während der Prozentsatz der NATO insgesamt (inklusive USA) bei 2,65 Prozent des BIPs liegt. Von den “größeren” Staaten der Allianz investieren die USA, Großbritannien, Frankreich und Polen mehr als zwei Prozent ihres BIPs in die Verteidigung der eigenen Bürger. Deutschland, als reichstes Land nach den USA, kommt 2021 nur auf 1,53 Prozent. Bei der Analyse, welcher Prozentsatz des Verteidigungsetats ins Material investiert wird (NATO-Ziel: 20 Prozent), ist Deutschland sogar mit 18,6 Prozent Fünftletzter. 24 Länder schaffen das 20-Prozent Ziel, fünf nicht. Die Grafik zur Verteilung des Verteidigungsetats zeigt allerdings, dass die Personalkosten im deutschen Budget vollkommen im Durchschnitt liegen. Überdurchschnittlich viel Geld wird hingegen für “Betrieb & Wartung und sonstige Ausgaben” aufgewendet. Nur bei Großbritannien und Estland ist dieser Anteil noch größer.

Militärische Rüstung für Europa (BS/df) “Gleichwertige, faire Partnerschaft und konsequente Anwendung der europäischen Kooperations- und Vergabeverfahren – das wird der Schlüssel zu Synergie im Rüstungsbereich sein!”, betonte Generalmajor a. D. Reinhard Wolski in seinem Vorwort zum Magazin “Military Procurement for Europe – Militärische Rüstung für Europa”, das im Rahmen der Reihe “Moderne Streitkräfte” erschienen ist. Das Heft ist zweisprachig, deutsch und englisch, und lässt die wichtigsten Akteure der europäischen Rüstung zu Wort kommen: Den Chief Executive der European Defence Agency (EDA), den Direktor der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation (OCCAR) sowie den General Manager der NATO Support Agency (NSPA). Hinzu kommen der Leiter der Abteilung Ausrüstung

im BMVg sowie der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV). EDA, OCCAR und NSPA stellen zudem in weiteren Kapiteln ihre Organisation, Vorhaben sowie Kooperationsmöglichkeiten vor. “Diese Organisationen haben sowohl im Bereich der gemeinsamen Fähigkeitsentwicklung als auch in der Rüstung neue und zukunftsweisende Prozesse und Mittel wie den European Defence Fund Kooperationen geschaffen”, beschreibt Generalmajor a. D. Wolski. Zusätzlich sei es wichtig, gerade in der Entwicklung des neuen Fähigkeitsprofils der Streitkräfte den deutschen Ansatz sowohl national wie in Europa darzustellen.” Das Magazin kann über www. behoerden-spiegel.de/sonderpublikationen/ bestellt werden.

USA überprüfen ihre Raketenabwehr (BS/df) Angesichts des Ausbaus der Raketenfähigkeiten durch Nationen wie China, Russland, Iran und Nordkorea planen die Vereinigten Staaten eine Überprüfung ihrer Raketenabwehr. Dieser Missile Defense Review beinhaltet nicht nur eine Evaluierung der Technologie sowie der militärischen Fähigkeiten, sondern auch eine (außen-)politische Flankierung bzw. Ausrichtung der USA. “Die Überprüfung wird sich an der Nationalen Verteidi-

gungsstrategie orientieren und zu unserem Ansatz der integrierten Abschreckung beitragen”, sagte Leonor Tomero, Deputy Assistant Secretary of Defense Nuclear and Missile Defense Policy, vor dem Verteidigungsausschuss des amerikanischen Senats. Diese Überprüfung werde im gesamten Bereich koordiniert und Elemente wie die Missile Defense Agency, das U.S. Northern Command, NORAD und die Beschaffungsorganisationen mit einbeziehen.


Verteidigung

Behörden Spiegel / Juli 2021

Starlink und die Folgen

U

rsprünglich waren Satelliten die Domäne der Staaten. Nur durch Satelliten lässt sich schließlich die weltweite Führungsfähigkeit der Bundeswehr sicherstellen. Weltweit entspricht dabei durchaus den notwendigen Anforderungen, da “das Ausland” zum alltäglichen Einsatzgebiet der Marine und Luftwaffe gehört. Neben Navigations- sind auch Aufklärungs- und vor allem Kommunikationssatelliten von entscheidender Bedeutung für Streitkräfte. Die Abdeckung der ersten Meile, die Führung mobiler Einheiten und die Kommunikation in der Bewegung – wobei Kommunikation die Datenübertragung und nicht den reinen Sprechfunk meint – sind ohne Uplink zu Satelliten auch für das Heer nicht zuverlässig und robust realisierbar. “Wir haben eine zunehmende Verbindung zwischen Weltraum, Luftraum und den Systemen am Boden”, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer

Der Weltraum zwischen Wirtschaft und Staat (BS/Dorothee Frank) Erst die Eroberung des Weltraums hat die Veränderungen ermöglicht, die unsere heutige moderne Zeit bestimmen. Ohne Computer und Satelliten würden die Menschen kaum anders als noch vor hundert Jahren leben. Die digitale Revolution fand dabei ebenso auf der Erde wie über ihr statt. Der Staat tritt allerdings bei der Ressource Weltraum mittlerweile in direkte Konkurrenz zur freien Wirtschaft. Cyber- und Informationsraum, am Standort Kalkar ausgeplant und betrieben. Die Multinationalisierung des Kommandos wird angestrebt”, ist im Eckpunktepapier zu lesen. Dieses Weltraumkommando soll im dritten Quartal 2021 aufgestellt werden. Der Weltraum als strategische Komponente, um die anderen Dimensionen zu vernetzen. Die staatliche Satellitenkommunikation stellt allerdings nur noch einen geringen Bruchteil des über den Weltraum laufenden Datenverkehrs, der Großteil ist zivil, sowohl die Anzahl an Satelliten als auch der Datenverkehr.

und stabile Internetverbindung erhalten. Dass ein Mensch, ein Genie, hierdurch zum größten Satellitenhersteller und -betreiber wurde und den Grundstock für sein eigenes Weltraumprogramm legte, zu dessen durchaus realistischen Zielen Expeditionen zum Mars gehören, ist eigentlich ein wahr gewordenes Märchen und Inspiration dafür, was ein Mensch mit Visionen erreichen kann. Wäre da nicht der Müll. Millionen kleiner Teilchen – Weltraumschrott, Müll, den man nicht einsammeln kann – fliegen bereits als Hinterlassenschaften ehemaliger Satelliten im All. Die Situation

Beginn einer Starlink Train. Solche Ketten ziehen in den Wochen nach dem Start minutenlang über den Himmel, bis sich die Satelliten verteilen. Screenshot: BS/Video: ViralVideoLab, Youtube

bei der Indienststellung des “Air and Space Operations Centre” (ASOC) im September 2020. “Die Frage der Sicherheit, die gewährleitest werden muss, muss um die Dimension Weltraum mit bedacht werden.” Als Beispiel nannte die Ministerin die modernen Kommunikationsmittel und die dafür notwendige Weltrauminfrastruktur. Auch im Eckpunktepapier zur Reform der Bundeswehr erhält der Weltraum bzw. der Orbit um die Erde eine gestiegene Bedeutung. “Wir stärken die Dimension Luft- und Weltraum durch die Aufstellung eines Weltraumkommandos der Bundeswehr in Verantwortung der Luftwaffe. Dieses wird dimensionsübergreifend, insbesondere im engen Zusammenwirken mit dem Kommando

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Das Ungleichgewicht gefährdet mittlerweile die staatliche Nutzung. Das Weltall mag unendlich sein, der Orbit um die Erde ist es nicht. Eine besondere Problematik ist der Weltraumschrott.

Lichtpunkte der Menschheit Manchmal, wenn man zur richtigen Zeit in den abendlichen Himmel schaut, kann man eine Kette von Lichtpunkten sehen, die wie an einer Perlenschnur mit nur einem Zentimeter Abstand minutenlang über den Himmel fliegen. Was wie die Invasion vom Mars aussieht, ist Starlink, ein Satellitenprogramm von Elon Musk. In regelmäßigen Abständen schießt dieser um die 60 Starlink-Satelliten in den Weltraum, damit die Menschen weltweit eine gute

ist mittlerweile kritisch. Es wird voll über der Erde. Die beeindruckende Perlenschnur ist nur wenige Tage kurz nach dem Start zu sehen, danach verteilen sich die Satelliten. Und es ist günstige Massenware, die um die Erde kreist, nicht nur bei Starlink. Eine Ausfallquote wird direkt mit eingerechnet. Vor Starlink flogen etwa 2.000 aktive Satelliten um die Erde, Starlink wird in der nahen Zukunft 12.000 dazu bringen. Manfred Gaida, Astronom und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Raumfahrtmanagement, sagte vergangenes Jahr in einem Interview mit dem DLR: “Die 12.000 sind die bislang genehmigten Satelliten, weitere 30.000 sind vorgesehen. Der gesamte

Himmel hat eine Fläche von rund 42.000 Quadratgrad, sodass sich – statistisch betrachtet – in jedem Quadratgrad ein Starlink-Satellit aufhalten wird. Ein Quadratgrad entspricht dabei einer Fläche, die vier Vollmondscheibchen qua­ dratisch angeordnet am Himmel einnehmen würden.” Da sich der wirtschaftliche Erfolg dieses Internetangebots für alle abzeichnet, wollen andere Größen wie beispielsweise Amazon nachziehen.

Kein Verglühen Auch die “zivilen” Satelliten müssen einen De-Orbit-Mechanismus haben, der sie nach der durchschnittlichen Lebenszeit von fünf Jahren mittels elektrischem Antrieb dichter an die Erde fliegt, so dass sie schnell wieder eintreten und verglühen. Für den Begriff schnell fehlt allerdings eine konkrete, verbindliche Definition. Und wenn eine Ausfallquote von etwa fünf Prozent direkt mit einbezogen ist, also als wahrscheinlich angesehen wird, dann gilt das selbstverständlich auch für die De-Orbit-Funktion. Hinzu kommen Unfälle, da die Satelliten nicht ausweichen können oder auf Trümmerteile stoßen und dadurch funktionsuntüchtig werden. Hierdurch kann ein Kaskadeneffekt entstehen, da Trümmerteile weitere Ausfälle und somit Trümmerteile erzeugen und irgendwann sind ganze Areale nicht mehr nutzbar. Der Müll im Weltraum, der Weltraumschrott, ist bereits heute ein Problem. Bevor Starlink im Mai 2019 startete, kreisten durchschnittlich 2.000 aktive Satelliten im Orbit. Im Januar 2019 befanden sich laut Schätzungen der ESA rund 900.000 Trümmerteile mit einer Größe von einem bis zehn Zentimetern in der Umlaufbahn. Nur was passiert, wenn in Zukunft zusätzlich zu den 2.000 auch noch 30.000 Starlink-Satelliten im Weltraum kreisen? Plus jenen von Amazon und anderen Unternehmen, die auf das Erfolgsmodell des schnellen Internets für die gesamte Welt aufspringen wollen.

mächten – sogar für den Großteil der Menschen überlebenswichtig sein. Die Satellitenkommunikation galt als krisensicher, weil sie nur wenige Anteile am Boden enthält, also relativ unabhängig von vorhandener Infrastruktur ist. Zudem ist sie weltweit verfügbar. Die Regierungen müssen dementsprechend nach Regelungen suchen, die das Kommunikationsbedürfnis der Bürger und die Kommunikationsnotwendigkeit des Staates in Einklang bringen. Verhindern können sie die Massenstarts der zivilen Satelliten nicht, da der Weltraum freies

Gebiet ist. Es werden Anforderungen an die Satelliten gestellt, wie die des Vorhandenseins eines De-Orbit-Mechanismus. Es gibt Sicherheitsforderungen für die Starts. Aber wenn all dieses erfüllt wird, dann muss ein Land die Startgenehmigung erteilen. Keine Regierung könnte bestimmen, dass der Orbit wegen Überfüllung geschlossen wird. Es gibt weder eine Obergrenze noch entsprechende Kontrollmechanismen. Selbst wenn bei zehn oder mehr Prozent der Satelliten eines Anbieters das Verglühen erst nach Jahren geschieht, gibt es keine direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die entsprechenden Vereinbarungen stammen allerdings aus einer Zeit, als nur wenige überhaupt technologisch in der Lage waren, Satelliten zu bauen und ins All zu schießen. Mit der heutigen Massenware oder dem Problem durch Weltraumschrott hat damals niemand gerechnet.

MELDUNG

Mission: Marine-Ehrenmal erhalten (BS/df) Es ist eine Besonderheit in der Bundeswehr: das MarineEhrenmal in Laboe. Das 85 Meter hohe, rote Ehrenmal dient dem Gedenken an all jene, die auf See geblieben sind, die zivilen Opfer ebenso wie die Soldaten aller Nationen. Es ist die offizielle Gedenkstätte der Deutschen Marine, dafür verantwortlich ist allerdings nicht die Bundesrepublik, sondern der Deutsche Marinebund. Das Marine-Ehrenmal wird in diesem Jahr 85. Nun sind allerdings größere Reparaturarbeiten notwendig, für deren Finanzierung noch über eine Million Euro fehlen. “Insgesamt werden rund 4.500 m² Fassadenfläche bis in eine Höhe von knapp 68 Metern instandgesetzt. Dabei werden rund 100 Kilometer Fugen ausgetauscht, was ungefähr der Entfernung von Kiel nach Hamburg entspricht”, beschreibt der zuständige Sachverständige

für hygrothermische Bauphysik einen Teil der notwendigen Maßnahmen. “Weiterhin werden geschätzt 5.000 einzelne geschädigte Steine vorsichtig ausgebaut und gegen neue ausgetauscht.” Hinzu kommen die Neuverlegung der Brüstungsplatten um die Aussichtsterrassen, die Erneuerung von Abdichtungen, Restaurierungsarbeiten an Türen, Fenstern und Geländern sowie die Abbindung loser Putzflächen im Inneren des Mahnmals. Die Arbeiten werden etwa zwei Jahre dauern. Der Deutsche Marinebund sucht nun Spender, die sich an dem Erhalt des MarineEhrenmals beteiligen. Neben Privatpersonen und Vereinen sind sicherlich auch Spenden aus der Industrie gerne gesehen. Weitere Informationen sowie Spendenmöglichkeiten gibt es auf der eigens hierfür eingerichteten Page: marine-ehrenmal-erhalten.de

Staatsfreier Raum Die Satellitenkommunikation kann für Staaten – und im Fall des Konfliktes zwischen Groß-

Flottenparade mit Salut zur Einweihung des Ehrenmals Laboe am 30. Mai 1936 Foto: BS/KzS R. Rossow, Fotorechte: Chron-Paul / CC BY-SA 3.0 de

Berlin Security Conference 2021 Europe – Developing Capabilities for a credible Defence 24.-25. November 2021, Vienna House Andel’s Berlin

S AV E T H E D AT E 2 0 2 1 • Eine der größten Veranstaltungen zur Europäischen Sicherheit und Verteidigung • Analysiert die Entwicklung der europäischen sicherheitspolitischen und militärischen Fähigkeiten und Beschaffung, eingebettet in den sicherheits- und verteidigungspolitischen Kontext von EU und NATO • Internationales Forum für Abgeordnete, Politiker und Angehörige der Streitkräfte, der Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und der Industrie • Partner in 2021: OCCAR, EDA, NCIA, NSPA • Frühere Partner: Russland, Großbritannien, Türkei, USA, Frankreich, Schweden, Niederlande, Tschechien • Nationale und internationale Aussteller • Veranstaltet vom – Deutschlands führender unabhängiger Zeitung für den Öffentlichen Dienst

Foto: Dombrowsky

Die Berliner Sicherheitskonferenz

www.euro-defence.eu


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chneider trat 1975 als Abiturient in den mittleren PolizeivollzugsdienstHessens ein. Das sei damals noch nicht allzu üblich gewesen. “Es gab eine spezielle Abiturientenklasse, in der wir eine um ein halbes Jahr verkürzte Ausbildung durchliefen. Ansonsten absolvierten wir aber die gleiche Ausbildung wie diejenigen, die mit dem Realschulabschluss zur Polizei kamen”, berichtet Schneider. Anschließend war er zunächst als Streifenbeamter in Darmstadt beim damaligen Polizeipräsidium Darmstadt tätig. Von 1981 bis 1984 absolvierte er dann den Aufstieg in den gehobenen Dienst und arbeitete als Dienstgruppenleiter. Zwischen 1988 und 1990 besuchte er die damalige Polizeiführungsakademie in Münster und stieg in den höheren Polizeivollzugsdienst auf. Danach fungierte Schneider, der im südhessischen Heppenheim an der Bergstraße lebt, unter anderem als Direktionsleiter und war in unterschiedlichen Polizeipräsidien des Landes tätig, unter anderem in den ehemaligen Polizeipräsidien Offenbach und Südhessen in Darmstadt. Dort agierte er zuletzt als Abteilungsleiter Einsatz. In dieser Funktion hatte er die Verantwortung für das gesamte operative Personal – egal ob uniformiert oder in Zivil – inne. In den Jahren 2009 und 2010 war Schneider für insgesamt sechs Monate im Wiesbadener Innenministerium tätig. Dies war ab einer gewissen Besoldungsstufe und wenn ein höheres Beförderungsamt erreicht werden sollte, zwingend vorgeschrieben. Danach wurde er Leiter der Abteilung Einsatz im Polizeipräsidium Frankfurt am Main. Die Dienststelle hat rund 3.000 Mitarbeiter in der Abteilung Einsatz. Dazu gehören auch die Spezialeinheiten. In der Bankenmetropole war Schneider bis 2016 aktiv. In dieser Phase mussten mehrere große Einsatzlagen bewältigt werden. “Dazu gehörten unter anderem mehrere Blockupy-Aktionen, die Eröffnung der Europäischen Zentralbank und der Tag der Deutschen Einheit 2015”, berichtet Schneider, der verheiratet ist und drei Kinder sowie vier Enkelkinder hat. Diese Erfahrungen will er keineswegs missen. Schneider sagt dazu: “Das waren hochspannende und sehr abwechslungsreiche Zeiten.”

Zuletzt als Präsident der Bereitschaftspolizei tätig Ab 2016 fungierte er dann schließlich als Präsident der hessischen Bereitschaftspolizei. “Da habe ich nochmal einen ganz anderen Blickwinkel bekommen. Besonders spannend war es, mit jungen Polizistinnen und Polizisten als Anwärtern zu tun zu haben und zu hören, was sie sich von der hessischen Polizei erhoffen und was sie von ihr erwarten.” Das sei ganz anders gewesen als der Dienst im pulsierenden Frankfurt am Main, “wo

Behörden Spiegel / Juli 2021

Als Pensionär zurück in den Dienst Harald Schneider ist Integritätsbeauftragter der hessischen Polizei (BS/Marco Feldmann) Eigentlich könnte er bereits den Ruhestand nach 44 Jahren im Polizeidienst genießen. Aber Harald Schneider will auch mit 64 Jahren noch arbeiten und sich einbringen. Ihm geht es darum, sich mit Demokratie- und Werteverständnis sowie Vertrauens- und Fehlerkultur, aber auch strukturell mit Rassismus in den Reihen der hessischen Landespolizei zu beschäftigen. Dafür fungiert er als ihr Integritätsbeauftragter.

setzen könnten. In der Kommission sitzen 13 Experten. Dazu gehören unter anderem der hessische Landespolizeipräsident Roland Ullmann, der ehemalige Landesdatenschutzbeauftragte Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch sowie der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Michael Niemeier. Neben dem Integritätsbeauftragten Schneider sind darüber hinaus Wissenschaftler, Gewerkschaftsvertreter, Personalräte und ein ehemaliger Journalist vertreten.

Empfehlungen geben

Harald Schneider ist Integritätsbeauftragter der hessischen Polizei. Dafür ist der 64-Jährige, der sich nach 44 Jahren Polizeidienst eigentlich bereits im Ruhestand befindet, als Berater zurückgekehrt. Er verfügt allerdings nicht über eigene Ermittlungsbefugnisse, weder im Hinblick auf das Strafrecht noch bezüglich des Disziplinarrechts. Fotos: BS/MdIS

es jeden Tag etwas Neues gab”. Aus seiner letzten Verwendung wurde Schneider 2019 dann in den Ruhestand verabschiedet. In diesem machte er sich allerdings als Berater selbstständig und wurde dann im Juni 2020 zum Integritätsbeauftragten berufen. Zwischen Februar und Juni letzten Jahres hatte Schneider, in dessen Freizeit die Familie und seine Enkel “ganz oben stehen”, einen Lehrauftrag für polizeiliche Führungslehre an der Fachhochschule der Hochschule für Polizei und Verwaltung inne. Diesen hat er wegen seines neuen Amtes inzwischen allerdings wieder aufgegeben, weil ihm “das ansonsten im Ruhestand zu viel geworden wäre”. Über all seine Jahre im Polizeidienst sagt Schneider rück­blickend: “Ich bin immer mit einem guten Gefühl zum Dienst gegangen und war und bin sehr stark mit der Polizei verbunden.” Hätte er einmal mit Bauschmerzen zur Arbeit gehen müssen, wäre etwas verkehrt gewesen, betont er.

Reintegration und Betreuung als Ziel

anderem in Form entsprechender Chatnachrichten in Kurznachrichtendiensten, als unberechtigte Datenabfragen oder in Verbindung mit Drohbriefen öffentlich bekannt geworden. Darauf habe sich die politische Führung im Land entschlossen, das neue Amt des Integritätsbeauftragten einzurichten. Denn die publik gewordenen Fälle seien geeignet, das Vertrauen in die hessische Polizei zu erschüttern. Aus diesem Grunde sollte es jemanden geben, der die Organisation Polizei kennt, aber außerhalb von ihr steht und neben der Unterstützung bei der Verfestigung eines Demokratieund Werteverständnisses sowie der Verankerung einer positiven Vertrauens- und Fehlerkultur betroffene Beamtinnen und Beamte begleitet und betreut, wenn das zunächst gegen sie verhängte Verbot der Führung von Dienstgeschäften, weil ihre Entlassung aller Voraussicht nach nicht in Betracht kommt, aufgehoben wird und sie wieder Dienst versehen.

Nicht in Behördenstrukturen eingebunden Zur Historie seines jetzigen Am-

tes als Integritätsbeauftragter der hessischen Polizei erläutert Schneider, dass diese sich seit 2018 mit Rechtsextremismusund Rassismusvorwürfen in den eigenen Reihen beschäftigen müsse. Diese seien unter

Ab 2016 bis zu seiner Pensionierung (hier die Übergabe der entlassungsurkunde durch Innenminister Peter Beuth) war Schneider Präsident der hessischen Bereitschaftspolizei.

Dabei ist Schneider nicht Teil der Behörde, sondern selbstständig. Er erhält jedoch Zuarbeiten aus dem Innenministerium. “Und diese benötige ich auch”, unterstreicht der Integritätsbeauftragte. Über sich selbst sagt er: “Ich habe den Abstand sowie den Blick von außen.” Außerdem helfe ihm sein über Jahrzehnte im Polizeidienst aufgebautes Netzwerk. Und noch ein Punkt ist Schneider in seiner Amtsführung wichtig: “Vertraulichkeit schafft Vertrauen.” In diesem Rahmen wird auch immer abgestimmt, an wen Schneider jeweilige Sachverhalte zu möglichen, polizeilichen Fehlverhalten zur weiteren Bearbeitung abgibt. Als Integritätsbeauftragter hat er selbst keine eigene Ermittlungsbefugnis, weder im strafrechtlichen noch im disziplinarrechtlichen Bereich. Schneider fokussiert sich auf die Bereiche Beratung, Begleitung und Betreuung. Das stört ihn aber keineswegs. Denn, so sagt er: “Bei meiner Arbeit geht es eher um grundlegende, strukturelle Fragen und weniger um den konkreten Einzelfall.” Außerdem kümmere er sich eher um die

“weichen" Themen, wie Wertschätzung, Wertevermittlung, Anstand und Respekt. Seines Wissens gebe es eine derartige Stelle, bezogen auf Inhalt und Ausgestaltung, deutschlandweit kein zweites Mal. Natürlich existierten in der freien Wirtschaft und auch in Behörden Integritätsbeauftragte. Diese seien dann aber immer in irgendeiner Art und Weise in die Strukturen eingebunden. “Das ist bei mir nicht der Fall”, macht der ehemalige Polizeibeamte deutlich. Er könnte auch andere Behörden in Fragen der Integrität beraten, da er als selbstständiger Berater agiere. Bislang existiere eine Vereinbarung aber nur mit der hessischen Landespolizei.

Alles freiwillig Der Integritätsbeauftragte nutzt verschiedene Wege der Kontaktaufnahme. Entweder wenden sich Betroffene direkt an ihn oder es findet eine Vermittlung durch einen Vorgesetzten oder Dozenten statt. Dabei macht Schneider klar: “Ich kann niemanden zum Gespräch zwingen. Alle, die mit mir sprechen, machen das freiwillig.” Nur wenn im Vorfeld erörtet wurde, dass ein Gespräch stattfinden solle, kann auch tatsächlich mit dem Integritätsbeauftragten gesprochen werden, der selbst keinerlei Vorgesetztenfunktion innehat. Schneider hat Zugang zu allen polizeilichen Bereichen. Akteneinsichtsrecht hat er allerdings nur, sofern der Betroffene ausdrücklich zugestimmt hat. Er sagt aber zugleich: “Ich habe noch nirgendwo ein Nein erfahren. Mir wurde immer Zugang gewährt.” Er ist insbesondere in drei Bereichen unterwegs, “um die Aufgabe ans Laufen zu bringen”. Dazu spricht er unter anderem mit Polizisten, die Fehlverhalten erlebt oder berichtet haben. Derzeit bearbeitet Schneider mehrere Dutzend Sachverhalte mit rund 30 betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Außerdem ist er mit mehreren Polizistinnen und Polizisten im Gespräch, die nach einem Verbot der Dienstausübung zurück im Dienst sind und denen ein Gespräch mit ihm angeboten wurde. Des Weiteren macht Schneider angekündigte Dienststellenbesuche und diskutiert mit den

Kolleginnen und Kollegen. Dabei stehen Themen wie der interne Umgang miteinander, die Wertehaltung, Umgang mit möglichem Fehlverhalten und Moral auf der Tagesordnung. Hierzu sagt Schneider: “Ich bin noch dabei, mir hier ein Bild zu machen. Ich will wissen, was die Kolleginnen und Kollegen vor Ort belastet.” Er lobt: “Wir hatten bisher immer ein angenehmes Gesprächsklima, auch wenn einige skeptisch gegenüber der Einrichtung des Amtes eines Integritätsbeauftragten gewesen waren.”

In die Köpfe hinein kommen Für die Zukunft wünscht sich der Integritätsbeauftragte, dass Werte wie der passende Umgang untereinander, Demokratieverständnis und Haltung “mehr in den Köpfen der hessischen Polizisten sind”. Wünschenswert wäre ein roter Faden zum Demokratieverständnis von Einstellung über Ausbildung bis in den täglichen Dienst, so Schneider. Darüber hinaus ist der Integritätsbeauftragte Mitglied der Kommission “Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft – die gute Arbeit der Polizeibeamten stärken, Fehlverhalten frühzeitig erkennen und ahnden”. Das Gremium soll Empfehlungen aussprechen, die zum Teil auch für seine Arbeit Leitplanken

Sie sollen die bereits ergriffenen Maßnahmen gegen Fehlverhalten innerhalb der hessischen Polizei evaluieren und Empfehlungen für deren mögliche Weiterentwicklung beraten. Zudem hat sich die Kommission das Ziel gesetzt, Empfehlungen für die Implementierung eines neuen Leitbildes der hessischen Polizei zu erarbeiten. Dafür können die Gremienmitglieder uneingeschränkt mit Polizeibeschäftigten sprechen und Dienststellen besuchen. Im Hinblick auf die Aus- und Fortbildung der Polizistinnen und Polizisten prüfen sie das Curriculum und tragen zur Weiterentwicklung der Lehrinhalte an der Polizeihochschule sowie der Fortbildungsinhalte an der Polizeiakademie bei. Innenminister Peter Beuth (CDU) sagte über die Kommission: “Wenn aus Verfehlungen einzelner Polizeibeamter schwerwiegende Nachteile für die gesamte hessische Polizeiorganisation erwachsen, müssen wir etwas dagegen tun.” Gerade ein objektiver Blick von außen könne sehr wertvoll sein, “um mögliche Verbesserungen aufzuzeigen und Vertrauen auszubauen”, so der Wiesbadener Ressortchef weiter. Derzeit bindet die Mitarbeit in der Kommission beim Integritätsbeauftragten Schneider noch erhebliche zeitliche Ressourcen. Sobald das Gremium seinen Abschlussbericht vorgelegt hat, will er diese Zeit aber wieder vollständig in seine eigentliche Tätigkeit investieren. Hier gebe es noch genug zu tun, konstatiert Schneider. Die hessische Landespolizei sei zwar auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel angelangt. Denn, und hier ist er sich mit den übrigen Mitgliedern der Kommission einig, noch sei das Vertrauen in die Arbeit der Polizisten nicht vollends verloren gegangen, trotz sich häufender Vorkommnisse in jüngerer Vergangenheit. Es müsse alles getan werden, damit es zu keinem weiteren Vertrauensverlust komme und verlorenes Vertrauen wieder zurückgewonnen werde. Dafür müssten Schwachstellen innerhalb der Polizei erkannt werden. Anschließend komme es darauf an, mit passenden Vorschlägen dafür zu sorgen, dass sich derartige Vorfälle nicht wiederholten und einzelne Beamte die Polizei in Verruf brächten, betont Schneider.

Die hessische Polizei (BS/mfe) Die hessische Polizei umfasst rund 18.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie war die erste Landespolizei in Deutschland, die ausschließlich die zweigeteilte Laufbahn eingeführt hat. Es gibt folglich nur noch den gehobenen und den höheren Polizeivollzugsdienst. Die hessische Polizei gliedert sich unter der Leitung des Ministeriums des Innern und für Sport sowie des dort als Abteilung angesiedelten Landespolizeipräsidiums in vier zentral zuständige Behörden, sieben Bereichspräsidien und eine Landeseinrichtung. Zu den landesweit zuständigen Behörden zählen das Hessische Polizeipräsidium für Technik, das Bereitschaftspolizeipräsidium, das Landeskriminalamt (LKA) sowie die Polizeiakademie. Bei der Landeseinrichtung, die keine Polizeibehörde darstellt, handelt es sich um die Polizeihochschule. Darüber hinaus existieren regional zuständige Polizeipräsidien in Nord-, Mittel-, Süd-, Südost-, West- und Osthessen sowie in Frankfurt am Main. Alle Leiter der Flächenpräsidien und der Landespolizeipräsident sind politische Beamte, die ohne Angabe von Gründen jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt und ohne Stellenausschreibung ernannt werden können. Die Präsidentin oder der Präsident des LKA ist in Hessen hingegen eine Laufbahnbeamtin beziehungsweise ein Laufbahnbeamter. Das will die Wiesbadener Landesregierung im Zuge eines Dienstrechtsänderungsgesetzes ändern und auch diesen Posten mit einem politischen Beamten oder einer politischen Beamtin besetzen.


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