175 JAHRE
Mittwoch, 9. November 2011 | az
15
AZ MEDIEN
ZEHNDER WANNER PRESSE
Im Westen was Neues: Start in der Kantonshauptstadt Aarau Das «Aarauer Tagblatt» war als erste Aargauer Tageszeitung dem «Badener Tagblatt» ein Jahr voraus rakamm zu ihrem Einzugsgebiet erklärte, läuteten beim «AT» die Alarmglocken. Sollte das Fricktal zeitungspolitisch an Basel fallen? Um dem entgegenzuwirken, wurde innert Monatsfrist die Splitzeitung «Aargauer Tagblatt, Ausgabe Fricktal» aus dem Boden gestampft. Ähnlich hatte Verleger Erwin Hinden bereits 1967 einen ausserkantonalen Gratis-Grossanzeiger abgewehrt, indem er kurzerhand den «Aargauer Kurier» lancierte. Der rentierte allerdings nie, gab jedoch dem «AT» eine zweite gesamtaargauische Stimme und verhinderte den Abfluss von Inserateerträgen aus dem Kanton. DIE KONKURRENZ, das «Badener Tagblatt», schlief auch nicht. Es investierte mehr in journalistische Schöpfungen und weniger in Maschinen, baute die Regionalredaktionen Brugg, Zurzach, Bremgarten, Wohlen und Fricktal auf und schuf eine «Mittwoch-BT»Grossauflage sowie eine kulturell-politische Monatsbeilage, die «Aargauer Blätter». In der Region Brugg, im Freiamt und im Fricktal entbrannte zwischen «AT» und «BT» ein Wettstreit um Neuabonnenten, der ZeitungskriegCharakter annahm. Anfang der 90er-Jahre sanken plötzlich die Werte im «AT»-Lesermarkt. Die Chefredaktion ortete verschiedene Ursachen: Mentalitätswandel und Mobilität, veränderte Leserstrukturen und Medienansprüche, aber auch Handlungsbedarf in Inhalt und Serviceleistungen, im Erscheinungsbild und in der «Tagblatt»Imagepflege. Etliche Anliegen von publizistischer Seite, vor allem die aus Aktualitätsgründen unbedingt nötige flächendeckende Frühzustellung, hatten wegen der enormen Investitionen
Das Gebäude des «Aargauer Tagblatts» an der Bahnhofstrasse in Aarau. VON HANS-PETER WIDMER*
AM 1. MAI 1847, am Vorabend des Sonderbundskrieges, schritt der fortschrittsgläubige, furchtlose und wortgewaltige Samuel Landolt, Kulturkämpfer und journalistischer Haudegen, zur Tat: Er schuf die vier Seiten starke Nummer 1 des «Aarauer Tagblattes», der ersten aargauischen Tageszeitung. Als Redaktor, Drucker und Verleger in einer Person hatte er Erfahrung, denn seit 1838 gab er «Das Posthörnchen», ein Wochenblatt, heraus. Darin deckte er seine Gegner häufig mit unflätigen Ausdrücken ein. Umgekehrt verhöhnten sie ihn, in Anlehnung an seine Postille, als «das Landöltli». In seiner Bude hielt er es nicht mehr aus, als die Spannungen dem Sonderbundkrieg zutrieben; er beteiligte sich als Trommler an zwei radikalen Freischarenzügen gegen die jesuitenfreundliche Luzerner Regierung. Bei der zweiten Aktion wurde er festgenommen und zum Tod verurteilt, aber auf das Versprechen hin, sich weiterer Hetztiraden zu enthalten, freigelassen. Daran erinnerte er sich bei der Rückkehr freilich nicht lang, sondern schuf mit der täglichen Zeitung einen neuen publizistischen Zweihänder. ABER LANDOLT und sein kleines Tagblatt mit einer Auflage von 300 Exemplaren wurden bald durch eine zweite Tageszeitung am Ort, den «Anzeiger» (die späteren «Aargauer Nachrichten»), bedrängt und durch Presseprozesse geschwächt. 1856 musste er den Betrieb an Friedrich Kappeler verkaufen. Nach dessen Tod ging das Unternehmen an Karl Stierli über. Der fügte dem Zeitungskopf 1880 das wichtige «g» bei
HEINZ FRÖHLICH
und drückte damit das Selbstbewusstsein des «Aargauer Tagblattes» als kantonales Organ aus. Einen Aufschwung nahm die Zeitung allerdings erst nach dem Übergang an die Aktiengesellschaft Aargauer Tagblatt (1887). Deren Bezeichnung blieb 109 Jahre lang, bis zur Fusion mit dem «Badener Tagblatt» (1996), fast unverändert. Ihr Zweck war die Herausgabe «einer in freisinnig-liberalem Geist redigierten Zeitung». Nun besorgten fachkundige Redaktoren, zunächst einzeln, dann zu zweit und ab 1913 vorübergehend zu dritt, die Schriftleitung. Das «Tagblatt» wie auch seine örtliche Konkurrenz, die «Nachrichten» – beide mit freisinnigen Wurzeln –, erschienen bis 1914 siebenmal in der Woche. Am Samstagnachmittag versandte man noch eine Sonntagausgabe!
Aarauer Bahnhofstrasse umgezogen, wo heute das AZ-Medienhaus steht. Die schwierigen 30er- und 40er-Jahre überstand das «Tagblatt», das aus einer zeitweise im Aktivdienst stehenden Zwei-Mann-Redaktion und einem Bundeshauskorrespondenten bestand, mit bis auf vier Seiten reduzierten Ausgaben. Die «Neue Aargauer Zeitung» überlebte nicht. Sie ging 1946 ein. Das Druckereipersonal samt dem Chef Erwin Hinden wechselte ins «Tagblatt» – was sich als Glücksfall erwies.
DOCH DAS WAR noch nicht genug der pressepolitischen Hektik in der Kantonshauptstadt mit 9000 Einwohnern. 1912 erschienen zwei zusätzliche Tageszeitungen: der «Freie Aargauer» als Nachfolger des 1906 gegründeten sozialdemokratischen Parteiorgans sowie die «Neue Aargauer Zeitung», welche den linksliberalen Standpunkt des Freisinns vertrat und vor allem in Beamten- und Angestelltenkreisen gelesen wurde. Dies war nun aber auf engem Raum des Guten zu viel an freisinnig-bürgerlichem Zeitungsstoff. Dazu kam die für alle Zeitungen harte wirtschaftliche Belastungsprobe des Ersten Weltkriegs. 1918 übernahm das «Aargauer Tagblatt» die «Nachrichten». Inzwischen war der Druckerei- und Zeitungsbetrieb aus engen Altstadträumen in ein neues Gebäude an die
DER MARKANTE AUFSCHWUNG ab Mitte der 50er-Jahre, die zunehmende Mobilität und der gesellschaftliche Wandel stellten die Presse vor neue Herausforderungen. Erwin Hinden, seit 1956 Direktor und Verleger des «Tagblatts», sowie ab 1971 bis 1985 sein Nachfolger Walter Widmer forcierten den Ausbau der Redaktion und der technischen Infrastruktur. Das «AT» setzte auf mehrere Pfeiler wie Zeitungs-, Fach- und Zeitschriftenverlage, Kalender- und Buchverlage, Buchhandlungen und Akzidenzdruckerei. Durch diese Vielseitigkeit hoffte man, das «Tagblatt» als Firmen-Flaggschiff wirtschaftlich abzusichern. Zur Unabhängigkeit der Zeitung wurden zudem im Unternehmen eine breite Streuung des Aktienkapitals sowie eine Stimmrechtsbeschränkung statuiert. Kein dominie-
Die Expansion beruhte hauptsächlich auf der Schaffung regionaler Splitausgaben.
Kein dominierender Aktionär, keine Partei sollte sich das «AT» unter den Nagel reissen können.
render Aktionär, keine Partei oder andere Institution sollte sich das «AT» unter den Nagel reissen können.
in das Druckzentrum und die Infrastruktur bisher nicht oder nur teilweise erfüllt werden können.
DIE AARGAUER TAGBLATT AG wuchs zum grossen grafischen Betrieb. Anfang der 70er-Jahre stieg die Mitarbeiterzahl auf 250 und bis Mitte der 90er-Jahre auf 570 Personen. 1981 und 1991 erstellte das Unternehmen in zwei Etappen im Aarauer Industriequartier Telli eine Grossdruckerei und ein Zeitungshaus. Die Zeitung blieb die rentierende Hauptstütze des Hauses. Aber sie gab mangels einer klaren Proficenterstruktur auch Mittel ab, die sie zur dynamischen Fortentwicklung für ein stärkeres Lesermarketing und für eine rasche, vollumfängliche Frühzustellung in den 90er-Jahren selber hätte brauchen können.
WIRTSCHAFTLICHE ÜBERLEGUNGEN, um den Auflagerückgang zu kompensieren, führten 1994 zum ersten Experiment «Mittelland-Zeitung», nämlich zur Kooperation – nicht Fusion – von «Aargauer Tagblatt», «Zofinger Tagblatt» und «Oltner Tagblatt». Zusammen erreichten die drei Blätter rund 80 000 Exemplare. Damit hofften sie, stärker an nationalen Marken-Werbekampagnen teilzuhaben. Die beiden kleineren Partner «ZT» und «OT» profitierten mehr als das «AT» vom Auflagenutzen im Anzeigengeschäft. Die redaktionelle Zusammenarbeit und das Bemühen um eine «Unité de doctrine» im Erscheinungsbild erwiesen sich als recht schwierig. Das «AT» lieferte im Prinzip den Zeitungsmantel (Ausland, Inland, Wirtschaft, Sport, Spezialseiten). Umgekehrt trat das «Aargauer Tagblatt» dem «ZT» die redaktionelle Betreuung seines bisherigen Zofinger Lokalteils und dem «OT» die Regionalausgabe Niederamt ab. Bei der Fusion von «Aargauer Tagblatt» und «Badener Tagblatt» (1996) ging das Dreiergespann «AZ», «OT», «ZT» zunächst in die Brüche, aber aus den «Ruinen» blühte später die neue, stärkere «Mittelland-Zeitung».
DEM ANSPRUCH als führende aargauische Zeitung wurde das «AT» indessen zwischen 1953 und 1992 mit einer von 11 000 auf 59 000 Exemplare erhöhten Auflage und der Präsenz im ganzen Kanton gerecht. Die Expansion beruhte hauptsächlich auf der Schaffung regionaler Splitausgaben. Vier solche Kopfblätter entstanden mit der Übernahme der Regionalblätter «Lenzburger Zeitung», «Brugger Tagblatt», «Freiämter Zeitung», «Seetaler». Weitere vier Lokalausgaben waren Neugründungen: Fricktal, Zofingen, Wynental-Suhrental, Niederamt. Das machte die tägliche Zeitungsproduktion zwar kompliziert, aber dafür besass das «Aargauer Tagblatt» für alle Gegenden Regionalseiten. ALS DIE NEUE «BASLER ZEITUNG» 1977 die Nordwestschweiz bis zum Ju-
*Hans-Peter Widmer war von 1964 bis 2003 Redaktor beim «Brugger Tagblatt», beim «Aargauer Tagblatt» und bei der «Aargauer Zeitung».