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Donnerstag, 31. Oktober 2019

110. Jahrgang – Nr. 44

P.P. A 4144 Arlesheim Post CH AG

Das Unfassbare fassbar machen

Arlesheim

Das Stück «Ver-Ding» der Theatercompany «Texte und Töne» nimmt sich eines lange verdrängten Themas der Schweizer Geschichte an. Es greift die Erlebnisse zweier ehemaliger Verdingkinder aus der Region auf.

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Jetzt gehts um die Wurst: Arlesheim soll nach jahrelanger Diskussion endlich einen neuen Gemeindesaal erhalten. Die Gemeindeversammlung wird im November über das 9,7 Millionen teure Projekt entscheiden.

Münchenstein

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Thomas Brunnschweiler

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er eine einigermassen behütete Kindheit und Jugend hatte, kann sich nicht vorstellen, wie tief die Traumatisierung von Verdingkindern war und ist. Sie lebten in einer Parallelwelt der Entrechtung, Entwurzelung und Fremdheit. Es gab für sie nie ein Ankommen. Sie wurden weitergereicht, versorgt, vergessen. Vielleicht sind Literatur und Theater die einzigen Möglichkeiten, das schier Unfassbare einigermassen fassbar zu machen. So hat sich die Baselbieter Theatercompany «Texte und Töne» mit Unterstützung des Gemeinderats Aesch und der Kulturkommission im Projekt «VerDing» des Themas angenommen. Die ehemaligen Verdingkinder Paul Richener aus Nusshof und Hanspeter Bobst aus Aesch erzählten ihre Erlebnisse, aus denen der Regisseur Kaspar Geiger eine Stückfassung machte, die mit zusätzlichen Informationen angereichert ist. «Das Ganze ist eine Collage. Es gibt keine Figuren im klassischen Sinne», sagt Geiger, «es kann bloss eine Annäherung sein.» Richener wie Bobst haben sich in je einem Buch zum Thema Verdingkinder geäussert. Bei ihren Recherchen stiessen sie immer wieder auf Schwierigkeiten. Akten waren oft unzugänglich oder nicht mehr auffindbar.

Prominente Besetzung (v. l.) : Julia Sewing, Andreas Daniel Müller, Gerrit Neuhaus. Das Verdingwesen . . . Wohl kaum jemand in der Schweiz hätte sich im letzten Jahrhundert dafür hergegeben, die Sklaverei zu befürworten. Es gab offiziell keine Sklaverei in der Schweiz, aber de facto funktionierte sie. Sie hiess nur anders: Verdingung. In der neueren Schweizer Geschichte bezeichnet Verdingung «die Fremdunterbringung von Kindern zu Lebenshaltung und Erziehung». Diese Definition tönt weit harmloser, als der Sachverhalt es war. Die bereits von den Behörden entrechteten Waisen und Scheidungskinder oder Kinder aus zerrütteten Verhältnissen wurden an Bauern, Haushalte oder Heime vermittelt. Dort wurden sie als günstige Arbeitskraft ausgenutzt, misshandelt und missbraucht. Der Schweizer Regisseur Markus Imboden zeigte im Film «Dr Verdingbub» exemplarisch

ein Einzelschicksal. Von etwa 1800 bis in die 1980er-Jahre wurden Kinder von den Eltern weggegeben oder von den zuständigen Ämtern den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich feilgeboten. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Verdingmärkte mit Versteigerungen. Kinder wurden wie auf den früheren Sklavenmärkten «wie Vieh abgetastet». Teilweise wurden sie wohlhabenden Familien gegen deren Willen zugelost. Auf den Bauernhöfen behandelte man sie wie Leibeigene. Viele Verdingkinder wurden nicht nur ausgebeutet und erniedrigt, sondern auch vergewaltigt oder kamen gar ums Leben. . . . ein dunkles Kapitel Die Verdingung ist eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Unbekannt ist die genaue An-

FOTO: THOMAS BRUNNSCHWEILER

zahl der Verdingkinder. Bis in die 1960erund 1970er-Jahre sollen es Hunderttausende gewesen sein. Es leben noch Verdingkinder in einer fünfstelligen Zahl in der Schweiz, die oft mit psychischen und finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Am 12. April 2013 bat die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga die Opfer offiziell um Entschuldigung für das begangene Unrecht. Da von staatlicher Seite keine Schritte zur Entschädigung gemacht wurden, startete 2014 die Wiedergutmachungsinitiative und forderte die Errichtung eines Fonds in Höhe von 500 Millionen Franken zugunsten der Opfer. Im indirekten Gegenvorschlag zeigte sich der Bundesrat knausrig und senkte die Summe auf 300 Millionen Franken. Schliesslich stimmten beide Kammern in Bern dieser Lösung zu. Den Fortsetzung auf Seite 2

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