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Fatigue und der Ansatz für die Behandlung in der Ergotherapie
from Neu Nota Bene 11
by Mateo Sudar
Jeder kennt das Gefühl, erschöpft zu sein. Ein langer Arbeitstag mit viel Trubel und unvorhergesehenen Ereignissen – kein Wunder, am Abend sinkt man erschöpft in den Sessel und fühlt sich ausgelaugt und erledigt. Was aber, wenn die Erschöpfung bereits mor- gens nach dem Aufstehen eintritt, was, wenn die einfachsten Tätigkeiten zu einer ungewohnten Anstrengung führen? Dann besteht der Verdacht, dass die Erkrankung der Fatigue Ursache für die Erschöpfung ist.

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Als Fatigue (aus dem Französischen „Müdigkeit“) wird die pathologische psychophysiologische Ermüdbarkeit bezeichnet. Sie äußert sich darin, dass der Betroffene bei ausreichen- der Kraft und Koordinationsfähigkeit durch motorische Belastung bereits nach kurzer Zeit erschöpft ist.
Welche Behandlung sieht die Ergotherapie für die Menschen mit Fatigue vor? Dazu ein Beispiel aus der Praxis. Eine junge Frau, Mitte vierzig, meldet sich zur Ergotherapeutischen Behandlung an. Sie leidet an MS und bekommt vom Arzt eine Verordnung über eine motorisch-funktionelle Behandlung mit dem Ziel, die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Hände und Finger zu verbessern. Die Ergotherapeutin erhebt anhand des COPM (Canadian Occupational Performance Measure) die Betätigungsanliegen der Patientin. Sie gibt das Hantieren mit Schrauben, das Schneiden von Gemüsen und Ankleben von Wimpern als Anliegen an, für die sie sich eine Verbesserung in der Performanz (Ausführung) durch die Therapie erhofft. Nun gilt es mittels des Befundes herauszufinden, was die Ursache für die Einschränkungen in diesen Aktivitäten ist. Im Anamnesegespräch berichtet die Patientin darüber, sich ungewöhnlich schnell müde und erschöpft zu fühlen. So habe sie bei der Hausarbeit das Problem, dass sie beim Schneiden des Gemüses die Kraft verliere. Bei der Arbeit fällt ihr schwer, den Radträger zu heben, an welchem sie Räder montieren muss.
Mit dem funktionellen Befund erhebt die Therapeutin den Status der oberen Extremität. Sie überprüft dazu die Koordination der Finger-, Hand- und Armbewegung, misst die Kraft in den Schultern und der Hand und überprüft die Sensibilität der Hände. Der Befund schließt mit einer Überprüfung der Tonusverhältnisse in der Hand mit den Fingern und Arm mit der Schulter ab. Im beschrie - benen Fall führt diese Untersuchung zu folgendem Befund: Die Handkraft ist deutlich herabgesetzt, die Überprüfung mit dem Vigrometer führt zu Tage, dass diese nach wenigen Messungen deutlich nachlässt. Dieses besagt, dass eine muskuläre Fatigue besteht, die sich im Rahmen einer Multiplen Sklerose, an welcher die Patientin erkrankt ist, als Hauptsymptom gebildet hat.
Um das Ergebnis zu sichern, bittet die Ergotherapeutin die Patientin, den Würzburger Erschöpfungsinventar bei Multipler Sklerose (WEIMuS) auszufüllen. Anhand dieses Assessment erhält sie den Grad der Ermüdung, anhand einer Skala von 0-4. Als Automechanikerin arbeitet die Patientin mit schweren und kalten Trägern, an welche Räder zu montieren sind. Sie führt eine stehende Tätigkeit aus und befestigt mit Schrauben die Räder an dem Träger. In der Halle ist es kühl mit kalten, weil aus Stahl bestehende Materialien, mit denen sie hantiert. Bei der Analyse des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit wird der oben beschriebene Befund im Verhältnis zu der auftretenden Symptomatik gesetzt: die kühle Halle, in der die Patientin arbeitet, und das Material, mit dem sie umgeht, bringen es mit sich, dass die Finger steif und unbeweglich werden. Das wiederholte Greifen und Tragen von Radträgern ermüdet die Muskeln der Schulter, weshalb sie über Rückenund Nackenschmerzen klagt und nach der Tätigkeit so erschöpft ist, dass es ihr schwer fällt, die notwendigen Verrichtungen im Haushalt zu erledigen. Nun gilt es mittels der Therapie eine Verbesserung der Performanz in den Betätigungsbereichen zu erreichen. Die Ergotherapeutin entscheidet sich für folgende Ansätze:
0 Selbstmanagementkonzept bei Fatigue
0 Adaptation der Küchenutensilien
0 Erarbeiten von physiologisch kraftsparenden Bewegungsmustern zum Tragen und Heben schwerer Lasten
0 Erlernen von Entspannungstechniken
0 Abbau der Fingersteifigkeit durch Anwendungen von Wärme mit Empfehlungen für zu Hause und am Arbeitsplatz
In der Therapie übt die Patientin das körpernahe Heben und Tragen. Gemeinsam mit der Therapeutin erarbeitet sie einen Arbeitsablauf, der wiederholt gleichbleibende Bewegungen durch eine Änderung im Arbeitsablauf ersetzt und eine Erholungsphase nach einer Phase der körperlichen Aktivität vorsieht. Das Schneiden von Gemüse erprobt sie mittels Hilfsmitteln, die eine gelenkschonende und optimale Kraftübertragung erlauben. Die Ar- beitsplatzgestaltung in der Küche wird mittels einer Stehhilfe verändert und ermöglicht der Patientin, die stehende mit der sitzenden Tätigkeit abzuwechseln.
Im Rahmen des Selbstmanagements erhebt die Therapeutin die Belastungsfähigkeit der Patientin. Sie bittet sie, den Tagesablauf zu protokollieren und auf einer Skala von 1-10 einzuschätzen, wie hoch das Niveau an Energie ist, mit welchem sie sich betätigt. Der Zusammenhang von Energie und der von der Tageszeit abhängigen Schwankungen darin, ergeben ein Bild, welches es erlaubt, Maßnahmen des Managements einzuleiten. Als das Profil erstellt ist, erstellt die Patientin mit Unterstützung der Therapeutin individuelle Maßnahmen des Selbstmanagements. Dazu gehören:
0 Aktivitäts- und Ruhephasen gezielt aufeinander abzustimmen
0 Prioritäten zu setzen, Ereignisse vorausschauend zu planen
0 Im persönlichen und beruflichen Umfeld über die eigene Verfassung sprechen und über deren Folgen aufklären.
Mit dem Ergebnis der Behandlung bewertet die Patientin die Veränderung in der Performanz der von ihr genannten Anliegen. In der Betätigung „Gemüse schneiden“ ist eine Verbesserung eingetreten, für das Hantieren mit Schrauben bewertet sie ebenfalls besser in der Performanz. Die Ergotherapie stellt den Zusammenhang von Beschwerden und Einschränkungen mit dem Alltag und seinen Betätigungen her. Mit der Behandlung hat die Patientin Maßnahmen erlernt, die die Beschwerden lindern und solche erprobt, die das Auftreten dieser Beschwerden herabsetzen oder verhindern. Ihre Betätigungen richtet sie daraufhin aus und gewinnt ihren Alltag zurück, einen Alltag mit Lebensqualität und in Selbstbestimmung.
Anke Matthias-Schwarz Ergotherapeutin