Nicolas Ryhiner: Graffenrieds Gründung

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Nicolas Ryhiner

Graffenrieds Gründung

Roman

Im alten Turm

Er hat noch eine Rechnung offen mit dem Leben. Bevor er abtritt und von den Würmern gefressen wird, bevor seine Geschichte in Vergessenheit gerät und er ruhmlos untergeht, will er sie begleichen. Nach all den Jahren entsetzlicher Schande, die ihm angetan wurde. Ihm, dem Stadtgründer von Graffenried, dem Pionier. Er wird Zeugnis ablegen vom Pech, von dem er, der weitsichtige Menschenführer, immer verfolgt war. Die Dinge endlich richtigstellen, nach endlosen Jahren widerwärtiger Erniedrigung, die er durchlitten hat, statt die gebührende Anerkennung zu bekommen. Das schreckliche Schicksal, mit dem er beschert wurde. Es ist Zeit, niederzuschreiben, was ihm widerfahren ist, mit gerechtem Zorn dagegenzuhalten und die Schlechtheit der Menschen laut zu beklagen, der ganzen Menschheit, die ihn gründlich, gründlich ekelt. Bis in die Knochen ekelt.

1742. Schloss Worb. Stöff legt Scheiter nach. Er schichtet sie auf der Glut sorgfältig übereinander und bläst mit dem Balg hinein, bis der Stapel Feuer fängt. Es liegt neben dem Kamin genügend Spaltholz bereit für die ganze Nacht. Kocher, sein Diener, sorgt dafür, dass die Beige der gut getrockneten Buchenklötze neben der Feuerstelle immer mannshoch aufgerichtet bleibt, wenn es im Winter kalt wird im oberen Saal. In den letzten Jahren verbringt Stöff immer häufiger auch die Nächte im Burgfried vor dem riesigen Kamin. Er hat sich im Turm am Rittertisch eingerichtet mit seinen Büchern und den Papieren und verlässt seine Festung seit Wochen nur noch einmal am Tag, fürs große Geschäft. Wenn er schiffen muss, benutzt er den Nachthafen. Kocher leert ihn, wenn er morgens den Raum herrichtet und das Geschirr abräumt, die

Decke auf dem Feldbett zusammenfaltet und das Holz aufschichtet. Kocher bringt ihm jeden Morgen einen Krug frisches Wasser vom Brunnen, eine Flasche Weißen für den Tag und eine Flasche Roten für den Abend, sommers auch kühlen

Federweißen vom Weingut in Vivis1.Erbringt Brot, Speck, Käse von der Alp und Obst, das ist alles, was man braucht. Manchmal brät Stöff abends ein paar Erdäpfel in der Glut.

Seine Frau, das Regeli, haust im vornehmen vorderen Teil des Schlosses, dem Anbau nach Süden hin, den sein Großvater einst hatte erbauen lassen, mit dem ganzen Schnickschnack, dem Gekünstel und Geschnörkel wie an den Höfen. Stöff hat sich schon als Kind im alten Teil wohler gefühlt, im Ritterhaus und dem Palas mit seinen drei Meter dicken Mauern. Item, man hat sich auseinandergelebt im Lauf der Jahre, und das Schloss ist ja groß genug, nicht wahr, dass man sich nicht allzu häufig begegnen muss, wenn man nicht will. Umso weniger noch, seit das Regeli, unterdessen vor Jahren schon, das Zeitliche gesegnet hat.

Kocher überbringt ihm die Schreiben vom Boten und nimmt Briefe entgegen, die Stöff nachts aufsetzt, um sie wegzuschicken. Stapelweise noch vor wenigen Jahren, sind es in letzter Zeit immer weniger geworden, genauso wie auch immer weniger Besuch kommt und Stöff sich immer seltener zum Ausgehen entschließen mag. Aber er ist nicht einsam, er hat seine ganzen Erinnerungen, in denen er lebt. Und davon muss er endlich einen Bericht abfassen, vom Unglück, das ihn verfolgt, und von den Pleiten, die er erlitten hat. Wenn nur Kocher ihn nicht wieder davon abhält, der ewige Störenfried, mit seinem Getue.

Abends schaut Stöff zum einzigen Fenster im trotzigen Turm hinaus, mittagwärts, über die Dächer des Anbaus hin-

weg und hinunter zum Gutshof, zum Dorf und über Wiesen und Wälder, hinaus in die Weite der Emmentaler Hügel und zu den Alpen in ihrem rötlichen Glimmen, wo in ihrer Mitte, im ewigen Eis, die drei Gipfel der Eigerkette fast den Himmel berühren;der Goldspitzberg, der Silberberg und der Pechberg, wie er sie getauft hat.

Er selbst nennt sich Stöff, wenn er mit sich redet, Stöff, wie ihn seine leibliche Mutter genannt hat, die zärtliche, zerbrechliche, die er so sehr geliebt hat, dass er jedes Mal errötet ist und heiße Wallungen ihn durchströmten, wenn später von ihr die Rede war in seiner Kindheit. Sie war noch jung gewesen, so jung, als sie erkrankte und ihn dann eines Tages plötzlich allein zurückließ auf dieser kalten Welt. Allein mit seiner Stiefmutter, Tante Lombach, die nach Mamas Tod hier einzog. Die ihn hasste, weil er der Erstgeborene war und einst Schlossherr von Worb sein würde, wenn er groß war, und nicht eines ihrer eigenen Kinder. Stöffs Mutter starb, als sie gerade mal zwanzig Jahre alt war, und war erst fünfzehn gewesen, fast noch ein Kind, als Vater sie zur Frau genommen hatte. Trotz der Kindermägde, die man hatte, war sie es gewesen, die ihn nachts tröstete, wenn Stöff nicht schlafen konnte, und ihn zu sich ins warme Bett nahm.

Anton, sein gestrenger Herr und Vater, der Politiker, Großrat in Bern, der große Landvogt von Aelen2 und großer Schultheiß von Murten, war dagegen aus Stein, mit seinem Blick vom hohen Ross herab, seinem gezwirbelten, pomadierten Schnurrbart, der seinen in Wirklichkeit eher weichen Gesichtszügen den Ausdruck des Entschiedenen und Erlauchten verleihen sollte. Er war dem kleinen Stöff nichts als Gesetz, Ermahnung und Strafe.

Kurz nach ihrem Tod, er war vielleicht fünf, zog sich Stöff Mutters zartrosafarbenes Seidenkleid über und stieg in ihre

Ballschuhe, um eines Abends für den Gutenachtkuss in dieser Verkleidung vor dem Vater aufzutreten. Blankes Entsetzen löste er damit aus, sein Vater erblich, erstarrte und schwieg. Er holte aus, gab ihm eine schallende Ohrfeige und versetzte ihm mit der Rückhand eine Maulschelle, sodass Stöff von der Wucht des Schlages zu Boden geschleudert wurde.

«Mach das nie wieder!Hörst du?Nie wieder!», sagte Vater, schaute ihm in die Augen und atmete schwer. Stöff hörte ein Pfeifen im Ohr, die Backe surrte, und von seiner Lippe tropfte das Blut. Er erhob sich schweigend, zog die Ballschuhe aus und rannte zum Kontor hinaus, die Treppe hinauf, vorbei an all den dunklen Ahnen in Öl an der Wand, und warf sich auf sein Bett, um loszuheulen.

Wie bei den Preußen, geht es Stöff jetzt durch den Kopf, wie der Soldatenkönig, der seinen Sohn, den Kronprinzen, vor versammelter Hofgesellschaft verhöhnt und verprügelt hat, weil er ihm zu schöngeistig war, den Musen zugeneigt, weil er ihm zu wenig preußisch geraten war. Und ihn dann wegen Desertion zum Tode verurteilt hat, seinen eigenen Sohn, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, den eigenen Sohn, zum Tode!Weil der abhaut, als junger Mann, und sein eigener Herr werden, sein eigenes Leben in die Hand nehmen will. Der Soldatenkönig war, wie Anton, sein eigener Herr Vater, einer gewesen ist. Genauso grausam. Als absoluter Herrscher dem Sohnemann die eigene göttliche Macht beweisen. Er hat ihn dann zwar allergnädigst begnadigt, der barmherzige Vaterkönig, aber um dem Söhnchen Mores zu lehren, hat er dafür dessen Freund Katte enthaupten lassen, vor seinen Augen, mit dem Schwert. Abgehackt, die Rübe, und zack!Sosind die Preußen. Waren sie schon immer. Erziehung zum Kadavergehorsam, ein einig Volk von Drillknechten.

Dabei hatte Stöff damals alsLandvogt vonIferten3 sich noch selbst undumjeden Preis fürsie eingesetzt, für dieprotestantischen Hack- und Zackpreußen, alsesumdie Nachfolge der fürstlichen Herrschaft über Neuenburg gegangen war, dass sie denZuschlag bekamen.Statt der katholischen Franzmänner, die darauf Anspruch erhoben hatten mitihrem Bourbonenprinzen. Die Franzosen standen an derGrenze zu Bern, im Jura oben, undeswar darum gegangen, ihren Einfluss einzudämmen im Land, Einhalt zu gebieten dem verlogenen Hofschranzentum von Louis’ Gnaden,seinen aufgepudertenBlähhälsen im Nachbarkanton, mitihrem kratzfüßigenGetrippel und Getänzel auf den gelackten Parkettböden, ihrem spitzlippigen Geheuchel und Gezwitscher in den Salons, dem scheinheiligen Geschwafel ihrer Pfaffen. Bern war eine reformierte Republik und sie würde auf ewig reformiert bleiben!Stöff war stolz darauf. Neuenburg war jetzt preußisch. Und nicht zuletzt dank ihm, alt Landvogt von Iferten.

Aber item, tempi passati. All das war einmal, jetzt ist Stöff ein Wrack und hat nur noch vor, die wahre Geschichte seines Unglücks für die Nachwelt niederzuschreiben in seinem Turm.

Wenn man bedenkt, dass ein Drachenjahr dreiunddreißig Menschenjahren entspricht, dann wird sein Vater fast dreimal so alt wie Methusalem gewesen sein, als er vor ein paar Jahren starb. Und seither war Stöff jetzt Herr in Worb gewesen. Mit Betonung auf gewesen. Denn zu allem Unheil hinzu ist kürzlich noch seine eigene Bevogtung gekommen. Ihm, dem Baron of Bernburg und Landgrave of Carolina, alt Landvogt von Iferten, ist durch seinen eigenen Sohn, und auch das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, vom eigenen Sohn, und natürlich unter freundlicher Mithilfe der Berner Regierung, ein Vormund bestellt worden!Ihm, dem

Oberherrn zu Worb, ist von Amts wegen Unfähigkeit zugeschrieben worden. Ich bitte dich, ein Vormund!

Unregelmäßigkeiten wurden ihm angelastet, in der Regelung seiner Obliegenheiten, in der ordnungsgemäßen Buchführung. Lächerlich. Die sachliche Zuständigkeit dafür ist ihm abgesprochen worden. Es ist ihm die Verwaltung des Schlosses Worb entzogen worden. Ihm!

Es ist düster geworden im Land, die Erbsenzähler sind aus allen Löchern gekrochen und krabbeln im Schloss herum. Kleingeistige Krämerseelen überall;Stöff mag sich nicht mit ihnen streiten, ihr geistiger Horizont ist ihm schlicht zu eng, ihm, dem Gründer von New Bern in Amerika. Er mag sich nicht damit abplagen, jeden Batzen und jeden Fünfer abzurechnen, pingeliges Buchführen ist ihm naturgemäß ein Graus, wie schon damals, als Landvogt in jungen Jahren, Ungeld einziehen, Journale führen, Ämterbuch, Vogteibuch, Bußen, Zins, Bau, Zeughaus, Restanzen, Kerbbüchlein, Fronfastenbuch, Jahrbuch, Stadtbuch, Standesbuch, Schiffbau, Fischerei, Jagdwesen, Kornhaus, Straßen, Allmend, Bargeld, Wechsel, Debitoren, Kreditoren, Waren, Kommissionen, Eigenkapital, Mobilien und Immobilien. Kolonnen und Kolonnen, das ewige Gekritzel und Gekratze, was geht ihn das jetzt alles noch an?Das ist etwas für kleine Kleinräte mit Zwickern und für Säckelmeister mit Scheuklappen und Ärmelschonern. Soll sein hochnäsiger Sohn Franz Ludwig den Kram doch erledigen, Fränzi, mit seinen Machiavelli’ schen Machinationen. Stöff soll es recht sein, wenn man ihn damit nur in Ruhe lässt.

Er stopftdie lange Tonpfeife. Im Tabaktopfist seine Mischung aus Virginia undMaryland, dieermit orientalischem Kraut verschneidet, wenn er sich irgendwo welches beschaffen kann. Pfeifenrauchbringt Ruhe undinneren Frieden, underweckt die

Geister. Heiliger Rauch. DasSchloss verlässt Stöffnur noch für das Tabakkollegium in Bern. Wenn er sich mit seinem alten Freund, Vetter Lombach, trifft, dem letzten, der ihm von seiner Familie noch geblieben ist. Und mit ein paar trinkfesten Berner Offizieren, die in der Fremde gedient haben. Da hört man Geschichten, die keiner glaubt, die nur versteht, wer selbst draußen in der Welt war und sich behaupten musste.

Eine Rettungshöhle der Heimkehrer im kleinkarierten Bern.

Im Flackerlicht des Kaminfeuers tanzt übergroß sein Schattenbild an der Wand, als er sich vorbeugt, ein kleines Tannenscheit in der Flamme entzündet und damit die Pfeife in Brand setzt. Die wabernde Gestalt an den Mauern des Turms bewegt sich wie ein Feuerteufel, obwohl Stöff für einen Moment erstarrt und sich nicht mehr rührt, sie sagt: «Der Mann kann nicht regieren!»

Dass er nicht regieren kann, ist eine infame Unterstellung.

Ein Leben lang wurde ihm seine Menschlichkeit vorgeworfen. Ja, er steht dazu, er hat eine ganz andere Vorstellung von Regentschaft als die Tyrannen, die ihn umgeben, und er ist damit erfolgreich gewesen. Er hat in Amerika unter schwierigsten Umständen eine Stadt gegründet, war ein angesehener Mann, er war für sein Volk von Siedlern der gute Vater, war ihr Führer, ihr Gönner, der Ernährer, der Verwalter, ihr Verteidiger, ihr Richter und weitgehend auch ihr Seelsorger und Schutzpatron. Er war der große Ermöglicher.

Aber er war vom Pech verfolgt, von allem Anfang an.

Es hatte schon damals in Iferten begonnen, bei der Willkommensfeier, als er als frischgebackener Landvogt Einzug hielt im Schloss. Die ganze Bevölkerung war auf den Beinen. Auf dem Kanal und im Seebecken standen die Barken, vollbeladen mit jubelndem Volk, aus dem Hinterland von Orbe, treues Volk, Bauern, die sich den festlichen Empfang nicht

entgehen lassen wollten und zur Feier auf Booten die Zihl hinuntergefahren waren. Das Regeli, stolz wie eine Moore an seiner Seite, winkte zufrieden in die Menge, endlich war ihr Mann jemand;eshatte doch den Richtigen geheiratet, das Fräulein Tscharner. Die überfüllten Barken schwankten in den Wellen, bis die eine kenterte und die nächste zum Kentern brachte. Die Leute schrien, gingen zappelnd unter, keiner konnte schwimmen. Wie viele dabei umkamen, weiß kein Mensch. Ein böses Omen jedenfalls, ein böses Omen.

Aber item, vielleicht hatte das Unheil auch schon viel früher begonnen, mit sieben oder acht, als Zögling in der Lateinschule, mit den vier anderen Herrensöhnen bei Magister Ignazius Müslin, dem Präzeptor an der Junkerngasse in Bern. Ein Quälgeist von einem Schulmeister, der Müslin. Es war bei Strafe verboten, Berndeutsch zu reden, mit den Mitschülern hatte man sich lateinisch zu unterhalten, auch in den Pausen. Müslins Auftrag war es, die Knaben auf die Staatsgeschäfte vorzubereiten, aufs Regieren, auf Aufgaben, die ihnen als Patriziersöhne im Erwachsenenalter bevorstanden. Und das anhand der klassischen Vorbilder aus dem alten Rom. Man las gerade Cicero, den Gallischen Krieg von Caesar hatte man bereits hinter sich.

Stöff hatte sich vor der Morgenlektion beim Sitznachbarn auf Berndeutsch über eine unverständliche Textstelle beklagt, im Abschnitt, den sie auf heute vorzubereiten hatten –«Chuderwäutsch!» –,als Müslin in seinem Rücken schon herangeschlichen kam und ihn am Ohr packte. «Salve Magister!», riefen die anderen im Chor und standen neben den Pulten stramm. «Sedete!», befahl Müslin zur Begrüßung, ob der junge Herr denn schon wieder vergessen habe, dass man hier Latein spreche, fragte er mit seinem grässlich falschen Lächeln und drehte ihm das Ohr um, es sei schon das dritte Mal diese Woche, dass er ihn erwische, und da Strafaufgaben bei

dem Lümmel offenbar keine Wirkung zeigten, müsse man wohl oder übel andere Methoden anwenden:Ersolle die Arme vorstrecken, Handflächen nach oben. Und holte den dicken Haselstock. Drosch zur Bestrafung damit brennende Tatzen auf die Finger, dass es knallte, und zählte dabei die Schläge:« … septem, octo, novem, decem, undecim, duodecim!»

Stöff verzog keine Miene und setzte sich;aus seinen Augenwinkeln quollen die Tränen. Müslin nahm wohlgelaunt die Stelle auf, an der man gestern stehen geblieben war, die Rede war von Ciceros annus horribilis im Jahre 45 ante Christum natum. Stöff ritzte mit dem Messer etwas in den Pultdeckel und schubste seinen Banknachbarn mit dem Ellenbogen an. MÜSLINANUSHORRIBILISEST.

Dann war er aufgestanden, hatte sich höflich verbeugt, es sei ihm schlecht, sich umgedreht und das Schulzimmer verlassen, um nie wieder dahin zurückzukehren. Müslin war wirklich ein schreckliches Arschloch. Stöff verließ das Haus, ging unter den Lauben hinunter zur Aare, überquerte die Brücke, verließ die Stadt und machte sich auf den Weg hinaus, über blühende Wiesen, über Höfe und Äcker, durch Wälder und Weiler, an Mühlen vorbei, nach Worb. Ein Wohlgefühl hatte ihn dabei gepackt, ein prickelndes Perlen rauschte durch die Adern, das Gehen wie ein Schweben, als hätte er Flügel.

Nicht nur das Emmental würde er dereinst durchwandern, hier fasste er den Entschluss, und es war wie ein Zeichen des Himmels, es durchfuhr ihn wie ein Blitz, er würde mit seinen Siebenmeilenstiefeln hinausziehen über alle Grenzen hinweg, hinaus in die weite Welt. Er würde einen eigenen Staat gründen, in dem es keine Ungerechtigkeit gab, keinen Zwang, keine Tortur.

Abhauen von hier, sich verdünnisieren, verschwinden, sich von niemandem mehr gängeln lassen. VomVater nicht, vom Schulmeister nicht, von der Stiefmutter nicht.

Dass er daraufhin zur weiteren Erziehung vom Vater nach Vivis auf das Rebgut am Genfersee zu strenggläubigen Verwandten verbannt wurde, konnte Stöff nur recht sein, denn die böse Stiefmutter, die kaum ein Wort mit ihm sprach, und wenn, ihm mit kieksender Stimme und hochgezogener Augenbraue Weisungen erteilte, war jetzt Herrin im Schloss Worb und führte das Zepter im Haus. Vater war in Bern mit Regieren beschäftigt und mit all seinen Ämtern, und zudem war er kürzlich zum Landvogt von Aelen gewählt worden. Landvogt zu sein, war für Blutsauger, wie er einer war, ein einträgliches Geschäft, man konnte sich unbeschwert bereichern im Amt.

Nicht wie er selbst als Landvogt, damals in Iferten, aber item, das war noch eine andere Geschichte. Und die hing mit seinem Unglück zusammen. Da nämlich lag der eigentliche Grund für seinen späteren Niedergang, nach Iferten löste sich die ganze vermaledeite Schuldenlawine. Nur weil sein Vater ein hartherziger Geizhals war.

Stöff pafft viel zu hastig, wie ein Süchtiger nuckelt er am Mundstück, sodass Holm und Tonkopf bald glühend heiß werden und er die Pfeife kaum mehr in den Fingern halten kann. Er legt sie zur Seite und schenkt sich vom Wein nach. Das Feuer knistert im Kamin, sein Schein wabert rötlich an den Wänden des Turms. Stöff hustet, weil ihm in dichter Schwade der Tabakrauch um den Kopf gequollen ist und ihn in der Nase sticht. So ist Tabak trinken kein Genuss. Er ist ungeduldig, ist im Fieber, im Kopf kreisen Gedanken, die er niederschreiben will. Der Nachwelt wird er in seinem Bericht

die ganze Wahrheit erzählen, die ganze Entwicklung der Geschehnisse getreulich wiedergeben, von allem Anfang an, das ganze Abenteuer der Gründung von New Bern.

Wenn ihn Kocher nicht wieder aus dem Konzept bringt, wie schon so oft, als Stöff eben mit dem Schreiben beginnen wollte.

Stöff wird die Erzählung mit seinen Auswanderungsplänen beginnen. Die Zeit bis dahin in seinem Leben hat niemanden in allen Einzelheiten etwas anzugehen, nur insofern, als es sein Geschick war, einst in Amerika eine Kolonie zu gründen.

Es muss nicht erst ausgeführt werden, dass ihm, dem gutaussehenden Charmeur, der er als junger Mann nun einmal war, in der Gesellschaft alle Türen offenstanden, dass er mit seinem gewinnenden Wesen und seiner Weltgewandtheit eine unwiderstehliche Wirkung auf die Menschen hatte. Eine Lebhaftigkeit ging von ihm aus, die sich auf die Menschen übertrug;Stöff hatte diese gewisse Anziehungskraft, die nicht nur die jungen Damen ansprach.

Alles weg, alles vorbei, alles schwarz, jetzt. Vonall den Eigenschaften ist rein gar nichts mehr übrig. Er ist heute ein verbitterter, alter Griesgram. Wo ist jener Held von einst geblieben?Bildet er sich alles nur ein, ist alles nur eine Legende, die er sich zusammenschmiedet, und biegt er das Geschehene zurecht, wie es ihm gerade einfällt?

Kocher traut sich nicht, jetzt an die Tür zu klopfen.

Aufbrechen

Vorwort

Dieser Bericht in Eile, ohne Hintergedanken, gerade so, wie die Dinge mir eben einfielen, meinem schwachen Gedächtnis, so dass hier auch kein besonderer Stil zu beobachten ist;eigentlich eingerichtet in 12 Kapitel oder «Unglücke»zu Handen meiner Gesellschaft und für alle anderen, die vielleicht nachteilig von mir denken bezüglich meiner amerikanischen Unternehmungen, dass ich ohne nötige Erwägungen und Voraussicht gehandelt und in Carolina die Zeit in Glanz und Wohlleben zugebracht hätte. Das Gegenteil ist wahr. Der erste Teil soll zeigen, dass nicht einfach Liederlichkeit mich in diese Not getrieben, sondern widrige Umständ und unglückhaftige Zufälle.

IDer Vorwurf gewisser Kreise, ich hätte in unvorsichtiger Weise, zum Nachteil und gar zum Untergang vieler Leute gehandelt, kann leicht geklärt werden.

Nachdem ich mich zuvor auf meinen Reisen zwei Jahre in England aufgehalten, und dort während der Regentschaft Charles des Zweiten so vorteilhafte und bedeutende Bekanntschaften gemacht hatte, dass, wenn ich dort geblieben wäre, ich wohl ein beträchtliches Vermögen gemacht hätte, erkundigte ich mich zu jener Zeit, teils aus mündlichen, teils aus schriftlichen Quellen, über die americanischen Lande, in der Folge dann auch in einem genaueren Bericht und vernommen insbesonders von einem Bürger hiesiger Stadt Bern, welcher in America 5oder 6Jahre sich aufgehalten, was herrlichen Landes dies war, und wie günstig zu haben, welch Freiheit herrschte, welch guter, großer, erblühender Handel

dort wartet, welch reiche Bergwerke und weitere Vorteile mehr, insbesonders aber, wie er vorgab, welch schöne, reiche Silberminen er entdeckt und erforscht habe. In Betrachtung nun, dass ich mit ziemlichen Schulden behaftet war, die ich mir aufgebürdet noch vor meinen Reisen, teils aufgrund einer Spekulation, die für etliche Herren und mich schlecht herauskam, teils wegen Bürgschaften, hoher Ausgaben aus der Zeit meines nur scheinbar einträglichen Amtes, ich hatte die armen Bauern nicht schindten mögen, wegen der neugemachten Reformation, schwierige Zeiten, dazu kamen die Neuenburgischen Troubles, der wirtschaftliche Niedergang, zu besserem Amt war der Weg nun abgeschnitten, auch zu einem geringeren Ämtli keine Hoffnung mehr, indessen mit großer und starken Familie beschert, war ich gezwungen, etwas zu unternehmen, um meine Gläubiger zu befriedigen und meiner Familie zu helfen.

Da es nun in meinem Vaterland wenig Hoffnung gab, aus solcher Notlage zu entkommen, gaben mir die schönen Propositionen obgenannten Bürgers (welchen zu verschonen ich hier keinen Namen gebe)fest in die Augen, mich auf meine alten und neuen Freunde von hohem Ansehen tröstend zu verlassen, und habe den festen Entschluss gefasst, mein Vaterland zu verlassen und in England zu sehen, ob das Glück mir hold sein wollte. Hab aber, um weder von den Gläubigern, noch von den meinigen aufgehalten zu werden, ganz im Geheimen meine Reise vorgenommen und meinem Herrn Vater, der da vermöglich genug, die Sorgen meiner Schulden und Geschäften überlassen.

Jawoll, abgehauen war er, ohne auch nur ein Wort zu sagen, im Mai 1709, nach London. Sein Regeli hätte einen Aufstand gemacht, verständlicherweise, es waren da ja all seine Kinder, das Gritli, das kleine Regeli, Johanna, der kleine Anton, der

Christoph, das Susi, Aenneli, Sigmund, das Bethli, Helena und Fränzi, der Nachwusel, der ihm heute das Leben schwer macht mit seiner Bevogtung. Aber auch sein Vater, das geflügelte, feuerspeiende Reptil mit den großen Krallen, wäre gleich zur Stelle gewesen mit seinen Bluthunden, er hätte seine Abreise zu verhindern gewusst, wenn er davon Wind bekommen hätte, seine Gläubiger sowieso.

Es klopft an der Tür. Kocher betritt den Saal, es muss wohl morgen sein. Stöff sitzt noch immer am Rittertisch unter dem Kerzenleuchter, die Feder in der Hand, an seinem Bericht, vor sich die Papiere, Dokumente, Briefstapel, Bücher, Landkarten von Carolina, Maryland und Virginia und die Stadtpläne von New Bern, die er einst angefertigt hat. Kocher zieht vor dem Fenster den schweren Samtvorhang zurück.

«Guten Morgen, Herr Landgraf. Haben der Herr Landgraf letzte Nacht schon wieder durchwacht?»

Stöff nickt. Man schweigt. Stöff sieht Kocher bei der Arbeit zu. Kocher entfernt sich mit dem Nachthafen zum Abtrittturm, bringt einen Korb Buchenscheite, stapelt sie auf. Er verrichtet sein tägliches Ritual, als handle es sich um ein Zeremoniell, dessen Ablauf strengen Regeln unterliegt. Seine fließenden, ruhigen Bewegungen haben etwas Bischöfliches. Gläser einsammeln, Teller abräumen, das Feldbett muss heute nicht gerichtet werden. Stöff sieht ihm zu, wie er frisches Wasser bringt, Kerzen ersetzt.

Kochers Mutter, das Rösi, war damals blutjung. Sie war die neue Stubenmagd aus Zäziwil, hatte rosa Wangen, seegrüne Augen und rote Zapfenlocken, die unter dem Häubchen hervorquollen. Stöff war eben aus dem Genfer Internat zurück in Worb und sollte, wenn es nach seinem Vater ging, sich in Bern als Aspirant unter den Arkaden präsentieren und bald

schon in einem kleinen Amt, das ihm der Vater, der Großrat, bei der Stadtregierung vermitteln würde, seine Sporen abverdienen.

Stöff sah stattdessen lieber dem Rösi zu, wie sie mit ihren langen, zarten Gliedern, die so gar nicht zu einer Emmentaler Bauerntochter passten, am Brunnen Wasserkrüge füllte. Sie spürte seinen Blick im Rücken und wandte sich nach ihm um, blickte ihn mit ihren hellen Augen an und lächelte, errötete und senkte den Blick. Ging mit den Krügen die Treppe hinauf ins Schloss und war verschwunden. Stöff folgte ihr hoch auf den Flur und lauschte. Er ging vor zu seiner Schlafkammer am Ende der Zimmerflucht, fand dort das Rösi, das schweigend knickste, als er durch die Tür kam. Sie stellte den Krug neben die Waschschüssel und sah ihn über die Schulter an. Der Duft von Lavendel und süßlichem Schweiß auf ihrer Haut verbreitete sich in der Kammer. Die Augen der beiden kamen nicht los vom Blick des anderen, sie schauten sich entgegen jeder Sitte und Erziehung gebannt an, das Herz schlug ihnen höher in der Brust, als Stöff die Tür hinter sich schloss und sie küsste. Rösi ließ es geschehen, küsste ihn wieder, sie wehrte sich nicht und war doch gefangen, sie schnaufte dabei wie ein erschrecktes Fohlen im Stall.

In jener Zeit gelang Stöff das diplomatische Gesellenstück, das ihn in seiner künftigen Laufbahn immer bestärken sollte, wenn es um heikle Verhandlungen mit übermächtigen Gegnern ging. Stöff fand sich nicht ausersehen, die vorbestimmte Karriere als guter Patriziersohn in Amtsstuben abzusitzen und nach den Regeln der Berner Gesellschaft in gelenkten Bahnen sein Leben zu fristen. Und eines war ihm klar:

Wäre das Rösi damals schwanger geworden, hätte es nach der Niederkunft das Kind abgeben müssen in die Landkorporation, die sich um die Aufzucht des Bastards gekümmert und

ihn für die Berner Herrschaft zum Dienstboten erzogen hätte. Das Rösi dagegen hätte man behalten. Und für Stöff hätte man im Handumdrehen eine standesgemäße Braut gefunden und ihn zur Heirat gezwungen. Das wäre dann unausweichlich die Folge gewesen.

«Vater, ich möchte in die Welt hinaus. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, auf Studienreise.»

«Flausen, mein Sohn, nichts als Flausen. Das schlag dir aus dem Kopf.»

«Halten zu Gnaden, in jungen Jahren wart auch Ihr auf Studienreisen.»

«Ich war gefestigt. Du bist ein Träumer.»

Stöff setzte alle Hebel in Bewegung, die ihm zur Verfügung standen, umgarnte Tanten beim Tee, warb bei älteren Vettern für seine Sache, charmierte, intrigierte, paktierte, was das Zeug hielt, überredete entfernte Verwandte, sich für ihn einzusetzen. Mit dem Erfolg, dass bald schon, eines schönen Frühlingstages, beim Vater in Worb ein Brief eintraf, eine Empfehlung, den Herrn Sohn Christoph doch freundlichst die Erlaubnis zu erteilen, sich am Kursächsischen Hof zu Dresden bei der Schweizer Hofgarde zu melden, gezeichnet, der Kommandant, Oberst Abraham von Graffenried.

«Ich gehe auf Studienreise durch das Deutsche Reich, mein Zielpunkt ist Dresden.»

«Soeine Reise kostet viel Geld. Du bist nicht reif genug. Ich bin nicht bereit, das Geld für dich auszulegen.»

«Esstehen mir aus dem Erbe meiner verstorbenen Mutter 20 000 Pfund zu, wenn ich nicht irre.»

«Das ist richtig. Aber du bist nicht reif genug.»

«Dann gebt mir doch einen Hofmeister mit. Der wird auf mich aufpassen.»

Entgegen all seiner Prinzipien gab der Vater diesmal nach. Er bestellte seinem Sohn den Theologiestudenten Hannes Matter als Mentor zur Seite, der die Reisekasse zu verwalten, Stöff von leichtsinnigem Handeln abzuhalten und dem Vater regelmäßig schriftlichen Bericht zu erstatten hatte.

So konnte es losgehen.

Über Basel und Straßburg ging die unbeschwerte Fahrt, endlich befreit von der Strenge, Zucht und Ordnung seiner Schulzeit in der Heimat. Und immer fröhlicher ging es zu, je weiter von Bern man sich entfernte. Die erste Reise führte die beiden schließlich nach Heidelberg.

Lebensfroh war da das Volk, sinnenfreudig, prachtvoll das Schloss, berühmt die Universität. Hier ließ es sich gut leben als Student. Alsbald trat Stöff, jetzt als junger Herr Christoph von Graffenried, an einen Geheimen Rat heran, Hagenbach mit Namen, der mit dem Kurprinzen von der Pfalz jüngst in Bern zu Besuch gewesen war. Stöff-Christoph überbrachte ihm in aller, in beinahe übertriebener Form die besten Grüße aller Berner Notablen, deren Namen ihm aus dem Stegreif gerade so einfielen, Bonstetten, Diesbach, Stürler, Erlach, Jenner, Sinner, Willading, samt deren Titeln als Ratsherren, Schultheißen, Landvögte, einschließlich ihrer Herrschaftsorte, Jegenstorf, Seftigen, Vaumarcus, Chillon, Hindelbank und Thunstetten. Er nannte einfach alle, von denen er annahm, dass sie beim Empfang des Prinzen anwesend gewesen sein könnten. Der Geheimrat war bereits im hohen Alter und offensichtlich schwerhörig, denn er kniff nur die Augen zu und

nickte freundlich, als der junge Herr die vielen Namen herunterbetete.

Christoph bildete sich nicht wenig ein, als er annahm, dass, wenn die Schweiz von Monarchen, statt wie in Bern von gewählten Standespersonen regiert würde, er, vom Patriziergeschlecht von Graffenried, zum hohen Adel des Landes zählen würde, und fühlte sich also auch den europäischen Fürstenhöfen und Königshäusern durchaus zugehörig. Der Gedanke ließ ihn nicht los.

Das Vorsprechen blieb nicht ohne Wirkung. Anderntags erreichte Herrn Christoph an seiner Adresse unten in der Stadt ein Schreiben des Kurfürstlichen Hofes mit der Einladung, er möge sich doch bitte noch heute durch den Geheimrat Hagenbach im Schloss einführen lassen, der Kurfürst höchstpersönlich und der Prinz bäten den jungen Herrn von Graffenried zum Empfang. Eine Kutsche werde am späten Nachmittag nach ihm gesandt.

Jawollja. So einfach ging doch das Leben!

Ehrerbietig machte besagter Herr von Graffenried am Abend seine Reverenz vor dem Herrscher und verneigte sich vor dem Prinzen, beantwortete höflich die förmlichen Fragen nach seiner Herkunft und dem Grund seiner Reise.

«Aha, Studien, interessant, interessant!», sagte der Kurfürst. Christoph ließ sich willkommen heißen am Hof und wurde mit der Ermahnung, man hoffe doch, der junge Herr habe im Sinn, all seine Studien und diese auch bis zum Abschluss in Heidelberg zu absolvieren, mit Komplimenten und Empfehlungen entlassen und von einem Diener zur Tafel geführt. Unzählige Kristallleuchter erhellten den Saal, wuchernde Verzierungen, venezianische Spiegel, Seidenstoffe. Solche Üppigkeit der Ausstattung, solche Extravaganz hätte er an einem calvinistischen Hof zuletzt erwartet.

Bei Tisch hielt er sich an die Anstandsregeln, lediglich zuvorkommend zu lächeln und mit dem Kopf eine kleine Verbeugung anzudeuten, wenn Blicke ihn, den Novizen, musterten, und nur zu reden, wenn er von einem der anderen Gäste angesprochen wurde. «Ich? – Oh, danke der Nachfrage. Ja, aus Bern und hier zu Studienzwecken.» Umso tüchtiger jedoch sprach er dem Wein zu, der in Schläuchen aus dem riesigen Fass im Kellergebäude gepumpt wurde und köstlich mundete. Als man zum Gaudium aller nach Tisch aufbrach, das Riesenfass zu besichtigen, merkte Stöff, dass sein Tritt nicht mehr fest war und er gehörig schwankte.

Das Weinfass war so groß wie eine mittlere Scheune, verziert mit Schnitzereien, darauf ein Tanzboden. Das Gelage nahm hier seinen Fortgang. Es wurde getrunken, gesungen und getanzt, sodass Stöff, als er spätnachts über den Schlosshof ging und sich auf den Heimweg machte, kaum mehr gehen konnte.

Er hatte seine Sache offenbar gut gemacht, denn von jenem Abend an stand ihm der Hof jederzeit offen. Der junge Herr aus Bern war damit aufgenommen in den erlauchten Kreis der Kurpfälzer Hofgesellschaft. Gern gesehener Gast war Christoph der Wohlerzogene auch in den Heidelberger Schankstuben, wo er mit Matter, seinem Aufseher, die Nächte durchzechte, Karten drosch und seinen Kommilitonen Runde um Runde ausgab. Im Hörsaal dagegen war er nur höchst selten anzutreffen, hatte er doch, nachdem er den Morgen verschlafen hatte, nachmittags seinen Verpflichtungen am Hof nachzukommen, musste mit manchem Fräulein von Stand durch die Gärten promenieren, mit ihnen parlieren und poussieren.

Der alte Stöff in seinem Turm am Rittertisch ist noch immer stolz auf diesen unbekümmerten Debütanten Christoph, der

er damals war. Einzig Matter, sein pedantischer Begleiter, der ihn verfolgte wie sein eigener Schatten, hinderte ihn damals daran, sich frei zu entfalten. Matter war wie Kocher ein Quälgeist. Matter hielt ihm seine nächtlichen Eskapaden vor und rechnete pflichtergeben jeden Groschen ab, um Vater Bericht zu erstatten.

Unrühmlich war dagegen dann die überstürzte Abreise aus Heidelberg wegen einer Kalberei. Mit einem Junker aus Halle an der Saale hatte er sich nachts duelliert, nachdem einer den anderen im Vollrausch beleidigt hatte, von Trotha den von Graffenried einen «Graffenfurz»genannt, dieser den anderen «von Trottel». Und Matter wusste nichts Besseres, als ihn zu verraten und die Geschichte dem Vater nach Bern zu melden.

Vater wies Matter per Eilbotschaft an, allfällig ausstehende Schulden seines Sohnes zu begleichen und in Heidelberg unverzüglich die Zelte abzubrechen. Die nächste Zahlung erfolge erst wieder nach Frankfurt.

Ganz so frei, wie er sich wähnte, war Christoph zu seinem Verdruss denn doch nicht gewesen, dem langen Arm des Vaters entkam man nicht so leicht. So war man also folgsam wie ein guter Sohn und reiste daraufhin brav den Rhein entlang, über Mannheim und Worms, nach Mainz und von dort an den Gestaden des Main nach Frankfurt. So weit ließ er es noch mit sich geschehen, dass Vater ihn am Gängelband führte. Sobald jedoch das Geld eintraf, würde Christoph es behändigen, das Erbe seiner Mutter stand ihm ja zu, und würde seinen Wachhund stante pede aus seinem Dienst entlassen. Er schickte Hannes Matter zurück nach Bern und machte sich allein auf den weiteren Weg, der ihn rheinabwärts ins holländische Leiden bringen sollte, wo sich Christoph gewissenhaft, wie er dem Vater versprach, nach seinen Heidelber-

ger Kapriolen jetzt endlich eine Zeitlang dem Studium der Rechte, der Geschichte und der Mathematik verschrieb.

Ob Kocher wohl bald fertig ist mit seinem Herumgefummel? Nervensäge.

Sein ursprüngliches Ziel, Dresden mit der Aussicht auf eine Offizierslaufbahn, ließ er unterdessen fallen. Sein Fürsprecher in Sachsens Schweizer Truppe war plötzlich verstorben. Eine Fügung, die Christoph zwar anstandshalber zu beklagen hatte, die ihm insgeheim aber nur recht sein konnte, denn es hätten ihm dort wie zu Hause nur Drill und Unfreiheit gedroht.

«Haben der Herr Landgraf noch eine Anweisung?» Kocher hat seine Verrichtungen zu Ende gebracht, hat auf der Truhe Wein, Käse, Speck, frisches Brot und Obst bereitgestellt und steht in der Tür. «Vielleicht noch einen Brief zu versenden?» Stöff schüttelt den Kopf. «Dann werde ich mir erlauben, mich zurückziehen», Kocher verneigt sich leicht, «stets zu Diensten, Herr Landgraf», und schließt, indem er sich in einer formvollendeten Pirouette abwendet, leise die Tür hinter sich und macht sich gemessenen Schrittes davon.

Was will der Mensch mit dem Gesalbe?Als wär’ smeine letzte Ölung. Kocher bringt mich noch ganz durcheinander, ich muss meine Gedanken beieinander halten für mein Werk. Ich schreibe keine Briefe mehr. Soll nur der Fränzi den ganzen Krempel erledigen. Irdischer Plunder, all das. Und baut sein Lustschloss mir noch vor die Nase, der Herr Sohn, der neue Herrschaftsherr von Graffenried, mit Gartenanlage und Blumenterrassen zum Deambulieren, mit Springbrünnlein und Wasserspielen, Gartentörchen und Ziergärtlein. Zum Pläsier. Als ob ein weiteres Herrenhaus in Worb noch fehlte.

Schnickschnack, alles Firlefanz, wenn du mich fragst. Aber item, soll er zerplatzen, der Frosch, an seinem Geblähe. Empörend. Ich, zu meiner Zeit, hatte noch meine Ideale, den festen Glauben, den Drang, etwas Großes zu schaffen, den Geist, die Welt zu entdecken, die Zivilisation voranzutreiben. Und hier?Ein Klotzen, es wird in Stein gemeißelt, was an Wunder, an Erhabenheit und Stil, was an Prunk man sich leisten kann. Der Prunkgeck!Und Stroh im Kopf. Liebhaberei, vergängliche, mein Sohn, und kein Sinn für die ewigen Werte, für das Menschliche am Menschen. Soll der sich den jungen König in Preußen mal zum Vorbild nehmen!Hörst du, Franz?Geschichte schreiben!Friedrich, zum Beispiel, der hat in Preußen die Folter abgeschafft, per Edikt und gegen den Willen all seiner Minister, stell dir vor. Die Tortur abgeschafft. Und du, Nichtsnutz, Kotzprotz?Bestellst dem Landgrafen von Carolina einen Vormund!Und baust dir ein Schloss.

Item, wie gesagt, jede Feste wird zu Staub. Wo ist der Wein?Ich bin vom Pech verfolgt. Das muss ich festhalten, damit das klar ist, ein für alle Mal. Ach, wenn mich nur dieser Kocher nicht immer unterbrechen würde. Er bringt mich noch ganz durcheinander. Wo war ich?

Nach Leiden ging’ sdann nach London. Zwei Jahre Studium waren die Vorgabe des Vaters, bevor er ihn nach London reisen ließ. Zu einem Bekannten und unter dessen Schutz und Aufsicht. Einem Sir William Waller, den der Vater angeschrieben hatte. Ein hohes Tier im Parlament. Er hätte ihn empfangen, hätte ihm in London alle Türen öffnen sollen. Bei der Ankunft, war vereinbart, hätte dieser Waller ihn mit einer angemessenen Börse ausstatten sollen für seinen Unterhalt, in der ersten Zeit. Weil er selbst, der Herr Vater, einen Igel in der Tasche hatte und zu geizig war, ihm Geld zu schi-

cken. Er hätte es Waller dann zurückzahlen müssen aus seinem Gehalt. Er hatte eine Stellung als Kontorist in Aussicht in der Kanzlei eines Duke of Carlyle. Alles lief nach dem Marschplan. Carlyle selbst war offenbar, wie er erfahren sollte, eben zum englischen Botschafter in Konstantinopel ernannt worden.

Christoph sprach kaum ein Wort Englisch, kam also an in London, mit seinen sieben Sachen, Sack und Pack geschultert, mit seinen letzten zehn Dukaten. Die allerletzten von Vaters letzter Zahlung nach Holland, die ihm davon noch übrig geblieben waren. Kein Mensch verstand ihn, keiner sprach Französisch, keiner Deutsch, und sein Latein half auch nicht weiter. Dicker Nebel in der Stadt, aber er schlug sich durch und fand so auch irgendwann Sir Williams Haus. Klingeling, ein Diener öffnete und ließ ihn vor der Haustür stehen, verschwand, und nach einer Weile erschien Lady Catherine, Wallers Gattin, etwas verwirrt, mit abwesendem Blick. Sie schien nicht zu verstehen. Es begann zu regnen, und noch immer wurde er nicht hereingebeten. Sir William sei nicht abkömmlich, sagte sie, und es sei auch nicht absehbar, wann und ob überhaupt er zurück nach Hause kehren würde, sie könne ihm beim besten Willen nicht weiterhelfen.

Es stellte sich heraus, dass Sir William als Politiker im Parlament inzwischen in Ungnade gefallen undinHaft genommen worden war. Er saß eininder Fleet Prison – völlig unschuldig, wieLady Catherine beteuerte,ascandal! Eingekerkert in Londons Schuldenturm. VonChristophs anderem Schutzherrn, demDukeofCarlyle,wussteLadyCatherine nur vage zu berichten, dass der sich wohl bereits auf hoher See befinde, unterwegs wohl sei nach Konstantinopel.

Und warf die Tür ihm vor der Nase zu.

SEIN GRÖSSTER COUP, SEIN TIEFSTER FALL

Am 10. September 1710 betritt der Berner Patrizier Christoph von Graffenried nach achtwöchiger Seereise amerikanischen Boden. Im Frachtraum seines Schiffes bringt er eine Ladung «überlestige Unterthanen» aus Bern mit, vornehmlich Wiedertäufer und verarmte Bauern aus dem Simmental, mit denen er wenig später die Stadt New Bern gründet.

Königin Anne von England hat ihn beauftragt, mit den Auswanderern aus Bern auch deutsche Glaubensbrüder aus der Pfalz, die als Flüchtlinge London überschwemmt haben, in der englischen Provinz Carolina anzusiedeln. Dafür soll er dort für 30 Jahre die Rechte zur Ausbeutung von Silberminen erhalten. Nach vielen Rückschlägen steht ihm, der in den Augen seines Vaters stets ein Taugenichts gewesen ist, endlich eine große Zukunft bevor. Eine Kolonie mit eigener Verfassung. Er als Landesvater!

Doch dass er mit seiner Gründung den Tuscarora-Krieg auslöst, war nicht geplant.

Bildstark und atmosphärisch erzählt Nicolas Ryhiner das bewegte Leben seines Urahns und schildert den Absturz eines grandiosen Schweizer Unternehmens im frühen 18. Jahrhundert.

« EIN HISTORISCHER ROMAN, DER AUS DER SCHWEIZER

LITERATUR HERAUSRAGT. NICOLAS RYHINER IST EIN

GROSSER ERZÄHLER, EIN TRÄUMENDERREALIST ,

WIE GOTTFRIED KELLER EINMAL GENANNT WURDE. HIER IST DESSEN NACHFOLGER. »

Lisa Kämmerling-Feldmann, Journalistin

« EINE ART SCHELMENROMAN MIT

EINER GUTEN PORTION TRAGIK. HISTORIE VOM BESTEN! »

Hortensia von Roten, Historikerin

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