Bernhard Chiquet: ‹Nach Manhattan›

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Nach

MANHATTAN BERNHARD

Roman

CHIQUET

BernhardChiquet

Nach Manhattan

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© 2023 ZytgloggeVerlag, Schwabe VerlagsgruppeAG, Basel

Alle Rechtevorbehalten

Lektorat: Alisa Charté

Korrektorat :Anna Katharina Müller

Umschlagbild :Bernhard Chiquet

Umschlaggestaltung: Hug &Eberlein, Leipzig

Layout/Satz :3w+p, Rimpar

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN :978-3-7296-5116-6

www.zytglogge.ch

®

Nach Manhattan

Bernhard Chiquet
Roman

Fifth Avenue and Forty-Fourth Street swarmed with the noon crowd. The wealthy, happy sun glittered in transient gold through the thick windows of the smart shops, lighting upon mesh bags and purses and strings of pearls in gray velvet cases;[ … ].

F. Scott Fitzgerald, Tales of the Jazz Age, 1922

Prolog

«Ah, da ist ja Long’ Alcide!», rief mein Vater aus. In meinen Kinderohren klang das nach Abenteuer, ein amerikanischer Name aus einer Geschichte von Karl May, eines Helden wie Old Firehand, Dick Hammerdull, Hobble Frank – und Long’ Alcide,warum nicht?Tatsächlich war dieser Name eine in der Gegend übliche Verkürzung vom französischen l’ oncle Alcide.

An dieses erste Mal, als ich nach Cornol mitgenommen wurde, kann ich mich erinnern, da war ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Mit meinem Vater kam ich von der Kirche her, und als wir beim Haus in der Gabelung der Dorfstraße nach rechts in das Sträßchen La Rasse einbogen, begriff ich, dass hier meine Verwandten wohnten. Der Großonkel war am Holzspalten vor dem Scheunentor. Der Spaltstock stand zwischen zwei großen Haufen, links das schon Zerkleinerte, rechts die groben Klötze. Er hielt das Scheit mit einer Hand und hieb die Axt dicht neben seinen Fingern ins Holz. Er brauchte nur einen Schlag, um es zu teilen. Als wir ins Haus gingen, machte er noch eine Weile weiter und kam dann nach. Tant’ Julia konnte ich bei der Begrüßung nicht ausweichen. Sie packte mich mit hartem Griff und drückte mir links und rechts einen stacheligen Kuss auf die Wange.

Viele Personen saßen am Stubentisch beim Essen des weichgekochten Sonntagsbratens. Mein Vater, meine Mutter – die kam nur dieses eine Mal mit, meine ich –,mein Bruder, meine Schwester. Long’ Alcide, Tant’ Joséphine, Tant’ Julia. Sie und Long’ Alcide neckten einander immer wieder. Mein Vater lachte und übersetzte, was sie sagten: «Sèrre-te, véye toétchon! – Quetsch dich mal zusammen, alter Lappen!» Long’ Alcide trug ein Gebiss im Oberkiefer, eine

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Reihe blendend weißer Zähne, die sichtbar wurden, wenn er sprach oder lachte. Der Unterkiefer war eingefallen, als hätte er dort keine Zähne. Ich meine mich zu erinnern, wie er und Tant’ Joséphine Mühe hatten beim Beißen, dass auch deshalb alles sehr weichgekocht war. Long’ Alcide gab sich lustig, gut gelaunt. Er hörte allerdings fast nichts. Ein altmodisches Hörrohr wie das von Professor Tournesol im Tintin lag herum. Er benutzte es aber nicht, sondern formte stattdessen mit der Hand eine Muschel hinter seinem Ohr.

Wir Kinder verstanden kein Wort von dem, was die Erwachsenen sprachen. Mein Vater redete Französisch mit dem Onkel und den Tanten, sie antworteten in einer Mischung aus Französisch und Patois. Kaum hatten wir gegessen, wollten deshalb meine Schwester und ich den Tisch verlassen. Wir schlichen uns davon in die Scheune. Sie wurde schwach beleuchtet von Sonnenstrahlen, die ihren Weg fanden durch die Lüftungsschlitze zwischen den Brettern. Es gab zwei Holzböden auf verschiedenen Ebenen, die vertikal etwa drei Meter voneinander entfernt waren. Eine Leiter mit ausgedörrten und deshalb wackeligen Sprossen stand angelehnt am oberen Boden. Wir stiegen hinauf, das Heu lag schon ewig dort und war staubtrocken. Weil wir es bewegten, wurde der Raum jetzt von schrägen Lichtbahnen durchschnitten. Wenn wir von der oberen zur unteren Heubühne hinunterschauten, war da ein schwarzer Abgrund. Wir kletterten nochmals hinunter und schaufelten mit Händen und Armen alles Heu auf einen Haufen zusammen, von dem wir hofften, er werde unseren geplanten Flug sicher abbremsen. Wieder oben, warteten wir so lange, bis jemand den Mut hatte zu springen. Schon nach dem ersten Sprung waren wir süchtig.

Tant’ Julia kam in die Scheune und schimpfte. Es war uns klar, was sie sagen wollte. Dass gefährlich sei, was wir da machten, und wir zurück in die Stube kommen sollten. Wir

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taten so, als verstünden wir nichts, und sprangen weiter. Da kam sie zurück mit meinem Vater. Sie wiederholte, dass wir aufhören sollten, redete auf meinen Vater ein. Er sagte: «Mais, laisse-les!»

Sie gab auf, schimpfte aber vor sich hin, als sie die Scheune verließ. Vater ermahnte uns nur, auf unsere Zungen aufzupassen.

Wer war wie viele Male in Cornol, wer hat sich um die alten Leutchen mehr gekümmert?Diese Fragen wurden immer wieder mal gestellt in der Familie. Mein Vater, meine Mutter, die jüngere Schwester, der ältere Bruder und ich waren nicht die fleißigsten Besucher. Der Mutter hat es gegraust in dem kleinen Häuschen, zum Beispiel, wie ich mich erinnere, vor dem Schüsselchen mit Zucker, aus dem die Cornoler mit dem Kaffeelöffel schöpften, wenn dieser schon in die braune Brühe und in den Mund gesteckt worden war. Es war alles ein bisschen verklebt, die Tischdecke voller Flecken. Oder vor dem Kirschkuchen, der zwar sehr gut schmeckte, dabei aber, weil er aus so kleinen ç ’ liejes gemacht war, hauptsächlich aus Steinen bestand. Deshalb blieb nach dem Essen eines Stücks ein schwarzroter Haufen davon auf dem Teller übrig, mehr oder minder manierlich ausgespuckt. Mein Bruder durfte –oder musste – ein-, zweimal im Sommer mit dem Vater zur Heuernte nach Cornol. Er kam von den Bremsen zerstochen zurück, war aber stolz auf sein Abenteuer. Er erzählte, dass ihn der Vater dort einmal angestupst und auf Long’ Alcides Hose gezeigt habe. Diese war mit eingetrocknetem Mist beschmutzt und zog die Fliegen in Massen an. Das gab dann so ein Bild, Long’ Alcides Hintern, umkreist von einer Wolke von Fliegen. Es war unmöglich zusammenzubringen mit anderen Bildern von ihm, mit bräunlichen Fotos aus den USA, auf denen er in tadellosen Anzügen und noch ohne Schnurr-

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bart zu sehen war, vor teuren Autos und in Gesellschaft vornehmer Damen.

Da die Cornoler mehrere Flecken Land besaßen, auf denen Obstbäume standen, vor allem mit Äpfeln und Zwetschgen, musste im Herbst bei der Obsternte geholfen werden. Das haben nach Long’ Alcides Tod andere aus der Familie übernommen, die Brüder des Vaters mit ihren Familien. Jemand, vielleicht eine Cousine, erzählte, dass Tant’ Julia dann in der Mittagspause im Schatten eingeschlafen sei und wie ein Bär geschnarcht habe.

Als nur noch die beiden Großtanten allein im Haus lebten, wurde es kritisch. Tant’ Julia ernährte sich überwiegend von Rotwein, Tant’ Joséphine hatte schon lange böse Beine, war fast blind und konnte sich nur schwer bewegen. Ihre Neffen sorgten dafür, dass die zwei Alten einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekamen, geliefert aus dem Gasthaus Boeuf. Aber Mitte der Siebzigerjahre begannen sich die Leute im Dorf Sorgen zu machen, die Frauen könnten im Haus stürzen oder unbemerkt versterben. Dazu feuerte Tant’ Julia immer noch den Herd in der Küche ein, was zu weiteren Befürchtungen Anlass gab. In der Familie war man sich uneins darüber, ob man die beiden alten Frauen in ein Pflegeheim bringen solle oder nicht. Weil aber die Gemeindeverwaltung den Druck verstärkte, machte man sich auf die Suche nach einem geeigneten Heim. Man fand eines, das von Nonnen geführt wurde, und es gelang, die beiden dorthin zu bringen. Tant’ Joséphine soll es sehr genossen haben, umsorgt und gepflegt zu werden, zum ersten Mal seit Jahren wieder einmal richtig gewaschen. Sie starb kurze Zeit später. Man würde gerne erzählen, sie sei in dem Heim verstorben. Friedlich eingeschlafen, nachdem man sich gut um sie gekümmert hatte, und sie ihr anstrengendes Leben in dem unbequemen Haus loslassen konnte. Aber es war anders. Sie starb im Spital von Prun-

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trut, nachdem sie im Heim gestürzt war und sich den Schenkelhals gebrochen hatte. Tant’ Julia aber packte ein ums andere Mal ihr Köfferchen und haute ab, stellte sich mit erhobenem Daumen an die Landstraße und wollte nach Hause gefahren werden. Irgendwann wurde es den Nonnen zu viel. Sie musste in die halbgeschlossene Abteilung der Alterspsychiatrie von Bellelay gebracht werden. Dort lebte sie noch fünf Jahre, bis sie 1979 im nahen Spital von Tavannes starb. In Bellelay ging ich sie einmal besuchen mit meinem Vater. Wir holten sie ab für eine Spritzfahrt durch die Freiberge. Tant’ Julia genoss das sehr. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie auf einem Bänklein sitzt, in die weite Landschaft blickt und befriedigt seufzt. Als wir sie gegen Abend zurückbringen, kommen wir am Ortseingang beim Schild vorbei. Da ruft sie: «ÈBellelay, c ’ât li qu ’ demoerant les fôs! – Da wohnen die Verrückten!»

Bevor sie im Portal der Anstalt verschwindet, dreht sie sich um und winkt uns fröhlich zu.

Nach dem Tod der Cornoler Verwandten ging das Haus in den Besitz der Erbengemeinschaft über. Die bestand zur Hälfte aus meinem Vater, unseren Onkeln und einer Tante, das heißt, aus den Söhnen und der einen Tochter meines Großvaters Jean Baptiste, dem ältesten der Cornoler Brüder. Die andere Hälfte wurde der Tochter von Célina zugesprochen, der jüngeren Schwester von Long’ Alcide. Der älteste meiner Onkel, mit dem Namen Jean Baptiste wie sein Vater, verwaltete die Angelegenheiten und versuchte, das Haus der Gemeinde oder einem Nachbarn zu verkaufen. Nachdem dieser Plan fehlgeschlagen war, beschloss er zusammen mit den Geschwistern, es zu einem sehr niedrigen Preis einem Neffen zu überlassen. Dieser begann, zusammen mit einem befreundeten Schreiner, das Haus zu renovieren. Weil man nicht

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gleichzeitig darin wohnen konnte, stellten sie einen Sommer lang ein Zelt in den Obstgarten neben der Kirche. Leider stürzte der Schreiner in der Scheune mehrere Meter tief und ruinierte sich die Schulter. Zudem begann der Cousin eine Ausbildung als Goldschmied und wurde Vater, sodass das Projekt auf Eis gelegt wurde. Der Dorfbach unterspülte in der Zwischenzeit das Fundament. Eine Zeit lang hauste ein Künstlerfreund im Haus, dann verkaufte es der Cousin an einen Spekulanten, der es wiederum veräußerte an ein Paar aus Basel. Wie man heute sieht, blieben deren Bemühungen um eine Erneuerung irgendwann stecken. Es wirkt heute unbewohnt und präsentiert sich mitsamt dem Garten in erbärmlichem Zustand. Zwei Obstgärten, im Kern des Dorfes, direkt neben dem Friedhof, sind noch im Besitz von Nachfahren. Sie kümmern sich um die Ernte und die Pflege der Bäume.

Im Laufe der Zeit werden die ursprünglich detailreichen Erzählungen einer Familie abgeschliffen wie die Steine in einem Fluss. Auch bei uns Chiquets, von denen ich hier erzähle. Vonden komplexen, zerklüfteten, vieldeutigen Geschichten bleiben grob zusammenfassende, schablonenhafte Sätze übrig, die halbe Leben zu umfassen behaupten.

Eine Tante ist in den USA verstorben, alle anderen Geschwister kamen arm zurück.

Der Pionier und Erfolgreichste war Long’ Alcide, Kammerdiener bei Rockefeller Junior.

Eine Tante war drüben verheiratet, mit so einem Erfinder. Als er starb, kehrte sie zurück.

Was auch bleibt, sind farbige, mit Emotionen verbundene Anekdoten. So soll ein Neffe der Ausgewanderten bei Vorstellungsgesprächen in einem Smoking von Rockefeller aufgetreten sein, mit einem roten Pullover unter dem Kittel. Eine gute Geschichte, aber eher unwahrscheinlich, da der Neffe

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viel größer war als der Millionär. Es gibt in der Familie keine Kleidungsstücke und Schuhe von Rockefeller Junior mehr, von denen man erzählte, Long’ Alcides Patron habe sie ihm großzügig überlassen. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass es sie gegeben hat, denn mehrere Familienmitglieder erinnern sich übereinstimmend und detailliert daran. Mein Vater erhielt vom Onkel mehrere Paare identische, handgefertigte Schuhe, hellbraun, rahmengenäht und im Stil von Golferschuhen mit Lochgirlanden geschmückt. Er trug sie so lange, bis das Leder brach. Long’ Alcide habe berichtet – so die Erzählung des Vaters –,dass Rockefeller von jedem Schuhtyp mehrere Paare anfertigen ließ und dieselbe Schuhgröße gehabt habe wie er, sein Diener. Mir waren diese Schuhe leider zu klein. Ich durfte als Halbwüchsiger dafür einen halblangen, schwarzen Mantel aus feinem Wollstoff austragen, mit Applikationen aus schwarzer Seide auf dem Kragen. Auf der Innentasche war eine Stoffetikette aufgenäht mit der Aufschrift

John D. Rockefeller Jr. Esq. Der Mantel erregte zu jener Zeit, um 1969, Bewunderung und Neid bei meinen Schulkameraden. Meine damalige Freundin strickte mir dazu einen roten Wollschal, mit dem ich, wie sie fand, Aristide Bruant auf dem Plakat von Toulouse-Lautrec glich.

Hat man dem Großonkel Long’ Alcide seine Geschichten über die Zeit in Amerika geglaubt?Dass er Kammerdiener von Rockefeller Junior war?Eswar nicht einfach, sich das vorzustellen, wenn man ihn danach, nach 1917, wieder im kleinen jurassischen Dorf antraf, als Kleinbauer mit zwei, drei Kühen, ein paar Obstbäumen. In der eigentümlichen Sprache der Ortsansässigen seine Erlebnisse zum Besten gebend. Alle wussten zwar, dass er Geld besaß, seitdem er aus den Staaten zurückgekommen war. Er verteilte es großzügig, wo er dies für nötig erachtete. Aber dass er es im Dienste eines der reichsten Männer der Welt verdient haben sollte, dazu in dessen größ-

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ter Nähe, das glaubten ihm sicher nicht alle. Er lachte gerne über seine eigenen Worte, was Zweifel an seinen Geschichten nährte. Nie wusste man, ob er sich über den Zuhörer oder über sich selbst lustig machte. Und weil er fast taub war, war es schwierig, ihn nach Details seiner Erlebnisse zu fragen.

Ich werde erzählen, wie er aus dem Tausendseelendorf Cornol aufbricht. 1907 gilt in der Geschichte der Vereinigten Staaten als Rekordjahr, in dessen Verlauf erstmals mehr als eine Million Auswanderer in Manhattan ankamen. Seine ältere Schwester Joséphine ist bereits vier Jahre in New York gewesen, wo sie sich als Kindermädchen und Näherin durchgeschlagen hat. Wir werden sehen, was Alcide sich erhoffte, und was er schließlich erreicht hat jenseits des Atlantiks.

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Teil I

Aufbruch

Über die Eisheiligen war es in jenem Mai 1907 für mehrere Tage sommerlich warm. Weil die Bauern von Cornol danach mit Gewittern rechneten, brachten sie das erste Heu noch vor dem Elften in den Schobern unter.

Die Heuernte hinterließ Spuren in seinen Handflächen, er hat Blasen wie lange nicht mehr. Das Brennen erinnert ihn an die Freude vorgestern, als die letzte Fuhr geschafft war. Er schließt für mehrere Schritte die Augen, eine alte Gewohnheit. Öffnet sie, macht sie wieder zu. Es ist nicht schwer, die Richtung zu halten, er spürt die sanfte Steigung der Dorfstraße unter den Füßen. Sie führt ihn geradeaus. Kopfnüsse hat er einstecken müssen als Bub, weil er das einfach nicht lassen konnte, den aiveuye,den Blinden machen. Er liebt die Steigerung der anderen Sinne, wenn er die Augen schließt. Die Geräusche. Er würde Cornol immer an seinen Geräuschen wiedererkennen. Man kann sich einbilden, den Klang der weiten, leicht schiefen Ebene zwischen Jura und Vogesen zu hören, an deren oberen Rand, am Ausgang des Tals der Coroline, das Dorf liegt. Dessen Geräusche nur einen Teil dieses Klangs ausmachen, den nahen und lebendigen. Mit Gegacker von Hühnern, Rauschen und Gurgeln des Bachs, Plätschern der Brunnen. Immer klopft, hämmert, dengelt jemand. Menschen locken ihre Tiere mit seltsamen Lauten, unterhalten sich rufend über mehrere Gärten hinweg auf Patois, im vertrauten Niainiainiai.Ein Hund bellt, ein anderer antwortet ihm aus der Ferne.

Das gilt ihm jetzt.

«Träumst du schon von drüben, vom Schlaraffenland?»

Gelächter von mehreren Seiten, als er die Augen aufschlägt.

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«Wann geht’ slos?»

«Morgen!»

«Alles gepackt?Kommt dich jemand abholen in New York?Joséphine ist ja noch hier. Die kommt später nach, oder?»

Er bleibt bei Emile und Armand stehen, beide tragen Werkzeug auf den Schultern, eine Heugabel, eine Axt.

«Zuerst muss ich im Havre ankommen. Es ist nicht mehr so wie früher mit den Extrazügen. Da konnte man sitzen bleiben, sogar durch Paris.»

Vonder anderen Seite des Sträßchens kommt Armands

Schwester Célestine dazu.

«Musst du übernachten?»

«Ja.»

«Wir haben gehört, du gehst mit Henri zusammen. Stimmt es, dass ihr auf diesem schnellen Dampfer fahrt?Wie heißt er, La Prudence?»

«LaProvence!»

«Der ist ganz neu, sagen sie. War sicher teuer, dazu zweite Klasse. Chic, chic, Monsieur Chiquet!»

Er macht sich los von dem Grüppchen.

«Also, bis dann!»

«Ja, bis dann.»

«Vergiss uns nicht!» Célestine sagt es leise. Sie errötet, als er sie angrinst, noch rückwärtsgehend. Dann dreht er sich ganz weg.

Heute hat er es nicht weit, die drei Kühe stehen auf einer Weide fast am Waldrand, beim oberen Dorfeingang. Er ruft sie, und als er beim Zaun ankommt, stehen sie schon brav bereit, die beiden älteren mit prallem Euter. Er öffnet ihnen das Gatter. Es folgt ein kurzes Hin und Her, wer zuerst hindurchstaksen darf. Als das geklärt ist, machen sie sich mu-

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hend auf den Heimweg, er trottet ihnen hinterher, muss überlegen, was noch zu tun ist bis zum Schlafengehen.

Ihr Haus steht auf einer dreieckigen Fläche, in der Gabelung zwischen Bach und Dorfstraße auf der linken Seite und einem kleinen Weg mit dem Namen La Rasse auf der rechten. Als Alcide in der Kurve beim Lion d’ Or angekommen ist, sieht er, dass der Vater die Stalltür aufgemacht haben muss, denn die Kühe sind nicht mehr zu sehen.

Er tritt ins Halbdunkel, Papa ist schon, den runden Schädel gegen die Flanke der Kuh gedrückt, beim Melken. Alcide holt seinen Stuhl vom Haken und setzt sich zum zweiten Tier. Er muss nochmals aufstehen, den Kuhhintern geraderücken und den verdreckten Schwanz mit einer Schnur hochbinden.

«Mach vorwärts, dann kannst du die Kanne dem Pierre in die laiterie mitgeben.»

Alcide taucht aus seinen Gedanken auf, das Euter seiner Kuh ist leer. Er steht auf, schüttet den bläulich schimmernden Inhalt des Kessels in die Kanne. Der Deckel ist schmutzig, also geht er in die Küche, um ihn abzuspülen. Maman steht am Herd, und als er hinter ihr vorbeigeht, streift ihn ihr Geruch. Rauch, Essen, und ganz leise, muguet-Seife. Ohne aufzublicken setzt sie ihre Litanei fort, die sie am frühen Morgen begonnen und ununterbrochen weitergeführt hat, bei fehlenden Zuhörern als inneren Monolog, jetzt bei seinem Erscheinen wieder als Rezitativ einer Liste, was alles getan wurde und was noch alles zu tun sei vor seiner Abreise, alles in ihrer einzigen und ureigenen Patois-Sprache, ohne Punkt und Komma.

« … und Joséphine hat dir noch die Hemden geplättet wir haben sie schon eingepackt damit du sie nicht wieder zerknüllst nur das welches du morgen auf die Reise anziehst liegt zuoberst mach die Knöpfe auf wenn … »

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Er ist schon wieder aus der Küche verschwunden. Zu antworten hätte nichts geändert. Zurück im Stall drückt er den Deckel auf die Kanne, kippt an und rollt sie in Schräglage aus dem Tor ins Helle. Papa ist nicht zu sehen, ist wohl nochmals hinüber in den Boeuf, um sich vor dem Abendessen ein Gläschen zu genehmigen und um die Stimmung im Dorf zu erschnuppern. Er wartet auf Pierres Karren, den er hört, bevor er auftaucht. Davor ein mageres Pferdchen, das den Einachser mit hängendem Hals hinter sich herschleppt, als sei er mit Steinen beladen. Pierre sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am Rand der schrägen Ladefläche, hüpft, als er auf Alcides Höhe angelangt ist, herunter. Für das Tier Signal zum Stehenbleiben.

Während sie gemeinsam die Kanne hochheben und zu den anderen rücken, druckst Pierre herum.

«Wir, also die Jungen vom unteren Dorf, haben uns gefragt … »

Pause.

« … also eigentlich:Der Girard-Joseph hat mich gefragt, warum … »

Pause.

« … also, warum ihr eigentlich rüber gehen wollt. Ich meine, beim Henri ist es klar, der Hof ist schon in den Händen des Ältesten, und er kann nichts außer bauern. Aber ihr?»

Er hofft, dass Alcide endlich etwas sagt, aber der schweigt. Also muss er weitermachen, auf zweifelhaftem Gelände.

«Die Joséphine könnte doch auch hier nähen?Und du und dein Papa … es ging doch in letzter Zeit eher aufwärts mit den Uhren. Was willst du denn anfangen drüben?»

«Ich schaue mal.»

«Entschuldige, ich wollte nicht … »

«Schon gut, ich weiß es selbst noch nicht genau. Es gibt Möglichkeiten. Ich gehe zuerst mal mit Henri zu seinem

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Cousin nach Ohio. Ist ja auch ein weit entfernter Onkel von mir. Henri will etwas mit Früchten machen, aber ich glaube, das Klima ist dort nicht so mild, wie er meint. Wir werden sehen. Vielleicht gehe ich auch gleich wieder zurück nach New York. Es soll Reiche geben dort, die viele Hausangestellte haben. Die Ajolais sind beliebt, man verdient gut.»

«Hausangestellter?Dumeinst Diener?Dann müsstest du … ?»

«Ja, warum nicht?»

Pierre wiegt den Kopf hin und her, will noch etwas sagen, lässt es dann doch, setzt sich wieder auf seinen Karren. Kaum spürt es den Ruck, setzt sich das Pferdchen in Gang. Während er rittlings davonfährt, hält Pierre seinen Blick auf Alcide gerichtet.

«Also, pass auf dich auf!», ruft er, bevor er hinter der Wegbiegung zur Route de la Baroche verschwindet.

«Ja, mach ich», murmelt Alcide, und wieder wird er von einer körperlichen Unruhe überrascht. Der Magen krampft sich zusammen, die Kehle wird trocken, da kann er schlucken, so oft er will. Es kribbelt ihn in Händen und Füßen, er weiß nicht, wie ihm geschieht. Heute Morgen, kurz bevor er wach wurde, hat es ihn so gepackt. Julia, die Einzige, der er davon erzählt hat, lachte nur.

«Duhast das Reisefieber.»

Er geht ins Haus zurück und die Treppe hoch in die kleine Werkstatt. Setzt sich an seinen Arbeitsplatz, und obwohl alles weggeräumt und versorgt ist, ein handlicher Teil eingepackt in seine Reisekiste, zieht er eine Schublade nach der anderen auf. Holt sich aus der untersten die kleine Drehbank, mit der er bis vor einem Jahr Zapfen an die Enden winziger Achsen gedreht hat. Er spannt sie in den Schraubstock, holt ein paar feine Dreheisen aus einer zweiten Schublade, dann aus der obersten die Schachtel mit Rohlingen, Reste der letzten Be-

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stellung. Nimmt seine Uhrmacherlupe vom Schaft über dem Werktisch und klemmt sie ans Auge. Er beginnt zögernd mit dem Einspannen des kleinen Werkstücks, versucht sich an den Ablauf der einst mit viel Routine ausgeführten Arbeitsgänge zu erinnern. Die Ruhe kehrt in seinen Körper zurück, und als er die nur mit der Lupe zu sehenden Drehspäne wegpinseln und zum ersten Mal nachmessen kann, ist er wieder er selbst.

Julia stürmt herein, mit roten Backen, zieht ihn mitsamt dem Stuhl weg vom Tisch, platscht sich lachend auf seinen Schoß, gerade noch kann er die Hand mit dem scharfen Werkzeug von ihr weg strecken. Er will etwas sagen, doch sie überfährt ihn mit der überschäumenden Kraft ihrer Halbwüchsigkeit.

«Das darfst du jetzt nicht mehr!» Sie imitiert Tonfall und Dialekt der Mutter. Plaudert weiter, blubbernd, mit Überdruck.

Alcide fasst die Schwester bei der Taille und schiebt sie vom Schoß weg auf Vaters Stuhl. Dabei spürt er unter seinen Fingern die Rundungen der Fünfzehnjährigen. Maman hat recht:Das geht nun nicht mehr.

«Ist es wahr, dass in New York der reichste Mann der Welt lebt?Und gibt es dort ein Theater mit Bildern, die sich bewegen?Ist es das größte und schnellste Schiff, mit dem du fährst?»

Eine Frage nach der anderen stößt sie aus. Sie erwartet keine Antwort, beendet ihren Schwall, indem sie noch einmal tief Luft holt für einen langgezogenen Seufzer. Dann, jedes Wort einzeln ausrufend: «I – want – to – go – to – America – too!»

In seinem Zimmer überprüft er sein Gepäck, die Papiere, das Geld, das kleine Wörterbuch. Ihm fällt nichts ein, was er ver-

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gessen haben könnte. Doch:Schreibzeug!Ineiner Schachtel entdeckt er seine Schulfedern, die Tinte im Fläschchen ist aber eingetrocknet. Er wird Joséphine fragen, sie hat immer alles. Er findet ein halb leeres Schreibheft, das er in einer Außentasche unterbringen kann. Als er die Schublade zustoßen will, sieht er das Foto, das sie vor einem Jahr in Pruntrut hatten machen lassen, Henri, Armand und er. Henri sitzt in der Mitte auf einem Stuhl, sie stehen links und rechts hinter ihm. Wie etwas zwielichtige Geschäftsmänner schauen sie aus. Jünglinge, die auf Männer machen. Er als einziger ohne Schnurrbart, die Haare links gescheitelt, seine Tolle über der Stirn nach rechts gebürstet. Er findet, er sieht noch immer gleich aus. Die Krawatte vom Foto mit den Edelweiß hat er eingepackt für Amerika. Er steckt das Bild zum Notizbuch. Dann geht er nach unten zu seiner Familie.

Mutter hat einen toétché gebacken, dessen Duft sich im ganzen Haus ausgebreitet hat. Nun sitzen alle um den runden Tisch, Vater ist rechtzeitig, ohne dass ihn jemand holen musste, aus dem Boeuf zurückgekehrt. Sie falten die Hände und beten, danken für das abendliche Brot. Nach dem gewohnten Ritual fährt Joséphine mit ruhiger, fester Stimme fort. Sie bittet Gott um den Segen für die Reise ihres Bruders. Amen. Alcide hat es wieder die Kehle zugeschnürt. Er gibt sich Mühe, vom Sauerrahmkuchen zu essen, den Maman speziell für ihn und zu diesem Anlass des Abschieds gebacken hat. Er taucht ab. Papa muss ihn anstupsen.

«Jean Baptiste hat geschrieben, er wünscht dir eine gute Reise.»

Alcide hat sich schon länger nicht mehr bei seinem älteren Bruder gemeldet. Muss er ein schlechtes Gewissen haben? Maman fügt noch etwas hinzu.

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«Erwird im Sommer nach Basel verlegt, an die Burgfelder Grenze. Dann kann er auch einmal nach Célina schauen. Hast du ihre Adresse?»

«Ja, ja, ich werde ihr schreiben.»

Julia plaudert, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhört, Joséphine und Mathilde essen schweigend.

Er schläft unruhig, wacht immer wieder auf, zählt die Glockenschläge, die ihm nah und laut erscheinen. Wie hatte er schlafen können in all den Jahren bisher?Wenn er aufschreckt, meint er, im Traum noch oder im Halbschlaf, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Er kontrolliert den Wecker, dreht sich hin und her, sinkt schließlich doch in den Tiefschlaf.

Er wird gerüttelt, Vaters Hand legt sich auch auf den Wecker und würgt das Gerassel ab.

«Komm, aufstehen. Es ist schon halb vier.»

Auch Maman steht da, musste ihrem Sohn einen Kaffee kochen. Er verbrennt sich den Gaumen, denn der Wagen des quincailler,der sie nach Pruntrut fahren wird, steht schon auf der Dorfstraße, auf der anderen Seite des Bachs. Zwei Pferde sind eingespannt, und Henri ist auch schon da. Jetzt stellt sich ihm die Mutter in den Weg, bedeutet ihm mit knapper Geste, den Kopf zu senken. Sie taucht den Daumen ins Weihwasserbecken neben dem Türpfosten und malt ihm, senkrecht und waagrecht, das Kreuzzeichen auf die Stirn. Um ihren Mund zuckt es, fast wäre er ihr übers Haar gestrichen.

«Gesegnete Reise», murmelt sie. Dann, überraschend: «Sei schlau!» Zögernd hebt Alcide die Hand und berührt sie an der Schulter, und als sie nicht zurückweicht, drückt er sie ein wenig, streicht ihrem Arm entlang hinunter und dreht sich ab.

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Er bringt seine Kiste zum Wagen, Vater trägt Tasche und Koffer, im Marschtritt, den er auf einmal mit nachgeahmtem Bumbabumba der Tuba begleitet. Er bricht in Lachen aus.

«Wenn es heute keine Musik gibt, mach ich sie halt.»

Nun lachen sie beide. Als Joséphine vor vier Jahren mit fünf anderen jungen Frauen nach Amerika aufbrach, hat die Dorfmusik gespielt. Vater und Sohn brauchen einen Moment, bevor sie, zwei gleich große, drahtige Gestalten, sich umarmen.

Als Alcide aufsteigt, bemerkt er, dass doch einige Cornoler zusammengekommen sind, um sich zu verabschieden und wieder zwei davonfahren zu sehen.

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Inhalt Prolog 7 Teil I Aufbruch 17 Reisen Sie mitZwilchenbart ! 27 Sterling, Ohio 43 For MenMay Come 51 Wirst du auf mich warten ? 63 Dazwischen 77 Zur Probe 87 Bei denMcCurdys 101 Das Hütchen 117 Irritationen und Umbrüche 123 Entreacte 1 141
Teil
Im neuen Haus 147 Die Belagerung 161 Und die Zukunft ? 175 Geburtstage und andere Feiern 185 Zu spät 201 Bewegte Bilder 207 Weiß, schwarz, Übergänge 219 Druckwellen 233 Spiel und Ernst 245 Der Konvoi( Heimkehr ) 257 Ivôs sailue Mairie 271 Coughs and Sneezes 283 Entreacte 2 297 Teil III Bei den Baileys 303
II
1920 – einneuesJahrzehnt 315 Jenseits des Horizonts 327 Die Chiquet Sisters 341 Im Jazz Age 353 Scharfe Gegensätze 367 BecomingMrs. Jean Dirand 381 Tote und Phantome (Epilog) 395 In Erinnerung an die Cornoler Chiquets 413 Dank 417

«Im Laufe der Zeit werden die ursprünglich detailreichen Erzählungen einer Familie abgeschliffen wie die Steine in einem Fluss. Auch bei uns Chiquets, von denen ich hier erzähle. Von den komplexen, zerklüfteten, vieldeutigen Geschichten bleiben grob zusammenfassende, schablonenhafte Sätze übrig, die halbe Leben zu umfassen behaupten.»

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