Markus Sutter: ‹Anita Fetz›

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Armeevertreter: «Ein Ja zu dieser Initiative würde die Schweiz gegen militärische Angriffe total wehrlos machen. Sie werden doch nicht zustimmen?» Anita Fetz: «Ich weiss es noch nicht genau.» Armeevertreter: «Nur damit Sie es wissen: Wenn Sie Ja stimmen, werden Sie in der Schweiz keine Aufträge mehr für Ihre Firma erhalten. Dafür werden wir sorgen.» Anita Fetz: «Jetzt haben Sie mich gerade überzeugt, dass ich Ja stimmen werde. Denn erpressen lasse ich mich nicht.»

Markus Sutter

Frech, engagiert und stets authentisch hat Anita Fetz 35 Jahre lang Politik betrieben. Ende 2019 verliess die über die Parteigrenzen hinweg beliebte und respektierte SP-Ständerätin die politische Bühne. Zeit für eine Bilanz: In zahlreichen Gesprächen mit ihr wirft der langjährige Journalist Markus Sutter in dieser Biografie über sie einen Blick zurück, aber auch nach vorn.

Anita Fetz – Politik mit Lust und Mut

Markus Sutter

I S B N 978-3-7296-5054-1

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783729 650541

ANITA FETZ

Politik mit Lust und Mut BIOGRAFIE



Markus Sutter Anita Fetz


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© 2020 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat : Gregor Szyndler Coverbild : Denise Buser Layout/Satz : 3w+p, Rimpar Druck : CPI books GmbH, Leck ISBN : 978-3-7296-5054-1 www.zytglogge.ch


Markus Sutter

Anita Fetz Politik mit Lust und Mut


Inhalt

Vorwort von Claude Janiak Zwölf gemeinsame Jahre im Ständerat . . .. . . . .. . .. . . . . . ..

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Vorwort von Markus Sutter Keiner Frage ausgewichen, keine Antwort gescheut . . .

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Die Jugendphase Unbeschwerte Zeit mit pubertären Ausreissern . . .. . . ..

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Interesse für Politik geweckt Schlüsselerlebnis Kaiseraugst . . .. . . . . .. . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . .

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Tätigkeit bei der OFRA Der unendlich lange K(r)ampf um Gleichstellung . . . .

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Erstes Parlaments-Mandat bei der POCH Einstieg in die (Macht‐)Politik . . . . .. . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . . .

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Gespräch mit Fritz Jenny Der Mann an ihrer Seite . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . .

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Fokussierung auf die eigene Firma femmedia Selbstständigkeit als neue Perspektive . . . . .. . . .. . . . . .. . . . .

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Von der POCH zur SP Neue Partei und politisches Comeback . . .. . . .. . . . . .. . . . . 107 Von der Grossen in die Kleine Kammer Erste Ständerats-Legislatur . . . . . . . .. . . . .. . .. . . . . . .. . . .. . . . .. 139


Fall Pro Facile Der Tiefpunkt ihrer politischen Karriere . . . . .. . . .. . . . .. . 169 Die drei Legislaturperioden 2007 bis 2019 In etwas ruhigeren Gewässern . . . . .. . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . . .. 193 Arbeiterpartei – Quo vadis? Noch ein Blick in die Zukunft . . . . .. . . .. . . . .. . . .. . . . .. . . .. 219 Vier Weggefährtinnen und Weggefährten über Anita Fetz Beiträge von Helmut Hubacher, Judith Stamm, Beat Jans und Doris Moser Tschumi . . . . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . . .. . 235 Personenregister . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . 244


Anita Fetz und Claude Janiak haben die beiden Basel während drei Legislaturperioden (2007 bis 2019) im Ständerat gemeinsam vertreten. (Foto: z.V.g.)


Vorwort von Claude Janiak Zwölf gemeinsame Jahre im Ständerat

Ich war seit neun Jahren Mitglied der SP und als Gemeinderat von Bubendorf längst in der Realpolitik angekommen, als ich erstmals von Anita Fetz hörte. Auf dem Basler Marktplatz war sie an der Demonstration zum 1. Mai 1980 mit gestandenen SP-Grössen und Gewerkschaftern in die Haare geraten, als sie für Frauenanliegen demonstrierte und das Mikrofon verlangte. Das löste bei mir zum einen Bewunderung aus, irritierte mich aber auch. Darf man so frech sein? Kennengelernt habe ich Anita wenige Jahre später über ihren Mann Fritz, der unser erster Praktikant in der Anwaltskanzlei war. Zwölf gemeinsame Jahre im Ständerat von 2007 bis 2019 verbinden. Politisiert haben wir auf unterschiedlichen Feldern. Anitas Themen waren Bildung und Forschung, Wirtschaft und Finanzen, während ich Rechts-, Sicherheits-, Verkehrs- und Medienpolitik beackerte. Ich stimme Anita zu, wenn sie uns, unbescheiden, aber zutreffend, als Dreamteam für die beiden Basel bezeichnete. Hilfreich war der Umstand, dass wir beide im jeweils anderen als dem von uns im Ständerat vertretenen Basel die Jugend verbracht und deshalb keine Berührungsängste zum anderen Kanton hatten. Das Baselbiet tickt bekanntlich bei der Frage des Verhältnisses beider Basel zueinander anders als die Stadt. Obwohl die Kantone seit bald 190 Jahren getrennt sind, sind sie stark miteinander verbunden und auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Bei dieser Konstellation ist es von Vorteil, wenn die beiden Standesvertreter politisch gleich ticken, damit die Gräben nicht noch grösser werden. Ein Blick allein auf Baselland und Basel-Stadt genügt ohnehin nicht. Ihre Interessen decken sich in der Regel mit jenen der ganzen Region Nordwestschweiz.

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Bei Anliegen der Region haben wir die Fäden zusammen gesponnen. Ein Beispiel ist die Anerkennung der Schifffahrt als gleichwertiger Verkehrsträger. Anita hatte den Schifffahrtsbericht verlangt, und ich konnte gestützt darauf Forderungen aufstellen, die bei der Beratung des Gütertransportgesetzes durchgesetzt werden konnten. Heute sind die Bedeutung der Schifffahrt und das Projekt Basel Nord als zentraler Beitrag zur Verkehrsverlagerung in Bern unbestritten. Weitere Beispiele sind Forderungen der von beiden Kantonen getragenen Fachhochschule und der Universität und generell Infrastrukturprojekte. In verrückten Zeiten wie Corona dürften sich die beiden Basel erst recht bewusst werden, dass es nur miteinander und nicht gegeneinander geht. Das Jammern über das angeblich ungenügende Lobbying für die Region ging uns beiden auf den Wecker. Wenn sich nach viel Überzeugungsarbeit endlich eine gemeinsame Linie aller politischen Player finden liess, waren wir sehr wohl erfolgreich, sei es bei der Förderung von Bildung und Forschung, sei es bei Infrastrukturprojekten in der Region. Die Miesmacher fanden sich in der Regel bei uns und nicht in Bern – das trimodale Containerterminal Basel Nord lässt grüssen. Frech, ja das kann Anita sein. Auch mir stockte bei ihren Voten bisweilen der Atem. Regelmässig war dies bei den immer gleichen Kollegen der Fall, allein wenn sie das Wort ergriff und etwa gegen die grösste Lobby in Bern, die Bauern, loszog. Da erstarrten nicht selten auch Linke, die dem Druck der Agrarlobby ihrer Kantone nicht widerstehen mochten. Kalt liess sie Kolleginnen und Kollegen nie, entweder sie mochten sie oder bekundeten Mühe mit ihr. Das Gegenteil von «everybody’s darling». Engagiert, ja, das war Anita all die Jahre. Bei Themen ausserhalb ihrer Kerngeschäfte übertrieb sie es aus meiner Sicht

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bisweilen, etwa bei Debatten über die Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, den Nachrichtendienst oder die elektronische Identität. Während ich mich für Rechtsstaatlichkeit und Kontrolle einsetzte und überzeugt war, die notwendigen rechtsstaatlichen Garantien erreicht zu haben, witterte sie fremde, unkontrollierbare Mächte. Einmal gerieten wir uns richtig in die Haare, als sie ausgerechnet im Vorfeld der Billag-Abstimmung über die SRG herzog. Ich teilte ihre Meinung, dass die Programme zu oft das idyllische Bild der ländlichen Schweiz zeigen, während die städtische Schweiz zu kurz kommt. Aber konnte der Zeitpunkt für Fundamentalkritik nicht besser gewählt sein? Authentisch, ja, das ist sie. Und lebensfroh auch, was ihr bei politischen Gegnern, die den schönen Seiten des Lebens wie sie nicht abgeneigt waren, Achtung und oft auch Zustimmung eingebracht und die Debatten entkrampft hat. Die Wortgefechte mit dem verstorbenen Ständerat This Jenny gehörten im Rat zu den guten Momenten. Anita schwimmt nicht unbesehen im Strom mit. Starres Beharren auf politischen Positionen ungeachtet gesellschaftlicher Entwicklungen sind ihr ein Graus. Das hat bei Frauenanliegen bisweilen hartgesottene Feministinnen auf die Palme gebracht. Dass sie Selbstständigerwerbende ist, hat sie wie mich hin und wieder in Konflikt mit der Parteilinie gebracht. An ihrem pointiert linken Profil hat das nichts geändert. Anita ist mit zunehmenden Jahren zwar gelassener geworden, aber nicht minder bissig, zur Freude der Medien und zum Ärger ihrer Kritiker. Auf dem falschen Fuss erwischen liess sich Anita, wenn ein Geschäft frühmorgens zur Beratung anstand. Als notorischer Morgenmuffel konnte sie auch mal eine Abstimmung verpassen, übrigens auch wegen einer Rauchpause. Eine wichtige Abstimmung ging ihretwegen in meiner Erinnerung nie ver-

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loren, geärgert habe ich, eher der «Pünktlischisser», mich dennoch gelegentlich. Dass wir so unterschiedliche Persönlichkeiten sind, war unserer Freundschaft nicht abträglich, im Gegenteil. Es war insgesamt eine gute gemeinsame Zeit. Eine Biografie ist gemeinhin die Darstellung des Lebens eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Es besteht aber durchaus ein Interesse an Biografien von lebenden Menschen, die das aktuelle Zeitgeschehen mit beeinflusst haben. Anita Fetz war die erste Ständerätin des Kantons Basel-Stadt und während 35 Jahren eine einflussreiche politische Stimme des Stadtkantons. Das vorliegende Buch ist deshalb auch ein Stück Stadtgeschichte.

Claude Janiak (Jahrgang 1948) war zwischen 2007 und 2019 Mitglied des Ständerates. Vorher gehörte er dem Nationalrat (1999 bis 2007) an, den er 2006 präsidierte. Der ehemalige Anwalt befindet sich heute im Ruhestand und wohnt in Binningen (BL).

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Vorwort von Markus Sutter Keiner Frage ausgewichen, keine Antwort gescheut

«Hast du echt das Gefühl, irgendjemand warte auf ein solches Buch?» Das war das erste schonungslose und nicht gerade motivierende Statement eines guten Freundes, als ich ihn in meinen Plan einweihte, eine Biografie über Anita Fetz zu verfassen. Auch die Begeisterung der Protagonistin selbst hielt sich anfänglich noch eher in Grenzen. Ein gewisses Interesse und eine gewisse Neugier waren durchaus vorhanden. Aber sollte und wollte sie sich wirklich auf dieses «Abenteuer» einlassen – ein Buch, bei dem man doch einiges von sich preisgibt? Sie freundete sich glücklicherweise immer stärker mit der Idee an und sagte schliesslich zu. Ja, warum eine Biografie gerade über diese Politikerin? Die Antwort fällt nicht schwer. Anita Fetz hat das politische Leben in der Schweiz – mit Schwerpunkt Basel – über drei Jahrzehnte lang stark mitgeprägt. Sie hielt die Stellung als erste Ständerätin des Kantons Basel-Stadt so lange, dass ihre politische Konkurrenz langsam verzweifelte. Alle wussten oder ahnten zumindest: Wenn sie antritt, startet sie erfolgreich durch. Doch woran lag das? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich jemand so lange politisch über Wasser halten kann? Über Anita Fetz eine Biografie zu verfassen ist auch deshalb reizvoll, weil sie in einer interessanten Zeit politisch aktiv geworden ist; einer Zeit, die im Vergleich zu heute besonders für Frauen sowohl ihre Sonnen- als auch ihre Schattenseiten hatte. Die Freiheit, im Privaten tun und lassen zu können, was sie wollten, war ein Markenzeichen dieser Generation Frauen. Doch mit der Freiheit im beruflichen Bereich harzte es noch lange.

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Diese Freiheit musste damals Stück für Stück mühsam und oft gegen grossen gesellschaftlichen Widerstand erkämpft werden. Weitaus mühsamer als heute. Die Gleichstellungsthematik zieht sich wie ein roter Faden durch Anita Fetz’ politisches Leben. Schon seit den Achtzigerjahren engagierte sie sich in der Frauenpolitik, als es noch keine Gleichstellung in der Ehe gab, keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub, kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch u.s.w. Viele ihrer Vorstösse trafen vorerst allerdings auf taube Ohren. Gefragt waren Geduld, Ausdauer, Beharrungsvermögen – und ebenso Frusttoleranz, nicht nur in der Gleichstellungsthematik. Als Linke und als Frau in einer doppelten Minderheitsposition, gehörten Niederlagen für sie quasi zum Geschäft. Dennoch verzeichnete sie einige bemerkenswerte Erfolge. Ihre Fähigkeit, Allianzen zu schmieden, zahlte sich immer wieder aus. Über mangelnde mediale Aufmerksamkeit konnte sich Anita Fetz nie beklagen. Um kein Wort verlegen, offen und authentisch, bei Bedarf provokativ, gleichzeitig attraktiv: Das kommt an. Als einzige Ständerätin des Kantons hatte sie es zudem leicht, sich Gehör zu verschaffen. Doch der relativ lockere Kontakt zur Presse aus früheren Zeiten ist heute Vergangenheit. Dass sie zu Journalisten inzwischen ein eher gespanntes Verhältnis hat, bekam der Schreibende, der selber jahrelang in diesem Metier tätig war, schon beim ersten Gespräch mit ihr über dieses Buchprojekt zu spüren. Ich fragte sie beiläufig, ob sie sich noch daran erinnern könne, wann sie mir eigentlich das Du angeboten habe. «Nein», sagte sie, «aber ich würde es bestimmt nicht wieder tun.» Das sass im ersten Moment, bis sie mich über den wahren Grund aufklärte. Seit der Affäre Pro Facile vor gut 15 Jahren hat sie ihre liebe Mühe mit der schreibenden Zunft. Gebüh-

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rend Abstand zu Medienleuten zu halten ist für sie nicht erst seit Corona angesagt. Ungeachtet dessen hat Anita Fetz Politik stets lustvoll und gleichzeitig seriös betrieben. Genauso ist auch dieses Buch entstanden. Wir haben viel diskutiert, viel gelacht und trotzdem ernsthaft gearbeitet. Anita Fetz ist keiner Frage ausgewichen, hat keine Antwort gescheut. Dafür und für ihre Bereitschaft, sich auf dieses Buchprojekt einzulassen und unzählige Stunden zu investieren, gebührt ihr grosser Dank. Herzlich bedanken möchte ich mich aber auch bei meiner Frau Denise Buser, die als Erstleserin vor der Publikation noch manche Verbesserungs- und Korrekturvorschläge eingebracht hat. Ein Dank geht schliesslich ebenso an Zytglogge-Verlagsleiter Thomas Gierl, der dieses Projekt von allem Anfang an mit grossem Interesse mittrug, sowie an Gregor Szyndler für das sehr sorgfältige Lektorieren.

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Teenagerin Anita im Alter von 12 Jahren. Das Fahrrad hat sie aus selbst gespartem Geld gekauft. (Foto: privat)


Die Jugendphase Unbeschwerte Zeit mit pubertären Ausreissern

Der 7. Februar 1971 wird Anita Fetz zeitlebens in Erinnerung bleiben. Erst an diesem Tag – als die Männer wegen des Frauenstimmrechts an die Urne gingen – bekam die damals 14-jährige Teenagerin am Familientisch mit, dass die Frauen bei eidgenössischen Vorlagen in der Vergangenheit nie ein Wort mitreden durften, auch an diesem Sonntag nicht. Der Vater machte sich wie üblich allein auf den Weg ins Abstimmungslokal. Anita, die sich bis dahin noch nie einen Deut für Politik interessiert hatte, konnte die Welt nicht mehr begreifen, war fassungslos, wie sie sich erinnert. Ihre Mutter und ihre beiden Grossmütter stellten doch als Berufsleute in selbstständiger Tätigkeit schon das ganze Leben ihren «Mann» und trugen eine grosse Verantwortung, ging es ihr durch den Kopf. Nicht einmal in ihren kühnsten Alpträumen konnte sie sich vorstellen, dass politische Mitbestimmung respektive Nicht-Mitbestimmung mit dem Geschlecht verknüpft sein könnte. Dass ihre Vorfahren schon seit Generationen für dieses Recht kämpften, wusste das Mädchen nicht. Noch neun Jahre vor Anitas Geburt, als im ganzen Land Feiern zum 100-jährigen Bestehen der Schweizer Bundesverfassung durchgeführt und die Schweiz als «ein Volk von Brüdern» gefeiert wurde, hatten Frauenverbände dieses Motto zu einem «Volk von Brüdern ohne Schwestern» umgewandelt. Die Schweiz war eines der letzten Länder in Europa ohne Frauenstimmrecht. Eine Ungerechtigkeit sondergleichen. Und selbst als amtlich feststand, dass an diesem Abstimmungstag zwei von drei Männern das Frauenstimmrecht befürwortet hatten, verflog ihr Ärger nicht so schnell. Auch ihr Vater konnte sie mit dem

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Hinweis, dass doch jetzt alles gut herausgekommen sei und sie endlich zufrieden sein solle, nicht wirklich beruhigen. Und als die Männer von Appenzell Innerrhoden als letzte Nachzügler dem Frauenstimmrecht rund 20 Jahre später endlich zustimmten, nachdem sie zuvor vom Bundesgericht korrigiert worden waren1, hatte Anita Fetz als damaliges Mitglied der Progressiven Organisationen der Schweiz bereits ihre erste Legislatur als Nationalrätin in Bern und als Grossrätin in Basel hinter sich. Aber zurück zu den Anfängen noch vor ihrer Geburt: Ihr Vater Anton Fetz wurde 1927 in Domat/Ems im Kanton Graubünden geboren. Er absolvierte in Chur eine Lehre als Radiound TV-Elektriker, eine Tätigkeit mit grossem wirtschaftlichem Potenzial, wie sich noch herausstellen sollte. Der weitere berufliche Weg führte ihn zuerst nach Zürich zur Firma Philipps, wo er die acht Jahre jüngere Gerda Dietrich, seine spätere Frau und die Mutter von Anita, kennenlernte. Sie hatte Hochbauzeichnerin gelernt. Die Eheschliessung stand damals wegen der unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten nicht unter dem besten Stern: Anton Fetz war Katholik, seine künftige Frau Gerda Protestantin. Dieser Umstand habe in der Familie «zu einigen Bemerkungen geführt», drückt sich Anita Fetz aufgrund von Erzählungen ihrer Eltern diplomatisch aus. 1955 beorderte der gleiche Arbeitgeber seinen Angestellten nach Basel. Kurz darauf machte sich Anton Fetz selbstständig und eröffnete im Basler Neubadquartier, an der Oberalpstrasse, ein eigenes Radio- und TV-Geschäft. Geschäftsräume inklusive Werkstatt, Verkaufsraum und das Wohnhaus – alles

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Bundesgerichts-Urteil vom 27. November 1990 (BGE 116 Ia 359)


unter einem Dach. Der Vater war für den technischen Bereich verantwortlich, während die Mutter das Administrative und den Verkauf übernahm. Die ökonomischen Bedingungen waren bald komfortabel, die Geschäftsidee wurde zur Goldgrube. An Nachfrage nach Radio- und Fernsehgeräten herrschte kein Mangel. Am 19. März 1957 kam Anita in der Basler Josefsklinik als Älteste von drei Schwestern zur Welt. Ein Jahr später folgte Andrea. Irène war drei Jahre jünger. Das erste Ereignis, woran sich Anita erinnern kann, hiess Schweizer Mustermesse. Ihre Eltern verkauften an der Muba an einem Stand Radio- und später Fernsehgeräte. Sie kannte alle Leute rund um die Stände herum und hielt sich dort schon als Dreijährige voller Begeisterung auf. Schliesslich war hier immer viel los. Neben der Weihnachtszeit sorgte die Muba für den Hauptumsatz. «Ich habe eigentlich immer im Geschäft gelebt, in der Werkstatt beim Vater und einem sehr netten Angestellten sowie einem Lehrling», erinnert sich Anita. Dieser wohnte bei der Familie. Der andere Aufenthaltsort befand sich draussen, in der freien Natur. Im Garten am Wohnort an der Oberalpstrasse wurden etwa die Tiere bestattet, welche im Leben von Anita stets eine grosse Rolle spielten. Wenn ein Meerschweinchen, ein Frosch, ein Hamster oder ein Kanarienvogel starb, war es jedes Mal eine kleine Tragödie. Am liebsten in einer Gruppe unterwegs In den umliegenden Strassen lebten damals viele Kinder in ähnlichem Alter, die heute zur Babyboomer-Generation gezählt werden. Zum Teil besuchten sie den gleichen Kindergarten und später die Primarschule im Neubadschulhaus. «Wir waren ständig, als kleinere oder grössere Gruppe, unterwegs», erzählt Anita. So etwas wie eine einzelne feste Busen-

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freundin habe sie nie gehabt. Das war nie ihr Ding, wie sie einräumt. Viel lieber bewegte sie sich in der Gruppe und pflegte zahlreiche, aber nicht so enge Freundschaften mit mehreren Mädchen und bei gemeinsamen Aktivitäten. Das war auch der Grund, weshalb sie sich später bei den Bienchen, den kleinen Pfadis, sehr wohlfühlte, ebenso beim Blauring, obwohl sie mit der Kirche schnell einmal nichts mehr zu tun haben wollte. Ihre negative Einstellung zu dieser Institution hing nicht zuletzt mit einem speziellen Schlüsselerlebnis zusammen. Die Römisch-katholische Kirche, der sie aufgrund der Religionszugehörigkeit ihres Vaters automatisch angehörte, weigerte sich damals noch weitgehend, Mädchen als Ministrantinnen anzunehmen. An den grossen Wutanfall, der sie packte, als sie das erfuhr, kann sie sich noch heute gut erinnern. Erst die Mutter konnte ihre Tochter mit den Worten, dass es doch viel interessantere Tätigkeiten als eine Ministrantinnen-Funktion gäbe, wieder einigermassen beruhigen. Diese Abwehrhaltung der Kirche war eine neue Erkenntnis in ihrem noch ganz jungen Leben. «Ich hatte noch nie etwas nicht tun dürfen, bloss weil ich ein Mädchen war.» Unumwunden gibt sie zu, kein religiöser Mensch zu sein und auch nicht an einen Gott zu glauben. Die Kirche hat sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt, als sie mit 16 Jahren religionsmündig wurde, verlassen. Religion spielte auch in ihrem Elternhaus nie eine Rolle. Nach der Enttäuschung über den fehlgeschlagenen Versuch, Ministrantin zu werden, besorgte sie sich einige Bücher über die Religionen dieser Welt und kam schon als junges Mädchen zum Fazit: «Weltreligionen sind frauenfeindlich, intolerant und oft gewalttätig.» Dass ihr die Verweigerungshaltung der Kirche aber nicht wegen der fehlenden Gleichstellung, sondern eigentlich aus einem ganz anderen Grund zu schaffen machte, will sie nicht

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verschweigen. Zur Kirche zog es sie vor allem, weil dort – und zum damaligen Zeitpunkt vor allem dort – wirklich etwas los war. In den Sechzigerjahren gab es kaum andere Angebote für Jugendliche und Kinder. Immerhin konnte sie ihren bevorzugten und bis heute anhaltenden Hang, sich gerne in der Gruppe zu bewegen, später ab 1970 im Jugendzirkus Basilisk in vollen Zügen ausleben. Ihr Spezialgebiet war die Akrobatik. Mit zwei anderen Mädchen zusammen entwickelte sie eine Leiternummer, die das Team im Laufe der Jahre perfektionierte und auch an privaten Anlässen vorführte. Ergänzend dazu lernte sie zu zaubern und auf der Leiter zu jonglieren. Mit dem Jugendzirkus fand sie eine neue Welt, in die sie als Pubertierende jeweils «abtauchen» konnte, wenn es andernorts nicht rund lief. Nach wenigen Jahren war mit dem Zirkus allerdings bereits Schluss: «Wir hatten so viele Auftritte, dass wir wieder aus dem Jugendzirkus austreten mussten. Es war nicht vorgesehen, Auftritte ausserhalb des Zirkus zu absolvieren.» Lange Jahre bis weit ins Erwachsenenalter hinein lebte sie ihren Bewegungsdrang dann noch im Jazztanz aus. Materielle Sorgen plagten sie dem Vernehmen nach nie, wohl aber ihre Eltern in den Anfangsjahren ihrer Selbstständigkeit. Sie und ihre beiden Schwestern bekamen davon aber nichts mit. Die Grossmutter väterlicherseits war Schneiderin und nähte in der Regel die Kleider für die Kinder selbst. Bei dieser Grossmutter, Witwe mit zwei Kindern, von Anita liebevoll Tata genannt (das rätoromanische Wort für Grossmutter) sowie bei der Schwester ihres Vaters verbrachte die Familie viel Zeit in Domat/Ems. Auf die beiden längst verstorbenen Frauen hält sie grosse Stücke, bezeichnet sie als clevere Selfmade-Frauen, die ihr Leben aus eigener Kraft bewältigen mussten. In den persönlichen Schilderungen von Anita spürt man die Hochachtung für deren Leistungen und

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auch den Antrieb, es ihnen eines Tages gleichzutun. Finanzielle Unabhängigkeit bedeutete ihr immer viel. Weniger als mit der Grossmutter väterlicherseits verband sie mit der anderen Grossmutter, die in Zürich beheimatet war und ihr als streng protestantisch und rechthaberisch in Erinnerung blieb. Diese sei finanziell nicht auf Rosen gebettet gewesen, habe während des Zweiten Weltkriegs oft zu wenig zu essen gehabt, im Gegensatz zu den Bauern, die sich darüber nie Sorgen machen mussten. Diese Grossmutter sei deshalb auf die Landwirte zeitlebens nie gut zu sprechen gewesen, habe sie gar als «Kriegsgewinnler» bezeichnet. «Meine Mutter hat sich als Kind jeweils 100 Gramm Butter auf den Geburtstag gewünscht – nur für sich.» In wirtschaftlicher Hinsicht waren die späten Sechzigerjahre generell eine gute Zeit für die meisten Menschen. Doch das Radio- und Fernsehgeschäft boomte speziell. Trotz einem knappen halben Dutzend Konkurrenten auf dem Basler Markt gab es für alle Anbieter genug zu tun. Dass auch das eigene Familienunternehmen bei der Familie Fetz florierte, hat Anita schon als Kind geahnt: Die ganze Familie kam schnell einmal in den Genuss von kompletten Skiausrüstungen. Winterferien und Skischule hatten in der Folge jährlich Tradition. Zudem konnte sich die Mutter dank einer angestellten Haushalthilfe teilweise entlasten. Im Sommer leistete sich die Familie neben Camping-Ferien im Tessin auch ein- bis zweiwöchige Europa-Ausflüge nach Italien, Holland, Frankreich oder in die Benelux-Staaten, immer mit dem Zelt. Die Idee für den erweiterten ReiseRadius stammte von der Mutter, welche einen «richtigen Bildungshunger hatte, der sich auf mich übertrug». Vor den Ferien besuchten sie stets gemeinsam die Bibliothek im Quartier und deckten sich mit Lesestoff ein. Ihre Mutter und sie seien die Leseratten der Familie gewesen.

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Ein tragbarer Fernseher zählte ebenso zur Grundausstattung bei den Zeltferien. 1969 war das noch ein Unikum. Am 21. Juli jenes Jahres gruppierten sich alle um ein portables Gerät im Tessin. Man schaute sich die erste Mondlandung an. «Ein fulminantes Erlebnis.» Auch im Basler Neubadquartier versammelten sich immer wieder Kinder zum gemeinsamen Fernseherlebnis bei der Familie Fetz. Ein TV-Gerät war zur damaligen Zeit schliesslich noch ein grosser Luxus, den sich erst wenige leisten konnten. Anitas Lieblings-TV-Sendung hiess «Basteln mit Gerda Conzetti». Das Basteln hat sie immer gereizt. Da der elterliche Betrieb auch eine Werkstatt umfasste, verfügte sie über die notwendige Ausstattung. Die junge Praktikerin baute unter anderem Möbel für ein Puppenhaus zusammen, erstellte Produkte aus Karton für das «Kinderverkaufslädeli» sowie Indianerkleider. Winnetou scheint es ihr besonders angetan zu haben. Im Neubadquartier wurden ganze Winnetou-Szenen mit Pfeil- und Bogenschiessen nachgespielt. Ihr grösstes Werk und Stolz aber war eine batteriebetriebene Seilbahn im Miniformat. Im Vergleich zu heute kosteten die TV-Geräte ein kleines Vermögen und wurden von den Käufern meist in Raten abbezahlt. Anita erinnert sich an ein von mütterlicher Hand betriebenes Karteikarten-System. Alle Einzelzahlungen waren aufgelistet und mussten manuell immer wieder aktualisiert werden. Mit dem Farbfernsehen kam ein neues, allerdings sehr kostspieliges Produkt auf den Markt, das gut 4000 Franken kostete. Als einziger Käufer eines solchen Apparats kam in den Augen der Familie der Pfarrer infrage, weil er «gut verdiente und kinderlos war». Um ihn auf die Spur zu bringen, begleitete ihn die ganze Familie auf einer Pilgerreise nach Mariastein. So funktionierte Marketing in den Sechzigerjahren.

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Die Reise war nicht umsonst, der Pfarrer liess sich auf die Neuanschaffung ein. Das erste Bild auf dem Bildschirm habe allerdings nur aus einer farbigen Blume bestanden, erinnert sie sich. Und es war die erste und letzte Wallfahrt von Anita Fetz. Belohnt wurden sie und ihre beiden Geschwister mit einem veritablen Coupe Danmark. Gegen Unfairness schon früh gewehrt In der Schule lief in den ersten Jahren noch alles rund, sowohl im Kindergarten, in der Primarschule als auch am Gymnasium Holbein, dem heutigen Leonhardschulhaus. Positiv in Erinnerung bleiben ihr aus dieser Zeit zahlreiche junge Lehrerinnen, «die nicht mehr so autoritär auftraten wie die Generation vor ihnen». Die fortschrittlichen Pädagoginnen sorgten dafür, dass sie die Schule gerne besuchte. Sich selbst bezeichnet sie rückblickend als vielfältig interessierte und ziemlich aufgeweckte Schülerin. In ihren schulischen Leistungen fiel sie weder auf noch ab. Sie war nicht auf den Mund gefallen, aber auch nicht sonderlich offensiv. Der Vater brachte den Töchtern bei, sich vor allem gegen Unfairness zu wehren. «Das konnte ich.» Im fortgeschrittenen Teenager-Alter tat sie sich in der Schule und mit dem Leben dann allerdings schwerer, wollte manchmal mit dem Kopf durch die Wand und nervte ihre Umgebung, insbesondere den Vater. Wortgefechte und verbaler Streit waren zu Hause an der Tagesordnung. «Ich muss ein ziemliches Ekel gewesen sein», räumt sie selbstkritisch ein. So etwa ab fünfzehn Jahren sei sie ihrem Vater rhetorisch überlegen gewesen. «Ich konnte gnadenlos hartnäckig, ja stur sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe.» Diese Charaktereigenschaft blieb ihr später auch während ihrer politischen Laufbahn erhalten.

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Die oft harten Debatten mit dem Vater sieht sie aber keineswegs negativ, im Gegenteil: «Es war eine gute Schulung für das weitere Leben.» Sie wusste auch, dass sie sich immer auf ihn verlassen konnte. Ohne zu Murren oder ihr Vorwürfe zu machen, holte er sie auch einmal spätabends mit dem Auto vom Ausgang ab, wenn kein Trämli mehr fuhr. Mit ihrem Vater hatte Anita zwar zahlreiche Auseinandersetzungen, besonders in dieser Jugendphase, erlebte aber dennoch eine gute Zeit in einem sicheren Umfeld. Den Erziehungsstil ihrer Eltern umschreibt sie mit «tolerant mit ein paar Regeln». Summa summarum hat sie ihr Elternhaus zudem als diskussionsfreudig und politisch, aber nicht parteipolitisch interessiert in Erinnerung. Vereinbarte Zeiten gelte es einzuhalten, wurde ihr unter anderem immer wieder klargemacht. Was «tolerant mit ein paar Regeln» konkret heisst, verdeutlicht das Beispiel Schule. Die Eltern massen einem Abschluss sehr grosse Bedeutung bei. Als sich bei Anita am Progymnasium in Münchenstein einmal der «Koller» zeigte und sie gar die Schule verlassen wollte, malte ihr die Mutter in drastischen Farben aus, dass diese Torschlusspanik keine zielführende Option sei, wohl aber der Abschluss einer Lehre. Doch davon wollte Anita nichts wissen, weil ihr der Aufwand – respektive die Suche nach einer Lehrstelle – zu gross erschien. «Zudem wusste ich gar nicht, welchen Beruf ich überhaupt ergreifen sollte.» Schliesslich fand sie wieder auf den Boden zurück. Dieses Verhaltensmuster des Auf und Ab und wieder Auf stellte sie im Laufe ihres Lebens immer wieder bei sich fest. «Wenn ich das Interesse an einer Sache verlor, hatte ich stets einen Durchhänger und wollte völlig aussteigen. Doch irgendwann meldete sich dann der Verstand wieder. Dann wägte ich die Vor- und Nachteile ab und versuchte sachlich zu entscheiden, ob ich weitermachen oder etwas Neues beginnen sollte.»

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So konsequent die Eltern in entscheidenden Punkten wie beim Thema Schule mit ihren drei Töchtern umgingen, so tolerant und auch kreativ zeigten sie sich in anderen, harmloseren Fällen. Anita erinnert sich beispielsweise daran, dass ihre Mutter den Kindern erlaubte, zweimal jährlich die Schule grundlos zu schwänzen … Selbstverständlich wurde davon auch Gebrauch gemacht. Auch einzelne «Fresstage» standen den Kindern offen. Sie durften in dieser Zeit so viele Süssigkeiten verschlingen, wie sie wollten. Irgendwann hörte man von allein auf. «Meine Eltern hatten einen ganz eigenen Erziehungsstil.» Schon von früher Jugend an wurde ihr beigebracht, dass Sparen eine Schweizer Tugend ist. «Wenn du zehn Franken einnimmst, musst du einen zur Seite legen», lautete das Credo ihrer Eltern. Anständig sein und mit anderen teilen stand ebenfalls im elterlichen Knigge für die Kinder. Ihr erstes Geld verdiente sie damals mit kleineren Arbeiten im elterlichen Geschäft. Anita hat beide Elternteile als sehr hart arbeitende Menschen in Erinnerung. Das Arbeitsvolumen war gross, alle mussten mithelfen. Auch die drei Töchter wurden in die Hausarbeit miteinbezogen. Für die perfekte Organisation sorgte ein Einsatzplan mit Pflichten und Rechten. Als Belohnung winkte ein Taschengeld. Dass in der Schule praktisch von einem Tag auf den anderen nicht mehr alles reibungslos lief, führt Anita vor allem auf den Umzug von Basel nach Münchenstein ins dortige Progymnasium anno 1970 zurück. Ihre Eltern hatten in dieser Baselbieter Gemeinde ein grosses, modernes Geschäfts- und Wohnhaus gebaut, weil das alte im Basler Neubadquartier zu klein geworden war. Im Gegensatz zu den Schulen in Basel-Stadt stuft sie das damalige Progymnasium in der Baselbieter Gemeinde als viel

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konservativer ein. Mädchen beispielsweise durften damals noch keine Hosen tragen. Als sich eine neu eintretende Schülerin nicht an diese Regel hielt, wurde sie vom Lehrer mit der Order, sich umzuziehen, wieder nach Hause geschickt. Der Rest der Klasse wollte sich das allerdings nicht mehr bieten lassen und führte am nächsten Tag einen «Rockstreik» durch. Alle Mädchen seien in Hosen aufmarschiert, erinnert sich Anita. Das Ziel: Dieser alte Zopf sollte endlich abgeschnitten werden. Das Vorhaben war von Erfolg gekrönt, die Schule gab nach. Ungeachtet dieses kleinen Erfolgserlebnisses liessen die schulischen Leistungen von Anita in einigen Fächern zu wünschen übrig. Zudem stand die Harmonisierung der Lehrpläne zwischen den beiden Halbkantonen noch in den Sternen, die Baselbieter waren den Städtern in den Sprachen ein paar Längen voraus. Um den Rückstand aufzuholen, musste Anita Nachhilfestunden in Latein und Französisch nehmen, was ihr völlig gegen den Strich ging. Noch heute hat sie dem Vernehmen nach den unangenehmen Geschmack der Wohnung ihrer Nachhilfelehrerin in der Nase. Das war auch die Zeit, als sie sich immer stärker von den Eltern zu lösen begann. Mit 16 Jahren fuhr sie zum ersten Mal per Interrail mit einer Freundin nach Spanien und nicht mehr mit den Eltern in die Ferien. Die Familie verlor an Bedeutung, während der Freundeskreis immer wichtiger wurde. Das ist bis heute so geblieben. Mit ihren beiden Schwestern hat sie seit der Erwachsenenzeit nur noch losen Kontakt. Alle gehen ihren eigenen Weg. Eine Schwester, Physiotherapeutin mit eigener Praxis, wohnt mit ihrer Familie im Tessin, die andere, ausgebildete Psychiatrieschwester, heute Dozentin für Pflegeausbildung und schon Grossmutter, in Winterthur. Ihre Eltern sind inzwischen gestorben.

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Im pubertären Alter kam auch Anitas rebellischer Charakter deutlicher zum Ausdruck. «In der Schule zählte ich zur Konsumverweigerer-Fraktion.» Ihr Outfit bestand aus Militärhemd, zerrissenen Jeans, Kleidern aus dem Brockenhaus, schwarzen Fingernägeln und Lippenstift. Ihr Vater war davon gar nicht begeistert und empörte sich, als sie sich einmal in dieser Aufmachung an einer Weihnachtsfeier in den Skiferien im Hotel präsentierte. Nur dank der schlichtenden Mutter, die unter den Reibereien zwischen Tochter und Ehemann litt, konnte ein Eklat vermieden werden. Es sei unfair, der ganzen Familie Weihnachten zu vermiesen, bloss weil sie ihren eigenen Kopf durchsetzen wolle, bekam Anita von ihrer Mutter zu hören. «Das hat mir eingeleuchtet, also bin ich mich umziehen gegangen.» Ein weiterer Zwischenfall sorgte bei den Eltern ebenfalls für Unmut. In einer Nacht- und Nebelaktion kleisterte Anita mit anderen zusammen einmal die Wände im Schulhof mit Bildern aus Sexheftli zu. Die Polizei wurde eingeschaltet und erwischte die Täter(innen). Das Rektorat sprach ein dreiwöchiges Schulverbot für die Jugendlichen aus, was Anitas Vater überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Denn diese «Strafe» bedeutete schliesslich drei Wochen zusätzliche Ferien. «Erste Generation mit Pille, aber noch ohne Aids» Apropos Sexualität: Ein freizügiges Verhalten – sogar für heutige Massstäbe – legten die Eltern auch in diesem Bereich an den Tag. Bereits als 15-Jährige nahm Anita die Pille, auf Empfehlung ihrer Mutter. Ihr eigenes Verhältnis zur Sexualität beschreibt Anita als «unverkrampft». Im Grunde genommen seien die Siebziger- und Achtzigerjahre in dieser Hinsicht im Quervergleich die besten gewesen. «Wir waren die erste Generation mit Pille, aber noch ohne Aids.»

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In der Schule besserte sich die Situation erst wieder im Gymnasium Münchenstein, das sich vom Progymnasium der gleichen Gemeinde markant unterschied. «Es war ein junges Gymnasium mit vielen jungen, offenen Lehrern», kommt sie ins Schwärmen. Im Deutschunterricht wurde sie auch erstmals mit politischen Themen konfrontiert. Ein grosses Thema war die Armee. Anita präzisiert: «Die Schweiz hatte nicht nur eine Armee, sie war mit 600’000 Angehörigen eine Armee. Ein weltweit einmaliger Spitzenwert.» Schliesslich wurde die Initiative für die Einführung eines Zivildienstes aus Münchensteiner Kreisen initiiert. Das Volksbegehren für einen zivilen Ersatzdienst («Münchensteiner-Initiative») blieb beim Volk aber chancenlos und wurde 1977 noch deutlich abgelehnt.2 Anita war kein Kind von Traurigkeit, genoss das Leben in diesem jungen Erwachsenenalter in vollen Zügen. In den Häusern ihrer Schulkolleginnen stand immer irgendwo ein Raum zur Verfügung, oder die Eltern waren ausser Haus, damit eine grosse Party gefeiert werden konnte. Oder aber man hat sich im Sommercasino vergnügt. Die Rockbands Deep Purple, The Who, The Rolling Stones, The Beatles, Pink Floyd sowie The Police standen bei ihr hoch im Kurs. Dass bei den Partys Alkohol in Strömen floss, liegt auf der Hand. «Es wurde auch geraucht und gekifft. Ich habe so ziemlich alles ausprobiert, was geboten wurde.» Ein paar Kollegen seien später leider in der Drogenszene abgestürzt. «Ich war – Nationale Bekanntheit erlangte das Gymnasium Münchenstein während der 1970er-Jahre mit der sogenannten «Münchensteiner Initiative», als der Schul- und Lehrkörper gemeinsam ein nationales Volksbegehren für die Einführung eines Zivildienstes neben dem obligatorischen Militärdienst lancierte. Obwohl sich der Bundesrat im Vorfeld der Abstimmung positiv zur Initiative ausgesprochen hatte, lehnte das Schweizer Stimmvolk das Begehren im Jahre 1977 noch mit 60 Prozent ab. 2

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aus welchem Grund auch immer – nie gefährdet», hält sie fest. Von Liebeskummer blieb aber auch sie nicht verschont. Besonders eine längere Jugendbeziehung machte ihr zu schaffen. Trotz vielen positiven gemeinsamen Erlebnissen und Diskussionen hat sie irgendwann gespürt, dass eine Trennung von diesem jungen Mann unumgänglich war. «Unsere Lebensvorstellungen lagen weit auseinander.» Ihr Partner träumte von einer Arztpraxis, einem Familienleben mit zwei Kindern und einem Haus, sie dagegen von der grossen Freiheit und der Möglichkeit, viel Neues zu erleben. Das passte nicht zusammen. Folglich musste sie sich «entlieben», wie sie diese Schlussphase bezeichnet. «Es war schmerzlich, aber notwendig.» Mit etwas Ach und Krach bestand sie die Matur. Besonders mündliche Fremdsprachentests machten ihr zu schaffen. Um ihre Nervosität zu überwinden, befolgte sie einen Ratschlag ihrer Mutter: «Ein Schluck Wein vor jeder mündlichen Prüfung löst die Zunge.» Da sie nacheinander am gleichen Tag in Französisch, Latein und Englisch geprüft wurde, sprudelten die Worte in der letzten Prüfung in Englisch dann sehr leicht aus ihr hervor. Nach dem schliesslich geglückten Schulabschluss folgte eine zweimonatige lockere Auszeit in London mit einer Modern-Dance-Ausbildung. Angesagt waren unbeschwertes Rumhängen und das Entdecken einer neuen Welt. Dazu zählten manchmal auch unangenehme Erlebnisse. Eines Abends wurde sie von einem schwarzen Studenten, der ihr überhaupt nicht gefiel, unangenehm angemacht. Nachdem sie ihn zweimal abgewiesen hatte, warf er ihr vor, eine Rassistin zu sein. «Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe unterschiedlich zu beurteilen. Ich

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Bild: Foto Meyer GmbH

Markus Sutter Geb. in Basel, arbeitete nach dem Ökonomiestudium über 25 Jahre als Wirtschafts- und politischer Redaktor bei der ‹Basler Zeitung›, der ‹Basellandschaftlichen Zeitung› sowie als Chefredaktor beim ‹Baslerstab›. 2009 wechselte er als Kommunikationsbeauftragter in das Felix-Platter-Spital in Basel. 2015 machte er sich mit seiner Firma M. Sutter Kommunikation selbstständig. Der Autor lebt in Basel.


Armeevertreter: «Ein Ja zu dieser Initiative würde die Schweiz gegen militärische Angriffe total wehrlos machen. Sie werden doch nicht zustimmen?» Anita Fetz: «Ich weiss es noch nicht genau.» Armeevertreter: «Nur damit Sie es wissen: Wenn Sie Ja stimmen, werden Sie in der Schweiz keine Aufträge mehr für Ihre Firma erhalten. Dafür werden wir sorgen.» Anita Fetz: «Jetzt haben Sie mich gerade überzeugt, dass ich Ja stimmen werde. Denn erpressen lasse ich mich nicht.»

Markus Sutter

Frech, engagiert und stets authentisch hat Anita Fetz 35 Jahre lang Politik betrieben. Ende 2019 verliess die über die Parteigrenzen hinweg beliebte und respektierte SP-Ständerätin die politische Bühne. Zeit für eine Bilanz: In zahlreichen Gesprächen mit ihr wirft der langjährige Journalist Markus Sutter in dieser Biografie über sie einen Blick zurück, aber auch nach vorn.

Anita Fetz – Politik mit Lust und Mut

Markus Sutter

I S B N 978-3-7296-5054-1

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783729 650541

ANITA FETZ

Politik mit Lust und Mut BIOGRAFIE


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